Als Jonathan Rottenberg eine Depression entwickelte, war nicht absehbar, dass sie sein Leben eines Tages zum Guten wenden würde. Der Geschichtsstudent in Baltimore (USA) war Mitte 20 und hatte Mühe, sich zu konzentrieren, kam schliesslich kaum noch aus dem Bett. Seine Schwäche hielt er zunächst für das Symptom einer Grippe oder eines anderen Infekts. Aber die medizinischen Checks zeigten, dass er physisch gesund war. 

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Es dauerte Monate, ehe er sich eingestand, dass er an einer Depression litt. Er brauchte vier Jahre, inklusive stationärer Behandlung in einer Klinik, um die psychische Störung hinter sich zu lassen. Danach wollte er nicht mehr Geschichte studieren – sondern Depressionen verstehen lernen. Rottenberg begann ein Psychologiestudium, machte seinen Doktor an der Eliteuniversität Stanford. Heute leitet er das Mood and Emotion Lab an der University of South Florida in Tampa und ist ein renommierter Forscher.

Für unsere Vorfahren von Vorteil

«Die Depression hatte mir den Verstand, mein Selbstwertgefühl und fast alles genommen, was mein Leben ausmachte», sagt Rottenberg. Trotzdem ist er heute der Überzeugung: «Eine Depression ist kein Defekt, sondern eine Anpassung, die in der Evolution entstanden ist.» In seinem Buch «The Depths» von 2014 legt er Indizien dar, die darauf hinweisen, dass das, was heute als häufigste psychische Störung gilt, zumindest für unsere Vorfahren sinnvoll war. Damit steht er nicht allein. Der evolutionäre Ansatz zur Erklärung der Depression findet immer mehr Anhänger unter den Fachleuten. «Ein Viertel der Menschen erfüllen während ihres Lebens die Kriterien einer klinischen Depression», sagt Martin Brüne, Professor für Psychiatrie an der Universität Bochum. «Wenn Depressionssymptome nur negativ wären, hätten sich die Gene, die sie hervorrufen, in der Evolution nie halten können.» 

Gestützt wird die These schon allein dadurch, dass nicht nur Menschen Depressionssymptome haben, sondern auch unsere tierischen Verwandten. Unterliegen etwa Schimpansen in einem Kampf um die Rangordnung in ihrer Gruppe, können sie danach tagelang apathisch sein. «Das ist ein resignierter Zustand, der einer Depression beim Menschen sehr nahe kommt», sagt Thomas Knecht, leitender Arzt im Psychiatrischen Zentrum Appenzell Ausserrhoden. «Das Individuum ist gezwungen, in diesem Zustand ein unerreichbares Ziel aufzugeben – das spart Energie.» 

Eine Botschaft nach innen

Eine unerfüllte Liebe, eine Beförderung sind Beispiele für solche unerreichbaren Ziele. In diesen Fällen hat die Depression eine Botschaft nach innen. «Sie ist ein Anstoss, die Existenz zu überprüfen und zu überdenken, was man ändern könnte», sagt Knecht. Die Symptome der Depression – sozialer Rückzug, fehlendes Interesse an vorher geschätzten Tätigkeiten, nachlassende Libido – erleichtern das Fokussieren auf das wesentliche Problem. Viele Studien haben gezeigt, dass das Denken während der Depression analytischer wird. «Insbesondere soziale Probleme lösen Depressive besser als Nichtdepressive», sagt Martin Brüne. «Es wird ihnen unter Umständen klar, dass es sich nicht lohnt, um den Expartner zu kämpfen, weil sie dabei zu viel Energie verschwenden.»

«Depressionen sind ein natürliches Produkt unseres Stimmungssystems.»

Jonathan Rottenberg, Professor für Psychologie, South-Florida-Universität, Tampa

Ressourcen zu sparen könnte auch der Grund sein, warum es die saisonale Depression im Herbst und im Winter gibt. «Für unsere Vorfahren war es sehr sinnvoll, die Aktivitäten zu beschränken, wenn das Nahrungsangebot schlecht war», sagt Thomas Knecht. «Die Herbst-Winter-Depression ist das Relikt einer Art Winterruhe beim Menschen.» 

Ein anderer Grund, warum die Evolution die Depression nicht zurückgedrängt hat, ist – Erfolg. Das erscheint zunächst widersinnig, weil wir Depressive nicht mit Erfolg assoziieren. «Bei Depressiven treten aber gehäuft auch Manien auf», sagt Knecht. «Manische Menschen sind sexuell erfolgreich. Depressionsgene konnten sich also auch in der Menschheit halten, weil sie mit einem Vorteil gekoppelt sind.» 

Psychiater widerspricht der These

Trotz guten Argumenten: Die etablierte Psychiatrie in der Schweiz kann mit dem evolutionären Erklärungsansatz wenig anfangen. «Das ist eine anthropologische Sichtweise – ich habe eine Depression in der Praxis nie als etwas Gutes erlebt», sagt Pierre Vallon, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. 

Jonathan Rottenberg kontert: «Der Schmerz der Depression ist nie willkommen, enthält aber Informationen. Ohne trivialisieren zu wollen, wie schwer es ist, auf die eigene Depression zu hören, kann genau dies doch ein Anfang für eine wichtige Änderung des Lebens sein.»

Er sieht die Gründe für seine eigene Depression in den Schwierigkeiten, als Student ein Dissertationsthema zu finden – bei gleichzeitiger Gewissheit, dass es für Historiker kaum Jobs gab. «Die Depression war eine Warnung, weil ich trotzdem meine gesamte Existenz von dieser Karriere abhängig machte.» Heute habe er Familie, mit Marathonlaufen ein erfüllendes Hobby und eine neue Karriere, die sein Leben mit Sinn fülle, weil er Menschen helfe, Depressionen zu verstehen. «Alle diese Vorhaben haben meinem Leben einen Zweck gegeben – eine wichtige Voraussetzung, um über eine Depression hinwegzukommen.»

«Die Herbst-Winter-Depression ist das Relikt einer Art Winterruhe beim Menschen.»


Thomas Knecht, Psychiater, Herisau

Laut WHO soll Depression im Jahr 2030 diejenige Erkrankung sein, die weltweit die grösste gesundheitliche Belastung darstellt. Die evolutionäre Psychiatrie hat auch dafür eine Erklärung. «Der moderne Mensch hat die meiste Zeit seines Lebens in kleinen Gruppen als Jäger und Sammler gelebt», sagt Rottenberg. «Unsere Umwelt hat sich seitdem dramatisch verändert – und eine Umgebung geschaffen, in der Depressionen perfekt gedeihen können.»

Arbeit in Innenräumen bewirke, dass wir viel zu wenig Licht bekommen, elektronische Geräte rauben uns den Schlaf – und Licht- und Schlafmangel fördern Depressionen. Und dann sind da auch noch die westlichen Wertvorstellungen. «Es wird der unrealistische Anspruch geweckt, dass wir immer glücklich sein müssten», sagt Rottenberg. «Zudem herrscht eine Kultur, die uns ermutigt, überambitionierte Ziele zu verfolgen hinsichtlich Berühmtheit, Schönheit und Erfolg. Das trägt zu einer Welt bei, in der Menschen chronisch unzufrieden sind mit dem, was sie haben.»

Stigmatisierung überwinden 

Das bedeutet anderseits, dass es einfache Dinge gibt, mit denen Menschen Depressionen vorbeugen können – hier sind sich Vertreter der etablierten und der evolutionären Psychologie einig. «Natur, Licht und Bewegung verbessern die Stimmung, wirken präventiv und sogar therapeutisch bei Depressionen», sagt Pierre Vallon. «Bei Sonnenschein mache ich schon mal eine Therapiestunde beim Spazieren am Genfersee.»

Genug Schlaf, Licht, Aktivität – dazu raten auch Vertreter der evolutionären Psychiatrie. Wer wie sie Depression als Anpassung sieht, hat aber eine andere Perspektive auf die Erkrankung. «Depressionen sind ein natürliches Produkt unseres Stimmungssystems. An Menschen, die daran leiden, ist nichts schadhaft», sagt Rottenberg. «Es ist höchste Zeit, dieses Stigma zu überwinden.»

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