Darum geht es bei der Pflegeinitiative
Worüber stimmen wir bei der Pflegeinitiative am 28. November 2021 ab? Was hat es mit dem Gegenvorschlag auf sich? Die wichtigsten Fragen zur Pflegeinitiative kurz erklärt.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2021 - 11:24 Uhr
Die Pflege brennt aus, und nichts passiert. Weil die Belastung zu gross und die Zeit Mangelware ist, haben viele Pflegende das Gefühl, weder ihren Patienten noch ihrem Beruf gerecht zu werden
.
Mit Applaus allein ist es nicht getan. Der Verband des Pflegepersonals hat deshalb eine Volksinitiative lanciert und fordert mehr Personal, mehr Zeit und mehr finanzielle Wertschätzung. Am 28. November stimmt die Schweiz darüber ab.
- Worüber stimmen wir am 28. November ab?
- Warum hat das Parlament einen Gegenvorschlag erarbeitet?
- Wie will der Gegenvorschlag den Pflegenotstand lösen?
- Warum hält das Initiativkomitee trotzdem an der Initiative fest?
- Umfrage: Wie werden Sie abstimmen?
- Der Abstimmungstext erwähnt explizit diplomiertes Pflegefachpersonal. Will die Initiative die Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen mit weniger guter Ausbildung nicht verbessern?
- Was passiert denn bei einer Annahme der Initiative?
Der Pflege steht die grösste Belastungsprobe erst noch bevor. Weil die Bevölkerung immer älter wird und immer häufiger auf die Leistungen von Pflegefachpersonen angewiesen ist, fehlen bis 2030 rund 43’000 zusätzliche diplomierte Pflegefachpersonen und Pflegeexpertinnen. Dies zeigt der neuste Versorgungsbericht zum Gesundheitspersonal des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan). Es braucht also mehr gut ausgebildete Pflegefachkräfte, und diese müssen länger im Beruf bleiben wollen als bisher. Gut zwei von fünf Pflegefachkräften steigen nämlich frühzeitig aus .
Die Pflegeinitiative fordert, dass Bund und Kantone die Pflege fördern. Sie fordert eine Ausbildungsoffensive, bessere Arbeitsbedingungen und bessere berufliche Entwicklungsmöglichkeiten.
Bundesrat und Parlament geht die Initiative zu weit, sie empfehlen ein Nein. Zu den Befürwortern zählen der Verband der Pflegefachkräfte (SBK), welcher die Initiative lanciert hat, die SP, die Grünen, eine Minderheit der Mitte-Partei sowie die Ärztevereinigung FMH.
Die Volksinitiative greift mit dem drohenden Pflegenotstand ein grosses politisches Thema auf. Ersten Umfragen zufolge hat die Initiative gute Chancen auf eine Annahme.
Würde die Initiative aber angenommen, wäre es zukünftig die Aufgabe des Bundes, die Arbeitsbedingungen zu regulieren, was dann in der Verfassung geregelt ist. Dies kritisieren die bürgerlichen Parteien, das Parlament und der Bundesrat aus zwei Gründen: Erstens erhielten die Pflegepersonen eine Sonderstellung, weil sie als erste Berufsgruppe überhaupt in die Verfassung aufgenommen würden, zweitens sei es die Aufgabe der Kantone und der Sozialpartner (Verband und Spitäler), für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen.
Weil das Parlament den Mangel an Pflegefachpersonal aber grundsätzlich anerkennt, hat es einen Gegenvorschlag erarbeitet, der mehrere Anliegen der Initiative erfüllt. Für den Gegenvorschlag sind unter anderem der Spitalverband H+, der Verband der Langzeitpflege-Institutionen Senesuisse und die Spitex Schweiz.
Selten ist ein Gegenvorschlag einer Initiative so entgegen gekommen. Der Gegenvorschlag nimmt nämlich grad zwei wichtige Forderungen der Initiantinnen und Initianten auf.
So soll während acht Jahren maximal eine Milliarde Franken in eine Ausbildungsoffensive fliessen. 469 Millionen Franken zahlt der Bund, den Rest sollen die Kantone beisteuern. Noch sind die entsprechenden Beschlüsse dazu aber nicht gefällt worden. Die Ausbildungsoffensive würde Zuschüsse an die Auszubildenden vorsehen und mehr Mittel für Bildungsinstitutionen, Spitäler, Pflegeheime und Spitex-Dienste gewähren, welche dann die Zahl der Ausbildungsplätze erhöhen könnten.
Der Gegenvorschlag würde auch ermöglichen, dass Pflegefachkräfte bestimmte Leistungen direkt abrechnen können, ohne zuerst eine ärztliche Anordnung einholen zu müssen.
Im Gegenvorschlag fehlt die Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Für das Initiativkomitee ist diese Verbesserung zwingend. Die Ausbildungsoffensive nütze wenig, solange Pflegende frühzeitig und überlastet aus dem Beruf aussteigen. Die Arbeitsbedingungen müssten verbessert werden, und dafür seien unter anderem Bundesvorgaben zur Personaldotierung in Spitälern und Heimen notwendig. Und damit Spitäler und Heime mehr Personal einstellen können, müssten die Pflegeleistungen auch über höhere Tarife abgegolten werden. Zudem seien die Löhne des Pflegepersonals, gemessen an der Belastung und Verantwortung, zu tief.
Laut dem Obsan-Bericht liegt der grösste Bedarf bei den gut ausgebildeten diplomierten Pflegefachpersonen und Pflegeexpertinnen. Wenn in einer Station der Anteil der diplomierten Pflegefachpersonen auf unter 75 bis 80 Prozent sinkt, wird es gefährlich und endet im schlimmsten Fall tödlich. Und anders, als oft behauptet, könnten mit mehr gut ausgebildetem Personal Gesundheitskosten eingespart werden. So konnte eine Studie von Pflegewissenschaftler Michael Simon kürzlich aufzeigen, dass sich mit genügend gut ausgebildetem Personal in den Spitälern jährlich 357 Millionen Franken sparen liessen.
Die Rechnung ist einfach: Wenn es zu wenig Fachpersonal gibt, kommt es zu mehr unerwünschten Ereignissen . Und unerwünschte Ereignisse verursachen eine längere Liegedauer. Das kostet. Das gilt auch in der Langzeitpflege. Dort könnten mit mehr Personal und deswegen weniger unnötigen Spitaleintritten fast 100 Millionen Franken vermieden werden. In der Spitex und der ambulanten Versorgung betragen die Einsparungen sogar 1,5 Milliarden Franken im Jahr.
Auch wenn der Abstimmungstext explizit die Diplompflege erwähnt, hat die Initiative aber zum Ziel, die Arbeitsbedingungen aller Pflegefachpersonen zu verbessern.
Falls Volk und Stände der Pflegeinitiative zustimmen, tritt der Gegenvorschlag nicht in Kraft. Und Gegner der Initiative, zum Beispiel die Spitex Schweiz, warnen, dass das Pflegepersonal bei einem Ja noch jahrelang auf Verbesserungen warten müsste, weil Bundesrat und Parlament die Umsetzung der Initiative erst noch ausarbeiten müssten. Laut Initiativtext hat das Parlament dafür vier Jahre Zeit.
Auch die Milliarde für die Ausbildungsoffensive ist bei einem Ja zur Initiative nicht mehr gesichert. Das Parlament müsste nochmals neu darüber entscheiden.
Die Initianten argumentieren aber, dass die Umsetzung schnell vollzogen werden könnte. Das Parlament müsste nur den indirekten Gegenvorschlag übernehmen und um drei Punkte ergänzen: Vorgaben für genügend Personal auf allen Arbeitsschichten, eine bessere Entschädigung für Pflegeleistungen und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
- Abstimmungsbüchlein (PDF)
Das sagen die Befürworterinnen und Befürworter:
- Initiativkomitee
- FMH (Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte)
Das sagen die Gegnerinnen und Gegner:
- H+ (Verband der öffentlichen und privaten Schweizer Spitäler, Kliniken und Pflegeinstitutionen)
- Senesuisse (Verband wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen Schweiz)
- Spitex
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3 Kommentare
Bin selber im med. Beruf tätig. Es liegt meines Erachtens nicht nur an der Bezahlung, sondern zu wenig Personal. Sparen auf Kosten des Personals. Work-Life-Balance. Viele Nachtdienste, freie Tage an verschiedenen Wochentagen. Einspringen bei Krankheit. Dienst kann nicht pünktlich beendet werden. Fazit, man verliert den Kontakt zu Freunden, Verlust des sozialen Umfeldes. Weiterer Aspekt, man kann keine Kurse besuchen und Beruf und Familie können nicht vereinbar werden...
"Erstens erhielten die Pflegepersonen eine Sonderstellung, weil sie als erste Berufsgruppe überhaupt in die Verfassung aufgenommen würden,..." Wieso kommt dieses blödsinnige Argument immer wieder? Auf Bundesebene gibt es keine Gesetzes-Initiative sondern nur die Verfassungs-Initiative. Das hat dann halt zur Folge, dass unter Umständen Regelungen in die Verfassung Eingang finden, die eigentlich nicht dahin gehören. Als Argument gegen ein Initiativ-Begehren taugt diese Tatsache aber einfach nicht!
Rechtsbürgerliche wehren sich seit Jahren gegen ein Verfassungsgericht. Diese können also stets dieses blödsinnige Gegenargument bringen. Taktisch clever aber unsinnig.