«Jeder Kunde wird den Versicherungen ausgeliefert sein»
Die Schweizer Versicherer wollen Verträge einseitig anpassen dürfen. Böse Überraschungen für Kunden wären garantiert. SVP und FDP sind dafür.
Veröffentlicht am 22. November 2018 - 17:22 Uhr,
aktualisiert am 22. November 2018 - 16:47 Uhr
Eine 58-jährige Frau steigt die Treppe hinab, stolpert unglücklich und fällt hin. Auf der Notfallstation stellt der Arzt einen komplizierten Bruch des rechten Hüftgelenks fest. Es muss durch ein künstliches ersetzt werden. Die Operation gilt als schwierig. Darum soll sie der Cheforthopäde einer Privatklinik durchführen.
Doch die Krankenkasse teilt mit, sie habe für künstliche Gelenke eine Altersgrenze eingeführt. Bei über 55-Jährigen seien sie durch Spitalprivatversicherung und Heilungskostenzusatz nicht mehr gedeckt. Die Vertragsbedingungen seien geändert worden, das habe man der Frau per Brief mitgeteilt. Sie kann sich nicht erinnern. Dabei hatte sie jahrzehntelang vorgesorgt und mehrere zehntausend Franken in die Versicherung eingezahlt, damit die im Notfall da ist.
Dieser Fall ist fiktiv, könnte aber Realität werden. Vereinfacht gesagt, möchten die Versicherungskonzerne sicherstellen, dass sie Kunden besser bevormunden und einfacher loswerden können. Sie möchten künftig Verträge jederzeit einseitig ändern dürfen. Es soll reichen, dass sie rechtzeitig darüber informieren. So wollen es auch der Bundesrat und die Wirtschaftskommission (WAK) des Nationalrats im teilrevidierten Versicherungsvertragsgesetz – allen voran die Vertreter von SVP und FDP.
Ende Oktober hat die WAK die umstrittenen Gesetzesänderungen beim Artikel 35 mit einem Stichentscheid durch SVP-Kommissionspräsident Jean-François Rime ein zweites Mal bestätigt. Die Mehrheit wolle die Vertragsfreiheit nicht unnötig einschränken, begründete die Kommission. Der Schweizerische Versicherungsverband war erfreut und erklärte, neue Regulierungen hätten ausser Mehrkosten nichts gebracht.
«Das ist einer der schlimmsten Gesetzesartikel überhaupt.»
Martin Lorenzon, Ombudsmann der Schweizer Privatversicherer und der Suva
Was Politiker und Versicherungsgesellschaften verschweigen: Sie wollen die geltende Rechtsprechung des Bundesgerichts ausschalten. Die verbietet es Versicherungen, missbräuchliche Vertragsklauseln anzuwenden. Mit der Reform würde genau das möglich. Die Konsumentenrechte würden geschwächt oder gar ausgehebelt.
«Das dürfte die Absicht sein. Jeder Kunde wird in diesem Punkt den Versicherungen ausgeliefert sein, weil er sich rechtlich nicht mehr wehren kann», sagt Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich. «Jedes Gericht wird das neue Gesetz anwenden müssen und basierend darauf entscheiden.»
Das Bundesgericht untersagt heute den Versicherern, Bedingungen einseitig anzupassen – ausser sie teilen den Kunden bereits bei Vertragsabschluss künftige Änderungen mit und konkretisieren deren Umfang. Diese Praxis will die Mehrheit der WAK bewusst umgehen. Den Kommissionsmitgliedern lag ein Schreiben mit dem ausdrücklichen Hinweis vor, dass mit dem geänderten Artikel 35 die Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Schutz der Konsumenten ausgeschaltet würden, bestätigen Quellen.
Die Folgen sind nicht absehbar. Die Kunden hätten keine Garantie mehr, dass die Versicherer die Verträge einhalten müssen. Das ist besonders bei Krankenzusatzversicherungen ein Problem : Über 50-Jährige finden mit der Reform erst recht keine neue Versicherung mehr – und wenn, dann nur unter sehr ungünstigen Konditionen. Denn je älter man wird, umso grösser ist das Risiko, dass man die Versicherung beanspruchen muss.
«Es ist denkbar, dass sich die Versicherer aufgrund der Gesetzesänderung willkürlich verhalten werden», warnt Rechtsprofessor Thomas Gächter. Der Schweizerische Versicherungsverband verweist in diesem Punkt auf die Finanzmarktaufsicht: «Bei allfälligen Missbräuchen kann die Finma bereits heute als Aufsichtsbehörde einschreiten.»
Die Finma will sich nicht gross äussern. Sie erklärt lediglich, dass es sich bei der Missbrauchsaufsicht um ein spezifisches Instrument des Finanzmarktrechts handle, das nur in bestimmten Fällen wie bei Tarifen zur Anwendung komme. Bei einer einseitigen Vertragsanpassung ginge es jedoch um eine vertragsrechtliche Änderung. Damit wird klar: Die Aufsicht der Finma würde erheblich eingeschränkt, sie könnte allfällige Missbräuche durch die Versicherer nicht mehr überprüfen.
Laut Martin Lorenzon, Ombudsmann der Schweizer Privatversicherer und der Suva, wären darum künftig die Gerichte zuständig. Doch auch sie könnten die Kontrollfunktion kaum mehr wahrnehmen, wenn Artikel 35 geändert wird. Lorenzon spricht von einem der «schlimmsten Gesetzesartikel überhaupt». Er gebe den Versicherern einen Freipass.
Es sei in der Schweiz zulässig, dass die Mehrheit der Politiker eine Rechtsprechung ändere, die ihnen nicht passe, sagt Experte Thomas Gächter. Er versteht sich als Liberaler, kritisiert aber, dass es die rechtsbürgerliche Mehrheit nicht zuletzt aus parteipolitischen Gründen verpasse, ein gutes und ausgewogenes Versicherungsvertragsgesetz zu machen und es an den inzwischen höheren europäischen Standard anzupassen. «Stattdessen scheinen die Politiker einseitig den Argumenten der Versicherungsbranche zu folgen, die bereits viele Reformen erfolgreich verhindern konnte und darum eine der am schwächsten regulierten Wirtschaftsbranchen der Schweiz ist.»
Der Rechtsprofessor hält das Verhalten der Versicherungsbranche nicht für nachhaltig. Sie fühle sich zu sicher und untergrabe das Vertrauen ihrer Kunden. Gächter schliesst nicht aus, dass sich Kunden längerfristig von den Versicherungen abwenden und beispielsweise durch Crowdfunding neue genossenschaftliche Modelle entwickeln könnten. «Es kann nicht sein, dass der Markt nicht mehr spielt und wir einem Oligopol von Versicherern ausgeliefert sind», sagt er.
Leo Müller, CVP-Nationalrat und Mitglied der WAK, erklärte bereits nach der ersten Kommissionssitzung: «Wenn Versicherungen die Risiken ausschliessen können, statt sie zu versichern, dann bräuchten wir die Versicherungen nicht mehr.» Die Konsumentenorganisationen und die Grünen drohen schon mit dem Referendum. Das Geschäft geht in der Frühjahrssession als Erstes in den Nationalrat.
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