Der Bundesrat weitet die Zertifikatspflicht aus. Wer ab Montag, 13. September, in ein Restaurant, ein Kino, ein Fitnesscenter oder an andere Anlässe in Innenräumen will, muss ein Covid-Zertifikat vorweisen. Damit wird das Covid-Zertifikat zum zentralen Instrument im Kampf gegen die Pandemie – obwohl es eigentlich nur während weniger Wochen hätte im Einsatz sein sollen. Der Grund: Die Delta-Variante ist ansteckender als erwartet und die Impfquote zu tief. So droht weiterhin eine Überlastung des Gesundheitswesens.

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Das führt zu Protesten – von Gegnerinnen der Corona-Massnahmen, aber auch von Impfskeptikern. Und es heizt die Diskussionen über das Covid-Gesetz an, über das wir am 28. November abstimmen. Denn das Covid-Zertifikat ist ein wichtiger Teil dieser Vorlage. Die sogenannten Freunde der Verfassung und die SVP wollen das Gesetz kippen. Sie warnen vor einer «Zweiklassengesellschaft», da die Schweiz durch das Zertifikat in Geimpfte und Ungeimpfte aufgeteilt werde.

Die wirkliche Spaltung

Diese Befürchtung ist unberechtigt, die Kritik gar falsch. Das Covid-Zertifikat ist im Gegenteil ein Segen für Ungeimpfte, für Wirtschaft und Gesellschaft. Denn dadurch werden sich Ungeimpfte auch bei überlasteten Spitälern so frei bewegen können wie Geimpfte, falls sie genesen oder getestet sind. Eine Spaltung der Gesellschaft droht in Tat und Wahrheit erst, wenn das Zertifikat abgeschafft wird.

Gibt es nämlich das Covid-Zertifikat nicht mehr, ist weder Corona vorbei noch die Ungleichheit beseitigt. Die lassen sich nicht per Abstimmung abschaffen. Im Gegenteil, dann greifen Bundesverfassung und Epidemiengesetz. Und diese verpflichten den Bund zum einen, Massnahmen zu ergreifen, wenn die Gesundheitsversorgung gefährdet ist. Und sie verlangen zum anderen, dass Massnahmen gegenüber denjenigen aufgehoben werden, bei denen sie nicht erforderlich sind. Also gegenüber den Geimpften.

Ungerechtfertigte Massnahmen

Zertifikat hin oder her – viele Massnahmen dürfen gegenüber Geimpften gar nicht verhängt werden, weil sie kaum ins Spital müssen (derzeit sind nur fünf Prozent der Covid-Patienten in Spitälern geimpft), weil sie ganz selten auf der Intensivstation landen und weil sie das Virus viel weniger weitergeben.

Wenn der Staat etwa einen erneuten Lockdown verhängen würde, könnten Geimpfte dagegen gerichtlich vorgehen, weil der Staat unverhältnismässig in ihre persönliche Freiheit eingreift und das Gleichheitsgebot Grundrechte Wie viel Macht hat der Staat? verletzt. Die Chancen stünden gut, solche Verfahren zu gewinnen.

Falls das Zertifikat abgeschafft wird, ist es also gut möglich, dass Geimpfte mit dem normalen Impfausweis ins Kino dürfen, Ungeimpfte dagegen nicht, weil ein Test nicht mehr dazu berechtigt. Denn Tests schützen nicht vor einer Ansteckung. Diese Ungleichbehandlung ist nicht etwa gegen die Verfassung, sondern setzt sie erst korrekt um, weil der Staat «Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandeln muss» – so verlangt es der verfassungsmässige Grundsatz der Rechtsgleichheit.

Eine «Zweiklassengesellschaft» droht also erst und vor allem ohne Covid-Zertifikat. Wenn man es abschafft, kann der Staat den Unterschied zwischen Geimpften und Ungeimpften nicht mehr abfedern. Dann steht die Schweiz vor der wahren Zerreissprobe. Mit Folgen weit über die Pandemie hinaus.

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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