Wundpfleger müssen bluten
Die Krankenkassen zahlen kein Verbandsmaterial mehr. Das bringt eine ganze Branche in Bedrängnis.
Veröffentlicht am 19. Juli 2018 - 16:21 Uhr,
aktualisiert am 19. Juli 2018 - 15:57 Uhr
Vera Fischer* leidet an offenen Beinen. Wenn sie früher in die Praxis von Patrick Bindschedler kam, verrechnete der Aarauer Wundpfleger 145 Franken für die Behandlung. 75 für seine Arbeit, 70 für das Verbandsmaterial. Seit Anfang Jahr ist alles anders. Denn die Krankenkassen haben sich bis vor Bundesverwaltungsgericht dagegen gewehrt, die Materialkosten zu übernehmen. Und Recht bekommen.
Für Patrick Bindschedler ist das Urteil eine kleine Katastrophe. Für die Behandlung von Vera Fischer erhält er seither nur noch halb so viel: exakt CHF 84.25. Das ist zu wenig. Bindschedler und viele seiner Kollegen kämpfen seither ums Überleben. Aber die Spitex , Heime und selbständige Krankenschwestern leiden ebenfalls unter dem Urteil. Denn die Kassen zahlen auch keine Inkontinenzmaterialien oder Injektionshilfen mehr. Der Schweizer Heimverband Curaviva rechnet deshalb für dieses Jahr mit ungedeckten Kosten von 30 Millionen Franken.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) könnte das Problem lösen. Es müsste dafür die Leistungsverordnung ändern und die Krankenkassen zur Übernahme der Materialkosten verpflichten. Doch es bleibt untätig. Warum? «Die Finanzierungsregelung sieht vor, dass allfällige Restkosten der Pflegeleistungen durch die Kantone oder Gemeinden zu tragen sind», sagt Jonas Montani vom BAG.
Aber nur gerade zwölf Kantone sind bereit zu zahlen. «Ein grosser Teil der Kantone zeigt nur eine geringe oder gar keine Bereitschaft dazu», sagt Daniel Höchli von Curaviva.
«Es ist für mich menschlich und wirtschaftlich inakzeptabel, dass der Bund die Pflegefachpersonen im Stich lässt.»
Pirmin Bischof, CVP-Ständerat
CVP-Ständerat Pirmin Bischof will das BAG deshalb zum Handeln zwingen. In einer Motion verlangt er, dass wieder die Krankenkassen zahlen sollen. Sie hat beste Chancen, 28 Ständeräte haben unterzeichnet. «Dank der Spitex können Hunderttausende zu Hause gepflegt werden», begründet Bischof seinen Vorstoss. Das soll so bleiben. «Es ist für mich menschlich und wirtschaftlich inakzeptabel, dass das BAG die Pflegefachpersonen im Stich lässt.» Bischof vermutet, beim Amt befürchte man, dass die Krankenkassenprämien dadurch weiter steigen. Doch dass die Kantone deshalb 100 Millionen Franken pro Jahr mehr bezahlen müssen, nehme es in Kauf.
Die Sorge des BAG um die Prämien ist unbegründet. Das bestätigt sogar der Krankenkassenverband Curafutura. Die Materialkosten im ambulanten Bereich seien vernachlässigbar. Die Pflegeverbände sind sich einig: Langfristig ist Bischofs Vorschlag die richtige Lösung. Bis dahin sollen aber die Kantone die Löcher stopfen.
Doch die sträuben sich. «Der Anteil, den die Kantone als Restfinanzierer übernehmen müssen, ist in den letzten Jahren stetig gestiegen. Jetzt will man ihnen auch noch die Materialkosten aufbrummen», sagt Michael Jordi von der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren. Hinzu komme: Die Krankenkassen hätten bei der Berechnung der Prämien die Materialkosten bereits eingerechnet. Deshalb gebe es keinen Grund, warum nun die Kantone übernehmen sollen.
Das Schwarzpeterspiel geschieht auf dem Buckel der Patienten. «So müssen wir bald günstigere Produkte verwenden. Die muss man aber häufiger wechseln», sagt Yvonne Ribi vom Verband der Pflegefachpersonen . Für die Patienten sei das inakzeptabel. Es müsse schnell eine Lösung her. «Sonst müssen 150 Wundspezialisten in den nächsten Monaten ihre Arbeit aufgeben.»
Erste Wundversorger können laut Ribi bereits keine neuen Klienten mehr aufnehmen. So seien diese eher gezwungen, einen Arzt oder ein Spital aufzusuchen. Das müssen die Krankenkassen zahlen – das kostet mit Sicherheit mehr.
Eine Kommissionsmotion macht jetzt Druck auf den Bundesrat: Leistungserbringer sollen Materialien wieder den Kassen verrechnen können. Die SP-Nationalrätin Bea Heim spricht in einer Interpellation auch den Punkt an, dass die Kassen die Materialkosten der letzten Jahre zurückverlangen können. Helsana, KPT, CSS und Sanitas wollen darauf verzichten. In 15 Kantonen haben andere Versicherer nun Rückforderungen an Heime gestellt. Der Heimverband Curaviva rechnet mit über 100 Millionen Franken, die vermutlich niemand zahlen will.
* Name geändert