Worum geht es bei der Frontex-Abstimmung?
Am 15. Mai stimmt die Schweiz über ihre Frontex-Beteiligung ab. Sorgt sie für mehr Sicherheit an den Grenzen? Toleriert Frontex die Verletzung von Grundrechten?
Veröffentlicht am 1. April 2022 - 13:46 Uhr
Die wichtigsten Fragen und Antworten
- Was ist Frontex?
- Was hat Frontex mit der Schweiz zu tun?
- Worüber stimmen wir am 15. Mai ab?
- Was sind die Argumente der Befürworter?
- Was sind die Argumente der Gegnerinnen?
- Verletzt Frontex Grundrechte?
- Gab es andere Referenden gegen Beschlüsse des Schengen-Verbunds?
- Was passiert bei einem Nein?
- Was ist der Schengen-Raum?
- Weitere Informationen
Frontex ist die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache. Sie wurde 2004 gegründet und umfasst rund 1500 Beamte, die jederzeit im ganzen EU-Raum eingesetzt werden können. Frontex unterstützt die Schengen-Staaten beim Schutz der EU-Aussengrenzen. (mehr dazu siehe Box «Was ist der Schengen-Raum?»)
Zu den wichtigsten Aufgaben gehören Einsätze vor Ort. Frontex kontrolliert die Grenzen, organisiert Schiffe, Flugzeuge und sorgt für Sicherheit auf See. Daneben analysiert die Agentur Migrationsströme, dokumentiert grenzüberschreitende Kriminalität und gibt Einschätzungen zu Herausforderungen ab. Kommt es an den Grenzen zu Migrantenschleusungen, Menschenhandel und Terorrismus, informiert Frontex die Behörden und Europol. Über Asyl und Wegweisungen entscheidet die Agentur nicht – sie unterstützt Staaten aber bei der Rückführung ausreisepflichtiger Personen.
Obwohl die Schweiz nicht in der EU ist, gehört sie seit 2008 zum Schengen-Verbund. Die 26 Mitglieder verzichten im ganzen Schengen-Raum auf systematische Grenzkontrollen und arbeiten bei der Sicherheit eng zusammen. Beim Schutz der Aussengrenzen und der Kontrolle der Migration werden die Schengen-Staaten durch Frontex unterstützt. Seit 2011 beteiligt sich die Schweiz ...
- ... finanziell: Im Schengen-Abkommen wurde eine anteilsmässige Zahlung vereinbart. In den letzten Jahren stieg der jährliche Betrag schrittweise, 2021 betrug er 24 Millionen Franken.
- ... personell: Bund und Kantone stellen Personal zur Verfügung. In den letzten Jahren waren das im Schnitt sechs Vollzeitstellen.
Bisher führten Schweizer Expertinnen und Experten vor allem Einsätze in Bulgarien, Griechenland, Italien, Kroatien und Spanien durch. Da arbeiteten sie als Befrager, Beobachterinnen, Dokumentenspezialisten oder Hundeführerinnen – meist für eine Zeitspanne von bis zu vier Monaten. Zudem halfen sie bei der Identifikation und der Rückführung ausreisepflichtiger Personen.
Auch im Verwaltungsrat von Frontex ist die Schweiz vertreten. Allerdings nur mit eingeschränktem Stimmrecht, da sie nicht zur EU gehört.
In der Migrationskrise im Jahr 2015/16 stiess Frontex an ein Limit. Die Aussengrenzen des Schengen-Raums konnten nur ungenügend kontrolliert werden. Deshalb wurde 2019 der Ausbau der Agentur mit einer EU-Reform beschlossen. Bis 2027 sollen bis zu 10’000 Personen als Reserve eingestellt werden: 3000 Frontex-Angestellte und 7000 Fachpersonen aus den Schengen-Staaten. Eingesetzt werden sie, sobald Bedarf entsteht. Zudem soll der Grundrechtsbeauftragte zukünftig von 40 Beobachterinnen unterstützt werden. Sie schreiten bei Verletzungen der Grundrechte ein.
Eine Übernahme der EU-Reform ins Schweizer Gesetz genehmigte das Parlament im Oktober 2021. Vorgesehen sind:
- finanzielle Unterstützung: Bis 2027 steigen die Beitragszahlungen schrittweise von 24 auf circa 61 Millionen.
- personelle Unterstützung: Das Personal wird schrittweise auf 40 Vollzeitstellen erhöht.
Die Abstimmungsfrage lautet:
Wollen Sie den Bundesbeschluss vom 1. Oktober 2021 über die Genehmigung und die Umsetzung des Notenaustausches zwischen der Schweiz und der EU betreffend die Übernahme der Verordnung (EU) 2019/1896 über die Europäische Grenz- und Küstenwache und zur Aufhebung der Verordnungen (EU) Nr. 1052/2013 und (EU) 2016/1624 (Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands) annehmen?
Oder einfach gesagt: Wollen Sie die EU-Verordnung übernehmen und Frontex weiterhin unterstützen?
Ein Referendum kam im Januar 2022 zustande. (siehe «Was sind die Argumente der Gegnerinnen?»)
Im Parlament sprach sich eine Mehrheit dafür aus, vor allem Die Mitte, GLP und FDP. Die SVP ist gespalten. Die wichtigsten Argumente der Befürworterinnen sind:
- Investition in Schutz und Sicherheit
Frontex sei wichtig für die Kontrolle der Aussengrenzen und die Sicherheit im Schengen-Raum.
- Wirksame Rückführungen
Die Schweiz treffe Asyl- und Wegweisungsentscheide weiterhin selbst, sei bei Rückführungen aber auf die Unterstützung von Frontex angewiesen.
- Frontex mitgestalten
Die Agentur würde auch bei einem Nein weiterhin bestehen. Die Schweiz könnte die strategische Ausrichtung dann aber nicht mehr mitgestalten.
- Grundrechte stärken
Mehr Personal und eine Stärkung der Grundrechtsbeauftragten sorgen für eine bessere Situation an den Grenzen. Die Schweiz toleriere illegale Zurückweisungen nicht.
- Konsequenzen verhindern
Ein Nein hätte laut Bund schwerwiegende Folgen für die Sicherheit, das Asylwesen, den Grenzverkehr, den Tourismus und die Wirtschaft. (siehe «Was passiert bei einem Nein?»)
Das Referendum kam im Januar 2022 zustande. Das Komitee besteht aus einer Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten um das Migrant Solidarity Network (MSN). Zu den Unterstützenden gehören vor allem linke Organisationen und Parteien wie die SP und die Grünen.
Am liebsten wäre dem Komitee eine generelle Abschaffung von Frontex «als Symbol der abschottenden gewaltvollen europäischen Migrationspolitik». Die wichtigsten Argumente gegen eine Beteiligung der Schweiz sind:
- Frontex missachte Grundrechte. Deshalb beteilige sich die Schweiz an einer gewaltvollen Migrationspolitik (siehe «Verletzt Frontex Grundrechte?»).
- Die Kriminalisierung von Geflüchteten müsse aufhören. Frontex bediene das rassistische Bild von Migration als Bedrohung.
- Gefragt seien eine sichere Migration und Bewegungsfreiheit für alle – ohne Militär an den Grenzen.
- Nein zur Finanzierung: Die Schweiz bezahle einen überproportionalen Anteil. Das sei besonders stossend, weil sie als Nicht-EU-Staat nur ein eingeschränktes Stimmrecht im Verwaltungsrat habe.
Grundsätzlich muss Frontex die Grundrechte jederzeit achten. Damit dies gewährleistet ist, wurde 2011 das Amt des Grundrechtsbeauftragten geschaffen. Seit 2021 Jahr wird es von zwei Expertinnen aus der Schweiz unterstützt. Auch ein Konsultationsforum bestehend aus internationalen Organisationen und NGOs setzt sich für die Einhaltung der Grundrechte ein. Sollte es dennoch zu Verstössen kommen, können diese bei den Schengen-Staaten oder bei Frontex gemeldet werden. Da werden sie untersucht und verfolgt.
Diese Kontrollmechanismen seien Feigenblätter, argumentieren die Gegner. «Menschen ertrinken, erfrieren oder erliegen Verletzungen und Krankheiten. Sie werden blockiert, erleben Gewalt, und ihnen werden Grundrechte verwehrt.» Frontex habe Menschenrechtsverletzungen immer wieder verschleiert und geleugnet.
Tatsächlich zeigen mehrere Recherchen und Untersuchungen, dass an den EU-Aussengrenzen so einiges schiefläuft. Vor zwei Jahren bewiesen etwa «Der Spiegel» und andere Medien, dass Frontex mindestens sieben «Pushbacks» tolerierte. Bei diesen werden die Motoren von Flüchtlingsbooten zerstört, Geflüchtete auf Flössen ausgesetzt und sich selbst überlassen. Es handelte sich um massive Menschenrechtsverletzungen – zu dieser Einschätzung kam auch eine Prüfgruppe des Europaparlaments. Amnesty International gibt zwar keine Abstimmungsempfehlung ab, fordert aber «unverzüglich Massnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtsbilanz von Frontex». Die «Republik» spricht im Artikel «Der Frontex-Report» von einem «humanitären Debakel» an den Grenzen.
Bund und Parlament halten trotzdem an der Unterstützung von Frontex fest. Sie sind zuversichtlich, dass mehr Personal und eine Stärkung der Grundrechtsbeauftragten zu einer besseren Situation an den Grenzen führen.
Die rechtliche Basis für die Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und den Schengen-Staaten bilden die Abkommen von Schengen und Dublin. Im Juni 2005 stimmte die Stimmbevölkerung den Bedingungen zu. Seither werden Weiterentwicklungen des gemeinsamen Rechts auch ins Schweizer Gesetz übernommen, sofern Bundesrat und Parlament einverstanden sind.
Das Stimmvolk kann sich mit einem Referendum wehren. Bisher ist das zwei Mal geschehen: bei der Einführung des biometrischen Passes (2009) und bei der Anpassung des Waffenrechts (2011). Beide Male stimmte die Bevölkerung der Vorlage zu – es blieb also bei einer Zusammenarbeit.
Bei einem Nein treten die Abkommen automatisch ausser Kraft. Es sei denn, die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Kommission entscheiden einstimmig, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Das sei durchaus realistisch, finden die Frontex-Gegner. Bund und Parlament sehen das anders. «Das Ende dieser Zusammenarbeit hätte schwerwiegende Folgen für die Sicherheit, das Asylwesen, den Grenzverkehr, den Tourismus und für die gesamte Wirtschaft», heisst es im Abstimmungsbüchlein.
Konkret bedeutet das:
- An den Schweizer Grenzen würde es wieder zu systematischen Grenzkontrollen kommen.
- Asylgesuche, die von einem europäischen Land bearbeitet wurden, müssten in der Schweiz erneut geprüft werden. Es käme zu einem Mehraufwand.
- Wer aus einem nicht europäischen Land in die Schweiz einreist, bräuchte neben dem Schengen-Visum auch eines für die Schweiz. Das könnte Auswirkungen auf den Tourismus haben.
- Polizei und Zoll hätten keinen Zugriff auf die Informations- oder Fahndungssysteme von Schengen und Dublin. So könnte die Schweiz zu einem Ziel für Kriminelle werden.
- Die Beziehungen zur EU würden komplizierter werden, der Ruf der Schweiz Schaden nehmen.
- Jährlich würde das Nein die Volkswirtschaft Milliarden kosten, so eine Schätzung des Bundesrats.
Frontex würde weiterhin bestehen – die Schweiz könnte bei der Ausrichtung und Entwicklung aber nicht mehr mitreden.
Der Schengen-Raum umfasst 26 Länder, die ihre Binnengrenzen für den freien und uneingeschränkten Personenverkehr geöffnet haben. Unterzeichnet haben das Schengener Abkommen vor allem die Mitglieder der EU mit Ausnahme von Irland sowie Ländern, die noch nicht die Voraussetzungen erfüllen (Bulgarien, Rumänien, Zypern, Kroatien). Ebenfalls zu den Schengen-Staaten gehören Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz. Wer ein Visum für ein Mitgliedsland erhält, darf sich frei im ganzen Schengen-Raum bewegen.
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3 Kommentare
Wenn wir jetzt auch noch aus Schengen rausfliegen, dann können wir die Schweiz bald dicht machen.
Anstatt immer wieder EU Recht zu übernehmen oder übernehmen zu müssen, sollten wir Mitgestalter werden und uns beteiligen statt auf die Gnade Anderer hoffen.
Mit den Bilateralen sind wir am Ende und es braucht eine neue Politik für mehr Miteinander statt Abgrenzung! Wie wir sehen können braucht es ein geeintes Europa um gegen die neuen Bedrohungen gewappnet zu sein. Die Schweiz wird immer mehr zum Spielball der Weltpolitik und spielt immer weniger eine Rolle. Die Sicherung unserer Grenzen ist auch die Sicherheit der Grenzen unserer Nachbarstaaten und deshalb braucht es eine Zustimmung zu Schengen und Frontex. Putin würde natürlich froh sein, wir stimmen dagegen, so wie er über Alles froh ist, was Europa entzweit. Er ist deshalb auch ein grosser Fan unserer rechtspopulistischen SVP…
Das Argument "die Schweiz könnte nicht mehr mitreden" verfängt nicht: Die Schweiz zahlt und redet seit fast 20 Jahren mit. In dieser Zeit ist das Budget für FRONTEX explodiert, und die Zahl der Verbrechen gegen Menschen, die durch die Agentur begangen werden, ebenfalls. Entweder hat die Schweiz hier zu wenig Einfluss oder, was ich vermute, den Schweizer Vertreten in der Frontex-Steuerung ist es gerade noch recht, dass unter dem anonymen Deckmantel von EU und "Schengen/Dublin" solche Grausamkeiten durchgeführt werden, ohne dass der Schweizer Bevölkerung klar ist, dass wir da aktiv "mitreden" und mitzahlen.
Na dann passt es doch ...
Hier wird ja seit jeher alles unter irgendwelchen Deckmäntelchen gemacht. (Die schmutzigen Sheriff-Spielchen, ob privat oder staatlich, gehören leider auch dazu.)
Und wenn es brenzlig wird, dann spielen wir Vogel Strauß:
Kopf in den Sand und abwarten, bis die anderen alles erledigt haben, mit dem wir uns dann anschließend beweihräuchern können. (Schließlich zahlen wir ja genug dafür...)
Und wenn man dann den Beitrag auf schlappe 61 Mio aufstocken "will", dann sollte man vielleicht auch mal darüber nachdenken, WO die herkommen sollen, WER dafür gemolken wird, und WIE wir damit den Bürgern* in diesem Land das Leben vielleicht wieder ein wenig lebenswerter bereiten könnten! (Habe heut für 2.20 chf/L tanken müssen!!!)
Menschenrechte, obwohl in der Bundesverfassung verankert, werden tagtäglich mit Füssen getreten...
(* vlt wäre ausgelaugtes/abgezogenes Fußvolk passender)