Ein Sieg für die Demokratie
Sie war 17 Monate Gefangene des belarussischen Diktators Lukaschenko. Für ihren Einsatz für mehr Demokratie empfing Natallia Hersche den Prix Courage des Beobachters. Den Preis für ihr Lebenswerk erhielt Flüchtlingshelferin Anni Lanz.
Veröffentlicht am 14. November 2022 - 11:01 Uhr
Sie hatte bloss an einem Marsch gegen den Machthaber Alexander Lukaschenko teilgenommen, der die Präsidentschaftswahlen gefälscht hatte. Sie wurde verhaftet und zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Sie blieb 500 Tage gefangen, wurde gefoltert, mit Schlafentzug gequält und 46 Tage in Einzelhaft in einem kleinen, kalten Kerker gehalten, musste auf blanken Brettern ohne Bettzeug und Heizung schlafen.
Sie hätte ihre Haftbedingungen erleichtern und die Gefangenschaft verkürzen können. Dafür hätte sie um eine Begnadigung bitten müssen. Das habe sie nicht gekonnt. Sie habe ja nichts verbrochen, sagte Natallia Hersche an der Verleihung des diesjährigen Prix Courage in Zürich. Die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin kam erst nach 17 Monaten frei – dank der Interventionen der Schweizer Diplomatie.
Für ihren Mut und ihren kompromisslosen Einsatz für demokratische Grundwerte wurde die 53-jährige Ostschweizerin mit dem Prix Courage 2022 geehrt. «Natallia Hersche ist in einer Autokratie für Meinungsäusserungs- und für Demonstrationsfreiheit eingestanden. Grundrechte, ohne die keine Demokratie funktionieren kann», würdigte sie Susanne Hochuli, Prix-Courage-Jurypräsidentin und ehemalige Aargauer Regierungsrätin. Hersche gebe den unzähligen Menschen ein Gesicht, die jeden Tag weltweit gegen staatliche Willkür auf die Strasse gingen und für Grundwerte und Grundrechte demonstrierten.
«Sie alle haben etwas bewirkt, Sie haben in unserer Gesellschaft ein Zeichen gesetzt.»
Susanne Hochuli, Prix-Courage-Jurypräsidentin
Woher hat sie den Mut dazu genommen? Wenn ihr eine Ungerechtigkeit begegne, könne sie nicht still sitzen und abwarten, sagt Hersche. «Es geht einfach nicht.»
Anerkennung gab es nicht nur für Hersche, sondern für alle fünf Kandidatinnen und Kandidaten um den Prix Courage 2022. «Sie alle haben etwas bewirkt, Sie haben in unserer Gesellschaft ein Zeichen gesetzt», würdigte Hochuli im Namen der Jury. «Alle fünf haben sich beispielhaft gegen eine Form von übergeordneter Macht gewehrt.»
«Ich musste einfach gegen den Betrug protestieren»
Die Preisträgerin Natallia Hersche über ihren Mut – und warum sie nicht anders konnte
Sie haben Schlimmes erlebt in Ihrem Heimatland Belarus. Werden Sie trotzdem wieder hinfahren?
Nein, zumindest nicht, solange Lukaschenko an der Macht ist. Die Gefahr, dass ich wieder verhaftet werde, ist zu gross.
Sie hätten während Ihrer Gefangenschaft ein Begnadigungsgesuch unterzeichnen und so die Freilassung erwirken können. Das wollten Sie aus Prinzip nicht. Woher kommt Ihr Mut, sich gegen die belarussische Diktatur aufzulehnen? Wieso verteidigen Sie Ihr Demokratieverständnis sogar gegen Ihr eigenes Wohl, Ihre Freiheit?
Ich glaube, mein Gerechtigkeitssinn ist stark mit der Geschichte unseres Volkes verbunden. Es wurde über Jahrhunderte hinweg geknechtet und wird es noch immer. Bei Ungerechtigkeit kann ich einfach nicht wegschauen. So musste ich gegen die Wahlfälschungen von Lukaschenko protestieren gehen. Und ich habe nichts falsch gemacht, daher musste ich auch nicht um Verzeihung bitten.
Für Ihren Widerstand erhalten Sie den Prix Courage des Beobachters. Was bedeutet dieser Preis für Sie?
Sehr viel. Und ich möchte mich – auch im Namen der 1600 anderen politischen Gefangenen in belarussischen Gefängnissen – dafür bedanken.
Sie haben 15'000 Franken gewonnen. Was haben Sie mit dem Preisgeld vor?
Das weiss ich noch nicht. Aber mit einem Teil davon werde ich versuchen, meine Katze zurückzukaufen, die während meiner Haft fremdplatziert wurde. Die neue Besitzerin weigert sich bis heute, mir das Tier zurückzugeben, das mir mein verstorbener Mann vor 13 Jahren geschenkt hat.
Was wünschen Sie sich und dem belarussischen Volk für die kommenden Monate?
Dass sich Belarus nicht am Krieg gegen die Ukraine beteiligt, denn das Volk will das nicht. Und dass die 1600 politischen Gefangenen freigelassen werden.
Interview: Andrea Haefely
Sie wollen weiterkämpfen
Der Luzerner Seelsorger Meinrad Furrer etwa, der sich mit der mächtigen katholischen Kirche angelegt hat. Als der Vatikan im März 2021 allen Kirchenvertretern untersagte, Homosexuelle zu segnen, gab er nicht klein bei. Im Gegenteil, er segnete öffentlich zehn gleichgeschlechtliche Paare auf dem Zürcher Platzspitz – und handelte sich damit Kritik der offiziellen Kirche ein. «Es gibt Jobs, die kriege ich nicht mehr», sagte er an der Preisverleihung. Das beirre ihn nicht. Er werde weiterkämpfen. «Es gibt noch viel zu tun.»
Die Schauspielschülerin Aileen Lakatos kämpft gegen Machtverhältnisse in der Film- und Schauspielbranche. Als es bei einem Casting zu sexuellen Übergriffen kam und ein Film davon veröffentlicht wurde, ging sie rechtlich gegen den Regisseur vor. Heute überlegt sie sich, eine Ausbildung zum sogenannten Intimacy Coach zu machen. Eine Produktion habe sie bereits begleiten können. «Intime Szenen vor der Kamera dürfen nicht improvisiert werden. Nichts darf dem Zufall überlassen werden, wenn es um den eigenen Körper geht.»
Für den Piloten Daniel Juzi sind extreme Situationen fast Alltag. Als die Taliban im August 2021 die Macht in Afghanistan übernahmen, leitete er die Evakuierung von 21 westlichen Mitarbeitenden eines Hilfswerks, die am internationalen Flughafen von Kabul festsassen. Und setzte seine Hilfstätigkeit für das Land bis heute fort, in dem er lange Jahre selbst gelebt hatte.
Ein hoher Preis für ihren Mut
Auch Gabriella Hagger wählte nicht den einfachen Weg. Als ihre Tochter sie und ihren Mann des rituellen Kindesmissbrauchs bezichtigte, wandte sich Hagger an die Öffentlichkeit. Und begann, über die gefährliche Ideologie «Satanic Panic» aufzuklären, bei der Therapeuten junge Frauen zu angeblichen Opfern von Satanismus machen.
Heute berät Hagger betroffene Angehörige, klärt Medien und Behörden auf. Zu einem hohen Preis: Obwohl ein Gericht die Eltern von allen Vorwürfen entlastete, hat sie bis heute keinen Kontakt mehr zu ihrer Tochter.
Fast immer verloren
Der diesjährige Lifetime Award des Prix Courage ging an Anni Lanz, die sich seit bald 40 Jahren für Menschen auf der Flucht einsetzt. Teils auch mit unkonventionellen Mitteln. Sie versteckt immer wieder Abgewiesene bei sich zu Hause, begleitet und ermutigt sie, für ihre Rechte einzustehen, und besucht sie im Gefängnis. Sie arbeitete sich ins Asylrecht ein, schrieb Hunderte Rekurse, focht Dutzende politische Kämpfe aus – und verlor fast immer.
«Anni Lanz ist stur, ja, aber stur für die Menschlichkeit», sagte Beobachter-Chefredaktor Dominique Strebel in seiner Würdigung. «Sie stellt sich immer wieder gegen die Mehrheit, ohne Angst vor Anfeindungen und Verurteilungen. Denn sie weiss: Oft zeigt die Minderheit der Mehrheit, wo es ungelöste Probleme gibt.»
«Denkanstösse»
Mit ihrem zivilen Ungehorsam halte sie uns den Spiegel vor, so Strebel weiter. So zum Beispiel verfehle der Gesetzesartikel «Förderung der rechtswidrigen Einreise» offenbar seinen ursprünglichen Zweck. Statt gegen professionelle Schlepper werde er oft gegen Helferinnen und Helfer wie Anni Lanz eingesetzt. Sie erhalte den Lifetime-Award des Prix Courage «für solche Denkanstösse, aber vor allem dafür, dass sie stur und kompromisslos für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität kämpft».
Anni Lanz relativierte umgehend. Sie sei nicht so mutig. Ihr Betrag sei bescheiden. «Mutig sind die Demokratiebewegungen wie jene im Iran. Was die Leute dort auf sich nehmen, ist wahnsinnig. Ich weiss nicht, ob ich so mutig wäre.»
«Man muss nicht so schnell aufgeben»
Anni Lanz kämpft seit bald 40 Jahren für Menschlichkeit im Flüchtlingswesen. Doch müde ist sie noch lange nicht.
Frau Lanz, Sie haben für Ihren humanitären Einsatz schon etliche Preise erhalten. Was bedeutet Ihnen der Lifetime Award des Beobachters?
Es ist die erste Auszeichnung, die ich nach meiner Verurteilung wegen «Förderung der rechtswidrigen Einreise» bekomme. Ich sehe das als Anerkennung dafür, dass man sich für Menschenrechte einsetzen soll, selbst wenn man gegen einzelne Gesetzesparagrafen verstösst. Das ist für mich sehr befriedigend.
Sie kämpfen seit bald 40 Jahren für mehr Menschlichkeit im Flüchtlingswesen. Gab es Phasen, in denen Sie die Hoffnung verloren haben?
Eigentlich nicht. Nach dem Tod meines Mannes musste ich ein Jahr lang aussetzen. Es war meine Rettung, dass ich anschliessend auf dieses Engagement zurückgreifen konnte. Es ist beglückend, immer neue Menschen kennenzulernen und sie zu unterstützen, wenn sie in Not sind. Das merken jetzt auch die Leute, die Ukrainerinnen und Ukrainer bei sich aufgenommen haben. Gut wäre, wenn auch Flüchtlinge anderer Herkunft dieselbe Zuwendung erhielten.
Sie sind 76, zuletzt hat auch die Gesundheit nicht mehr ganz mitgespielt. Und doch sagen Sie: Ich mache weiter, so lange ich kann. Woher nehmen Sie die Kraft dafür?
Die Arbeit als solche gibt mir die Kraft. Wenn ich sie nicht mehr machen würde, wäre ich resigniert und verbittert. Mein Engagement gibt mir Freude am Leben – und ich lebe sehr gern! Natürlich, es gibt auch oft Frust und Misserfolge. Aber dann setze ich mich mit meinen Mitstreiterinnen zusammen, und wir suchen einen neuen Weg. Man muss nicht so schnell aufgeben.
Worüber können Sie sich ärgern?
Wenn es in einem Fall nicht ums Wesentliche geht – also um die Menschen, die Hilfe benötigen –, sondern um juristische Formalitäten. Und äxgüsi, manchmal ärgere ich mich auch über Journalisten. Dann, wenn sie nicht genau genug hinschauen. Oft befragen sie nur die Behörden, unsere Seite aber nicht. Dabei decken wir Menschenrechtsaktivisten auf, was schiefläuft im System. Unsere Erfahrungen sollten eine grössere Rolle spielen in der Öffentlichkeit.
Interview: Daniel Benz
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