Wer kein Handy hat, bleibt aussen vor
Die SBB schaffen Mehrfahrtenkarten zum Stempeln ab. Doch nicht alle können mit dieser Digitalisierung mithalten.
Veröffentlicht am 1. März 2024 - 14:48 Uhr
Die orangefarbenen Entwerter an Bahnhöfen wirken fast schon retro. Und sind bald Geschichte.
Die SBB und andere Verkehrsbetriebe schaffen die Mehrfahrtenkarten zum Stempeln ab. Der ÖV-Branchenverband Alliance Swisspass hat diese Woche einen Bericht des «K-Tipp» bestätigt. Fixes Ablaufdatum aller Karten ist der 15. Dezember 2025.
Schweizweit wurden im letzten Jahr 6,3 Millionen Stempelkarten verkauft. Das sei gemessen an der Gesamtzahl der Billette und den Kosten für die Stempelautomaten zu wenig, heisst es bei SBB und Co.
Als Ersatz will die ÖV-Branche ab dem kommenden Jahr eine digitale Mehrfahrtenkarte für die Handy-App anbieten. Bei vielen Passagieren kommen diese Pläne gar nicht gut an. «Immer mehr Schalter werden geschlossen, wo man ein Billett besorgen konnte und Beratung erhielt. Was übrig blieb, waren die Mehrfahrtenkarten, die einfach zu handhaben sind», schreibt eine Beobachter-Leserin. Und die sollen nun weg.
Vor allem für ältere Menschen, Kinder, aber auch für Menschen am Rand der Gesellschaft ergäben sich Nachteile, kritisieren Seniorenverbände, Familienorganisationen oder die Caritas.
So sagt Peter Burri Follath, Kommunikationsleiter von Pro Senectute, man sei vor allem über die Geschwindigkeit überrascht. «Für solche Veränderungen muss ausreichend Zeit eingeplant werden – mehrere Jahre.» Nur so könnte dies durch Beratungsangebote und spezielle Schulungen begleitet werden.
Auch Kinder müssten im Umgang mit den neuen Medien geschult werden, so Pro Familia gegenüber dem Beobachter. Doch Kinder seien heute IT-affin und wüssten schnell, wie man ein Ticket in einer App löst. Aber Handy oder Drucker bräuchte man dafür – und das könnten sich nicht alle leisten.
Dass nicht alle Zugang zu Geräten hätten, betont Daria Jenni von Caritas. «Digitalisierung kann eine Chance sein – doch niemand darf ausgeschlossen werden.»
Auch wenn jemand keine digitalen Kompetenzen, Ausweispapiere, keine Handynummer oder Meldeadresse hat, könne die Person die digitale Karte nicht kaufen. «Menschen mit tiefem Einkommen legen nicht einmal halb so viele Kilometer zurück wie Menschen mit hohem Einkommen», sagt sie. Und genau jene trifft es nun wieder.
Mehrfahrtenkarten können heute anonym gekauft werden. «Sans Papiers ohne Pass können die digitalen Karten nicht nutzen», erklärt Bea Schwager, Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (SPAZ).
Und Fabio Weiler, Co-Leiter des Kafi Klick, eines Internetcafés für Armutsbetroffene in Zürich, sagt: «Man kann nicht erwarten, dass jemand, der das Leben lang einen Kran bedient oder im Restaurant kocht, digitale Kommunikationsmittel einwandfrei beherrscht.» Doch oft seien es genau Menschen mit wenig Geld und Jobs mit tiefen Löhnen, die Mehrfahrtenkarten nutzen.
21 Kommentare
Es gibt Leute wie ich, die seit der Pensionierung bewusst kein Telefon haben und demzufolge auch kein Smartphon nutzen. Und es lebt sich gut so!
Wir sind am Anfang vom ende der Zivillisation
Dieser Entscheid ist wirklich schade und auch ausgrenzend für viele Menschen. Ich habe beruflich viel mit älteren Menschen zu tun und bin überzeugt, dass dieser Entscheid viele zusätzliche Probleme und eine Auslagerung (und somit eine Abhängigkeit) hin zu anderen Personen, die unterstützen sollen, führen wird. Dabei wäre doch Autonomie im Alter ein breit gestütztes gesellschaftliches Anliegen!
Ausserdem: von Seiten Schulen und Forschung heisst es klar, dass Kinder unter 12 Jahren kein Smartphone verwenden sollen. Das beisst sich mit dem Zwang dazu, um ÖV nutzen zu können. Im städtischen Kontext, wo auch 8-12 Jährige selbständig ab und zu mit ÖV zum Musikunterricht, Sport oder zu Angehörigen und Freunden fahren sind Mehrfahrtenkarten eine einfache und kinderleichte Lösung. Eine verpasste Chance soziale Herausforderungen über verschiedene Felder vernetzter anzugehen.
Ich hoffe sehr, dass hier nochmals zu Gunsten einer inklusiveren Gesellschaft interveniert werden kann.
Wir werden gezwungen, eine immer grössere Datenspur zu hinterlassen.