Nein, jetzt hat Loretan Fritz beim besten Willen keine Zeit. In 20 Minuten fährt der Autozug ins Wallis, den muss er erwischen. Loretan tigert herum. Er ist nervös. Denn er war am Vormittag beim Spitzen Stein oben. Was er dort entdeckt hat, gefiel ihm gar nicht. Der Spitze Stein thront wie ein verirrter Hinkelstein hoch über Kandersteg und dem Oeschinensee. Was heisst hier thront? Er hängt. Er rutscht. Er droht.

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In Kandersteg wartet man darauf, dass der «Stii» abbricht. Irgendwann. Morgen, im April, im Sommer. Das Warten hat etwas Unheimliches.

Loretan Fritz, Bergführer, 69 Jahre alt, davon 38 als Hüttenwart der Fründenhütte oberhalb des Sees, Naturgefahrenberater der Gemeinde, war einer der Ersten, die die Gefahr zu Gesicht bekamen. Ein Gleitschirmpilot rief ihn Mitte August 2018 an und berichtete von einer Spalte beim Spitzen Stein. Ein Erkundungsflug per Helikopter am nächsten Tag zeigte, dass es kein gewöhnlicher Riss war. Nicht bloss der Spitze Stein rutscht, sondern die ganze Bergflanke Naturgefahren Die Gletscher-Detektive am Eiger . 20 Millionen Kubikmeter Fels, Eis und Geröll.

«Wir wollen transparent kommunizieren, ohne Angst zu verbreiten.»

Urs Weibel, Gemeinderatspräsident Kandersteg

Urs Weibel, Gemeinderatspräsident.

Quelle: Marco Zanoni

Man installierte Messgeräte, ein GPS-System, vor ein paar Wochen selbst ein Radargerät. Nun ist ausgerechnet das Referenz-GPS ausgefallen, das das ganze System eicht. Das bringt selbst einen erfahrenen Bergführer Wandern Bergtour ohne Tortur wie Loretan Fritz ins Schwitzen. «Jetzt sind wir praktisch im Blindflug», sagt er und eilt davon. Er muss das Gerät zur Reparatur nach Sitten bringen.

Der Berg macht Tempo

Am 13. November zeichneten die Messgeräte einen neuen Rekord auf: 12,9 Zentimeter Bewegung talwärts – an einem einzigen Tag.

Was am Spitzen Stein passiert, nennt Nils Hählen eine «positive Rückkopplung». Der Leiter der kantonalen Abteilung Naturgefahren Naturgefahren Was Sie über die Gefahrenkarten der Kantone wissen sollten beobachtet die Daten von der Rutschfläche mit einer Mischung aus Sorge und professioneller Gelassenheit. Was geschieht, ist reine Physik. Der Boden erwärmt sich immer stärker, der Permafrost schmilzt, und das Wasser lässt den Hang langsam abgleiten. Die Festigkeit des Untergrunds aus Permafrost, Fels und Geröll nimmt ab, mehr Wasser kann eindringen, und die Rutschung wird schneller.

Unheimliche rutschende Fläche

«Die Bergflanke ist aus dem Gleichgewicht und sucht ein neues», sagt Hählen. «Sie wird es finden, sobald ein Teil abgebrochen ist.» Bis dahin kann es Jahrzehnte dauern. Oder Jahrhunderte. Geologen denken in etwas grösseren Zeiträumen.

Die Frage ist längst nicht mehr, ob es beim Spitzen Stein zu einem Felssturz kommt. Die Frage ist, wann. Und wie viel, in welche Richtung. Mittlerweile ist die Bergflanke derart instabil, dass sie niemand mehr betritt. «Unheimlich» sei es, auf dieser rutschenden Fläche Bergunfall Wenn Alpinisten verunglücken zu gehen, sagt Bergführer Loretan. Wenn er trotzdem einmal hinmuss, um ein Messgerät neu auszurichten, lässt er sich vom Helikopter aus abseilen.

Die Gefahr vom Bach

Klar ist, dass die Felsen das Dorf nicht treffen werden. Aber sie werden mit grosser Wahrscheinlichkeit den Oeschibach zuschütten. Geröll und Schlamm fliessen dann zusammen mit Wasser aus dem Bach und aus Niederschlägen ins Tal. Es ist dieser Murgang, vor dem man sich im Dorf fürchtet.

Auf seinem Laptop hat Gemeinderatspräsident Urs Weibel eine Präsentation mit sechs Szenarien, die die Experten der kantonalen Abteilung für Naturgefahren und einer spezialisierten Firma erstellt haben. Ein Abbruch der insgesamt 20 Millionen Kubikmeter Fels, Eis und Geröll: unwahrscheinlich. Rutschungen aus der Westflanke und ein Felssturz aus dem Zentrum des instabilen Gebiets: im Jahr 2020 sicher. Grosse Schuttrutschungen: nächstes Jahr möglich. Felsabbrüche von mehreren Millionen Kubikmetern: bis spätestens 2030 wahrscheinlich.

Weibel, 69, ehemaliger Berufs-Zivilschützer und Direktor des Schweizer Schiesssportverbands, ist seit 2017 Gemeinderatspräsident. Ein 70-Prozent-Job sei das im Moment, manchmal mehr. Er bereitet seine Gemeinde auf ein Naturereignis vor, das vielleicht bloss ein paar Unannehmlichkeiten bedeuten wird. Gesperrte Wege, etwas Geschiebe im Oeschibach, etwas Baumaschinenlärm. Oder eine Naturkatastrophe wie 2017 in Bondo Klimawandel Warum handeln wir nicht? , als am Piz Cengalo ein Fels und Eis abbrachen. Eine Schlammlawine bis ins Dorf, Evakuationen, Notstand. «Wir wissen es schlicht nicht», sagt Weibel.

Riesiges Munitionslager im Berg

Es ist nicht seine einzige Sorge. Fünf Kilometer talabwärts, in Mitholz, droht weiteres Ungemach. Das ehemalige Munitionslager der Armee, 1947 teilweise explodiert, enthält immer noch gefährliches Material. Seit das Verteidigungsdepartement eingeräumt hat, dass die Explosionsgefahr deutlich höher ist als bisher angenommen, macht man sich im Tal seine Gedanken. Eine Katastrophe in Mitholz, das hiesse für Kandersteg: kein Zug Richtung Bern, keine Strassenverbindung. Das Dorf wäre abgeschnitten. Für Weibel geht die Planung des Kantons «etwas langsam». Es braucht eine vorbereitete Notstrasse, Weibel hätte sie lieber heute als morgen.

In Kandersteg hingegen kann der Gemeinderatspräsident die drohende Vielleicht-Katastrophe managen. Er hat sich und der Gemeinde dazu ein Motto verschrieben, das von der Philosophin Hanna Arendt stammen soll: «Ich bereite mich auf das Schlimmste vor. Ich hoffe das Beste, und ich nehme es, wie es kommt.»

Geplant wie im Generalstab

Sich aufs Schlimmste vorbereiten heisst für Weibel: Ein «Führungsstandort» im Gemeindehaus ist vorbereitet, das GFO – das Gemeindeführungsorgan – an der Arbeit, ein Pikett-Team ist Tag und Nacht erreichbar. Sanität, Stromversorgung, Wasserversorgung sind organisiert, mit Bauunternehmern diskutiert man den Einsatz grosser Maschinen. Anwohnerinnen und Anwohner, deren Häuser im Bereich des möglichen Schuttkegels stehen, sind im Bild. Auf einer Zehnerskala sei man mit den Vorbereitungsarbeiten «etwa bei 8 oder 9», sagt Weibel und fügt dann schnell hinzu: «Auf dem Papier. In der Praxis vielleicht bei 6 oder 7. Das hängt dann davon ab, wie gut die einzelnen Verantwortlichen unter Druck arbeiten.»

Noch ist man mit der Feinplanung nicht da, wo er gern wäre. Nicht alle Verantwortlichen wissen, welche Personen sie genau aufbieten können. Nicht in jedem Bereich ist klar, wo Quittungen und Rapporte abgelegt würden, und noch sucht man nach einer bezahlbaren Deponie für den Schutt, der da vielleicht – wahrscheinlich– kommen wird. Was planbar ist, soll geplant sein. Illusionen macht sich der frühere Oberst dennoch nicht: «Jedes Ereignis ist anders.»

Ein kleiner Tourismus-Boom

Alle paar Tage stellt die Gemeinde ein neues Bulletin zum Spitzen Stein auf die Website. Mitte November kamen 350 Leute zur Information in den Gemeindesaal, ein Viertel der Bevölkerung. «Wir wollen jederzeit transparent kommunizieren, ohne Angst zu verbreiten», sagt Weibel.

Das ist ein schmaler Grat in einem Dorf, das grösstenteils vom Tourismus lebt. Wer Gäste verängstigt, gefährdet die eigene Lebensgrundlage. Wer in Kauf nimmt, dass etwas passiert, noch viel mehr. Dabei erlebte Kandersteg in den letzten Jahren einen kleinen Boom: Wandern ist im Trend, soziale Medien haben das Bild der intakten Bergwelt weitherum bekannt gemacht.

«Letztes Jahr gab es 317'000 Übernachtungen. Das ist eine wunderschöne Zahl.»

Sonja Reichen, Tourismusdirektorin Kandersteg

Sonja Reichen, Tourismusdirektorin.

Quelle: Marco Zanoni

Plötzlich sieht man im Dorf Familien aus arabischen Ländern, Chinesen, Japaner. 2018 gab es 317'000 Logiernächte. Das sei «eine wunderschöne Zahl», sagt Sonja Reichen, die Tourismusdirektorin. Ihr Büro liegt im Gebäude der Gemeindeverwaltung. Seit der Spitze Stein rutscht, spricht sie fast täglich mit Urs Weibel.

Ihre grösste Sorge ist im Moment der Weg hinauf zum Oeschinensee. Seit Mitte November ist er als Vorsichtsmassnahme gesperrt, und doch versuchen immer wieder Wanderer Alpinwandern Abenteuer für Trittsichere , hinaufzugelangen. «Wir können doch keinen Polizisten dorthin stellen», sagt Reichen.

«Wenn hier nichts mehr läuft»

Überhaupt, dieser Weg. Spätestens an Weihnachten muss er wieder frei sein, sonst hat Christoph Wandfluh ein Problem. An ihm, 34, Hotelier und Landwirt, dazu Geschäftsführer der Gondelbahn Oeschinensee, hängt viel in der Gemeinde. Seit sein Vater vor ein paar Wochen verstorben ist, noch viel mehr. Denn Wandfluh betreibt mit seiner Frau in der fünften Generation das Berghotel Oeschinensee. 30 Festangestellte, 350 Sitzplätze auf der Terrasse, eine Ruderbootvermietung im Sommer. «Wenn am Oeschinensee nichts mehr läuft, hat Kandersteg ein Problem», sagt er. Es klingt nicht einmal überheblich.

Jetzt ist der Wanderweg hoch zum See gesperrt, der im Winter als Schlittelweg dient. 3,5 Kilometer Abfahrt, die dann den Hauptteil der Gäste an den See locken. «Äs hudlet nis scho grad echli», sagt Wandfluh. Eine Sperrung, weil der Weg verschüttet ist, das könnte man den Gästen erklären. «Aber im Voraus gesperrte Wege und Pisten verstehen sie leider kaum.»

Der Hotelier denkt schon weiter

Wandfluh denkt weiter. Was, wenn der Stein bis im Sommer immer noch drohend über Dorf und See hängt? Wenn die Behörden gar eine Sperrung des Gebiets um die beiden Beizen und den gesamten See verfügen, wie sie das in einem Szenario vorsehen? Wandfluh hat Ideen: Grillplätze bei der höher gelegenen Bergbahnstation, vielleicht sogar ein temporäres Hotel Camping im Schnee Eiskalt erwischt , ein Themenweg. «Wir sind schon am Überlegen.»

Der Hotelier Christoph Wandfluh will freien Zugang zum See, Gäste und Arbeit für die Angestellten, die er zum Teil seit seiner Kindheit kennt. Der Geschäftsmann Christoph Wandfluh weiss, dass ein Bergsturz mit Opfern auf Jahre hinaus zu spüren wäre. Und der Bergler Wandfluh Christoph erinnert sich, wie schon «dr Grossätti Alpen Was die Namen der Berge erzählen » von Steinschlägen und Abbrüchen berichtet habe. So nimmt er hin, was er nicht ändern kann, und sagt: «Die Gemeinde und die Spezialisten vom Kanton wissen schon, was sie tun. Wir akzeptieren die Situation und wollen Sicherheit für unsere Gäste.»

«Wir wollen Sicherheit für unsere Gäste.»

Christoph Wandfluh, Hotel- und Bahnbetreiber in Kandersteg

Christoph Wandfluh, Hotel- und Bahnbetreiber.

Quelle: Marco Zanoni
Der ersehnte Abbruch

Das Warten zehrt an den Nerven. Am liebsten wäre ihm, es käme mal etwas runter, sagt Wandfluh. «Einen kleinen Teilabbruch» wünscht sich auch Gemeinderatspräsident Urs Weibel. «Dann wüssten wir mehr, wie sich die Sache entwickelt.» Denn Ruhe, das wissen alle im Dorf, wird nicht so schnell einkehren. Vielleicht nie mehr.

Wenn der Abbruch kommt, wird Bergführer Loretan Fritz sich wieder mit den Spezialisten vom Kanton im Helikopter hochfliegen lassen, für eine erste Analyse. Dann aber wird er sich auf der gegenüberliegenden Bergflanke absetzen lassen, den Feldstecher hervornehmen «und einfach mal beobachten, was passiert». Morgen, im April, im Sommer. Irgendwann.

Update vom 20. Dezember 2019: Ein Teil des Spitzen Steins ist abgebrochen

Screenshots der Webcam Oeschinensee vom Abbruch des Spitzen Steins

Am Freitagvormittag, 20. Dezember 2019, ist ein grosser Teil des Spitzen Steins abgebrochen. Das zeigen Bilder der Webcam Oeschinensee.

Quelle: Screenshots / Webcam Oeschinensee
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