Die Welt am Tropf
Weshalb kommen wir nicht vom Erdöl weg?
Veröffentlicht am 5. März 2012 - 15:43 Uhr
«Das Öl ist der Lebensnerv der Zivilisation, ohne den sie nicht bestehen könnte», sagte der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser in den sechziger Jahren. 50 Jahre später hängt die Welt immer noch am Ölhahn wie ein Fixer an der Nadel. 14 Milliarden Liter verbrauchen wir jeden Tag – so viel wie nie zuvor. Öl ist vor Kohle und Erdgas die Energiequelle Nummer eins und deckt 33 Prozent des weltweiten Energiebedarfs ab. Die erneuerbaren Energien, Wasserkraft und Agrotreibstoffe miteingerechnet, machen acht Prozent aus (siehe nachfolgende Grafik «Weltweiter Energieverbrauch»).
Die Erdölwirtschaft erlebt derzeit einen historischen Investitionsboom. Risikoreiche Bohrungen in der Tiefsee und in der Arktis werden nicht nur tabulos vorangetrieben, sie sind bereits Standard. Auch bislang unrentable, nichtkonventionelle Vorkommen wie Ölsand und -schiefer werden in grossem Stil ausgebeutet, was jeglichem Nachhaltigkeitsgedanken spottet. «Drill, Baby, drill», lautet die Devise. Trotz Klimawandel, trotz verseuchten Landstrichen, trotz verschmutzten Meeren. Die Energiewende scheint verschoben.
Weshalb tun wir uns so schwer, vom Erdöl loszukommen? Welche Massnahmen könnten den Prozess beschleunigen?
Erdöl ist quasi reine Sonnenenergie, innert mehr als 300 Millionen Jahren in flüssige Form gepresst. In einem einzigen Liter steckt gleich viel Leistung, wie ein Bauarbeiter in 100 Arbeitsstunden erbringen kann. Öl war und ist sehr billig, obwohl sein Preis sich in den vergangenen zehn Jahren verfünffacht hat.
(in Millionen Tonnen Öläquivalent, Mtoe; ein Mtoe entspricht der in einer Million Tonnen Erdöl gespeicherten Energie.)
«Öl ist im Vergleich zu anderen Energieträgern einfach zu gut», sagt Dieter Ruloff, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Zürich. Vor allem für Treibstoffe und Rohstoffe in der chemischen Industrie sei bisher keine bessere und billigere Alternative gefunden worden. Zudem hänge – oder klebe – inzwischen ein Lebensstil am Erdöl: Mobilität, Konsum, Wohlstand basierten darauf. «Deshalb ist die Umerziehung des Verbrauchers schwierig und wird nur sehr langsam verlaufen», sagt Ruloff.
Das glaubt auch Rudolf Rechsteiner, Hochschuldozent für Umwelt- und Energiepolitik und ehemaliger Basler SP-Nationalrat. «Damit die Energiewende gelingen kann, müssen alle mitmachen», sagt er. Doch die Alternativen zum bedenkenlosen (Öl-)Konsum scheinen vielen zu wenig attraktiv. Energiesparen, Konsum regionaler Produkte, weniger Reisen, weniger Fleisch – das sind nicht die Lösungen, die man sich wünscht.
Wohin der Weg führen könnte, skizziert Rudolf Rechsteiner in seinem neuen Buch «100 Prozent erneuerbar», das im März auf den Markt kommt. Ökostrom werde sich früher oder später durchsetzen und sowohl bei den Heizungen als auch im Verkehr eine dominante Rolle spielen, schreibt er.
Rechsteiners Konzept heisst «Power to the People». Jeder soll seine Energie selber produzieren, jedes Dach ein Solardach werden. Grosses Potential sieht er in dünn besiedelten Gebieten wie den Alpen: Entlang der Passstrassen könnte man Tau-sende von Solarpanels montieren. Ebenso auf den Druckleitungen der Wasserkraftwerke oder gar auf Flössen, die auf den Stauseen schwimmen. Der restliche Energiebedarf würde mit Wasser- und Windkraft gedeckt. «Wenn alle Autos der Schweiz elektrisch betrieben würden, könnten wir mit 300 Windturbinen in der Nordsee den Verbrauch sämtlicher Fahrzeuge decken», sagt Rechsteiner.
An optimistischen Rezepten für die Zukunft mangelt es nicht, doch die Umsetzung lässt auf sich warten. Und leider ist das Potential der grünen Energien beschränkt. Auch wenn sie massiv ausgebaut würden, hätte das keinen wesentlichen Einfluss auf den globalen Energiemix. Ein Blick auf die von der Internationalen Energie-Agentur (IEA) erarbeiteten Szenarien offenbart den Grund: Für die nächsten zehn Jahre prognostiziert sie eine Zunahme der weltweiten Energienachfrage um 40 Prozent. Verantwortlich dafür sind das Bevölkerungswachstum und der steigende Wohlstand in aufstrebenden Ländern wie China und Indien.
Allein die Chinesen setzen zurzeit alle vier Monate gleich viele neue Autos in Verkehr, wie in der Schweiz zugelassen sind. «Die Motorisierung Chinas und Indiens wird den Öldurst wachsen lassen», sagt Dieter Ruloff, «und zwar auch dann, wenn die Autos klein und effizient sind.»
Folglich wird Erdöl gemäss IEA die Energiequelle Nummer eins bleiben und im Jahr 2030 noch immer 28 Prozent der Nachfrage decken. Die grünen Energien hingegen werden es in 20 Jahren erst auf einen Anteil von zwölf Prozent gebracht haben. Im optimistischsten Szenario, das davon ausgeht, dass die Staaten ein globales CO2-Regime durchsetzen, könnten sie maximal 20 Prozent erreichen.
Peter Voser, CEO des Ölkonzerns Royal Dutch Shell, sagte am Energiegipfel in Singapur Ende 2011: «Unsere Aufgabe ist es, sehr viel mehr Energie zu produzieren für eine Welt mit sehr viel mehr Menschen.» Diese Herausforderung könne nur gelingen, wenn neben den erneuerbaren Energien auch die Förderung von Gas, Kohle und Öl weiter ausgebaut würde.
Dass das Erdöl in naher Zukunft ausgehen könnte, glaubt Peter Voser nicht. Allein Shell habe für die nächsten 55 bis 60 Jahre genügend Reserven, und weitere Lagerstätten kämen laufend hinzu, sagte er letztes Jahr am Swiss Economic Forum.
Anderer Meinung ist der Schweizer Historiker und Energieexperte Daniele Ganser. Er nimmt an, Voser wolle mit der optimistischen Prognose vor allem seine Aktionäre bei der Stange halten. «Beim konventionellen Erdöl ist der Peak Oil klar überschritten», sagt Daniele Ganser. Das bedeutet, dass die Ölförderung aus einfach auszubeutenden Feldern das Maximum erreicht hat und wieder abnimmt. «Deshalb versucht man nun, beim nichtkonventionellen Öl aufzustocken.» Die Ausbeutung dieser Vorkommen führe aber in eine Sackgasse, da sie grosse Gefahren für die Umwelt nach sich ziehe.
(in Millionen Tonnen)
Ein weiterer Grund, weshalb die Welt nicht so einfach vom Schwarzen Gold loskommt, ist laut Daniele Ganser die Macht der Ölkonzerne. Auf der Liste der zwölf umsatzstärksten Unternehmen der Welt finden sich acht Erdölkonzerne und ein Autohersteller. «Wer reich ist, bestimmt», sagt Daniele Ganser.
Besonders ausgeprägt ist das Lobbying der Energieunternehmen in den USA, jener Nation, die fast ein Viertel der weltweiten Ölproduktion verbraucht. Der Politologe Michael Klare, Professor für Konfliktforschung am Hampshire College in Amherst, Massachusetts, sagt: «Die USA haben über viele Jahrzehnte ein Verkehrssystem und eine Wirtschaft aufgebaut, die auf einem sehr hohen Verbrauch von Öl und anderen fossilen Energien basieren.» Als Resultat seien viele mächtige Unternehmen vom Öl abhängig geworden. «Darum nutzen sie nun ihren enormen ökonomischen und politischen Einfluss, um einen Umbau des Systems abzuwenden.»
Das lassen sich die Energiekonzerne einiges kosten. Laut dem Center for Responsive Politics, einer Washingtoner Nichtregierungsorganisation, haben allein die Öl- und Gaskonzerne im vergangenen Jahr 146 Millionen Dollar in die Politik investiert.
Barack Obama erhielt während seiner Präsidentschaftskampagne vor vier Jahren insgesamt 920'922 Dollar von der Ölindustrie – nur sein Rivale John McCain bekam mehr. Kaum gewählt, unterstützte Obama die Offshore-Ölförderung massiv, bis dies nach der BP-Katastrophe im Golf von Mexiko für kurze Zeit nicht mehr salonfähig war. Dabei hatte Obama einst erklärt: «Unsere Sucht nach Öl zu durchbrechen, ist eine der grössten Herausforderungen, der unsere Generation je gegenüberstehen wird.»
Für Rudolf Rechsteiner geht die Einflussnahme über das Lobbying hinaus: «Mit Parteispenden und gezielter Korruption werden Regierungen gefügig gemacht für Schürfrechte, für bedenkenlose Verschmutzung der Fördergebiete und gegen CO2-Abgaben.» In den USA und in manchen Ländern der Dritten Welt würden Universitäten, Zeitungen und Fernsehsender von der Öllobby geschmiert, damit sie den Klimawandel verharmlosen.
So weit will Dieter Ruloff nicht gehen. Lobbying sei in den USA gesellschaftlich anerkannt. Zumindest in den westlichen Ländern hätten die Solar- und die Anti-AKW-Lobby inzwischen auch einen ganz passablen Einfluss. Anders sei es nur noch in den ölproduzierenden Ländern. Das sei nicht weiter verwunderlich. «Wenn der Iran kein Öl mehr exportieren kann, ist der Staat am Ende», sagt Ruloff.
Bleibt die Frage, wie die Abkehr vom Öl beschleunigt werden könnte. Für Rolf Wüstenhagen, Direktor des Instituts für Wirtschaft und Ökologie an der Universität St. Gallen, ist klar, dass die Politik gefordert ist. «Das Problem allein den Kräften des Marktes zu überlassen, ist keine gute Idee», sagt er.
(in Prozent)
Zwei Instrumente könnten ans Ziel führen: erstens eine CO2-Abgabe, bei der die Einnahmen nicht in die Öl- beziehungsweise Autoförderung zurückfliessen; zweitens ein CO2-Handelssystem, dem das Ziel zugrunde liegt, die Kohlendioxid-Emissionen zu senken.
Beide Instrumente wurden in vielen Ländern schon eingerichtet, so auch in der Schweiz. Trotzdem hat dies global nicht zu einem Rückgang des Ölverbrauchs geführt, weil nicht alle Länder mitmachen und weil die Ziele noch zu wenig ambitioniert sind. «Die Politik ist in diesem Bereich leider auffallend inkonsequent», sagt Wüstenhagen.
Sein Fazit: «Gesucht wären mutige Vordenker und -lenker in den Unternehmen und in der Politik.» Diesen Wunsch nach mehr «Leadership» hegen auch Vertreter der Ölkonzerne. So sagte Shell-Chef Peter Voser am Energiegipfel in Singapur, nachdem auch er eine Besteuerung von CO2 gefordert hatte: «Der Mangel an einer kohärenten Energiepolitik ist direkt darauf zurückzuführen, dass es der Welt an Führung mangelt.»
Buchtipps
Marcel Hänggi: «Ausgepowert. Das Ende des Ölzeitalters als Chance»; Rotpunktverlag, 2011, 364 Seiten, CHF 39.90
Peter Maass: «Öl. Das blutige Geschäft»; Droemer, 2010, 352 Seiten, CHF 33.90
Rudolf Rechsteiner: «100 Prozent erneuerbar. So funktioniert der Umstieg auf saubere, erschwingliche Energien»; Orell Füssli, 2012, 224 Seiten, CHF 29.90
Quellen: BP Statistical Review of World Energy 2011, IEA
Infografik: Bobachter/MB