Günstiger Strom von Nachbars Dach
Solarstrom für sich erzeugen bringt viel. Wenn man sich im Quartier zusammenschliesst, doppelt so viel. Das zeigt ein Pionierprojekt in Walenstadt.
Veröffentlicht am 12. September 2019 - 18:03 Uhr
Grüne Wiesen zwischen Schindelhäusern und grauen Fabriken. Breite Strassen, Dorfbeiz und Blumenladen. So unspektakulär freundlich präsentiert sich das Schwemmiweg-Quartier in Walenstadt. Genau hier wird die solare Zukunft der Schweiz geprobt. Quartierbewohner treiben einen regen Handel mit selbst produziertem Strom.
Auf den Dächern verwandeln Fotovoltaikanlagen die Sonnenstrahlen in elektrische Energie. Im Keller messen intelligente Stromzähler Produktion und Verbrauch. Sie sind das Herz des Projekts Quartierstrom, durchgeführt von der ETH Zürich und einem Konsortium von Forschungspartnern.
27 Haushalte besitzen eigene Solaranlagen, neun sind als reine Konsumenten dabei, darunter das Altersheim Riva. Wer zu viel Strom produziert, verkauft ihn an die Nachbarn. Wer zu wenig hat, kauft den Strom im Quartier zusammen. Wenn dann noch Solarstrom übrig bleibt, wird er ins Netz des Wasser- und Elektrizitätswerks Walenstadt WEW eingespeist. Falls die Sonne zu wenig stark scheint, liefert das WEW den Saft, damit im Schwemmiweg-Quartier nicht die Lichter ausgehen.
Quartierstrom ist ein Leuchtturmprojekt, das das Bundesamt für Energie im Rahmen der Energiestrategie 2050 subventioniert. Die Erwartungen waren entsprechend hoch. Auswertungen aus dem ersten Halbjahr zeigen nun: Das Konzept funktioniert noch besser, als sich Optimisten erhofft hatten. Hochgerechnet auf ein Jahr produzierten die 27 Anlagen gegen 300'000 Kilowatt Strom. «Durch den lokalen Handel werden bis zu 60 Prozent des Stroms in der Gemeinschaft selbst genutzt», sagt Projektleiterin Verena Tiefenbeck von der ETH .
Zum Vergleich: Ein einzelner Haushalt, der nicht mit seinen Nachbarn vernetzt ist, verbraucht typischerweise knapp 30 Prozent seines erzeugten Solarstroms selbst. Der Rest fliesst zum Einspeisetarif ins öffentliche Netz – ein schlechtes Geschäft für Produzenten.
Bei Quartierstrom erzielten die Produzenten deutlich bessere Preise. Deshalb ist Verena Tiefenbeck überzeugt: «Unser Projekt kann den Trend hin zu den erneuerbaren Energien noch beschleunigen.» Denn mit Solarstrom lässt sich so auch ohne subventionierte Preise plötzlich gutes Geld verdienen.
Damit der Handel im Quartier klappt, musste ein Abwicklungsinstrument entwickelt werden. Es funktioniert wie ein digitales Kassenbuch: Produzenten legen den Angebotspreis fest, Konsumenten den Kaufpreis. Algorithmen ermitteln dann im Viertelstundentakt, wer von wem den Strom beziehen kann. Alle Quartierbewohner sind über eine App zusammengeschlossen und können live verfolgen, wie sich der Tarif verändert.
«Der Preis lag zwischen dem Einspeisetarif von 4 Rappen pro Kilowattstunde und dem normalen Strompreis von etwas mehr als 20 Rappen», sagt Verena Tiefenbeck. Quartierstrom mache die Stromproduktion für Hausbesitzer lukrativ und schaffe Investitionsanreize für die Produktion von Solarenergie.
Wer die Gewissheit hat, dass sein Strom zu einem guten Preis immer einen Abnehmer findet, ist eher bereit, in Fotovoltaik und Stromspeicher zu investieren. Solange man überschüssigen Strom ins öffentliche Netz einspeist, lohnt sich das kaum.
So kann Quartierstrom mithelfen, den Umstieg auf eine umweltneutrale Energieproduktion zu schaffen. «Die Abhängigkeit gegenüber Drittmärkten und Importstrom könnte reduziert werden», sagt Philippe Müller vom Bundesamt für Energie. Ein Vorteil für die Umwelt, weil importierter Strom oft «dreckiger» ist: Kohle, Gas und Atom.
Bis Quartierstrom allerdings zum Modell der Energiezukunft wird, wird es noch eine Weile dauern. Es braucht deutlich mehr Fotovoltaikanlagen
auf Dächern und mehr Speicher in den Kellern. «Das System braucht flexible Energiespeicher und intelligente Lasten wie Wärmepumpen oder Ladestationen für Elektroautos, die die Schwankungen in der Produktion ausgleichen können und mehr Eigenversorgung zulassen», sagt Verena Tiefenbeck.
«Eine Installation einer Solaranlage ist nicht sinnvoll, wenn ein Dach in 10 bis 15 Jahren neu gemacht werden muss.»
Harry Graf, Elektrizitätswerk der Stadt Zürich
In grossen Städten wie Zürich gibt es zum Teil auch architektonische Probleme für Solarprojekte. «Die Dächer im Altstadtbereich würden sich von der Sonneneinstrahlung her eignen. Aber viele Dächer können das Gewicht der Solaranlagen nicht tragen, oder die Dachkonstruktion lässt den Bau von Solaranlagen nicht zu», sagt Harry Graf vom Elektrizitätswerk der Stadt Zürich. Es gebe auch finanzielle Hindernisse bei älteren Liegenschaften, die in den nächsten Jahren saniert werden müssen. «Eine Installation ist nicht sinnvoll, wenn ein Dach in 10 bis 15 Jahren neu gemacht werden muss.»
Bei Neubauten seien Solaranlagen dagegen sehr sinnvoll und in einzelnen Kantonen sogar Pflicht. In Luzern etwa muss bei Neubauten ein Teil der benötigten Elektrizität selber erzeugt werden – mit erneuerbarer Energie. Andernfalls wird eine Ersatzabgabe fällig.
Ein anderes Hindernis für den Quartierstrom sind die rechtlichen Rahmenbedingungen. Wenn Strom ins öffentliche Netz eingespeist wird, fallen die vollen Netzentgelte an, schreibt das Energiegesetz vor. Bleibt es bei dieser Regelung, wären Projekte wie jenes in Walenstadt gefährdet, man müsste Ausnahmen erlauben.
Das hat man auch in Bern gemerkt. Das Bundesamt für Energie bestätigt: «Vorstösse, um solche Quartierstrom-Projekte legal betreiben zu können, gibt es.» Der Ball liege nun bei der Politik. Sie werde demnächst über die weiteren Schritte bei der Revision des Stromversorgungsgesetzes entscheiden.
3 Kommentare
Weiss jemand, ob es sich lohnt, als Mieter dem sogenannten "Zusammenschluss zum Eigenverbrauch" beizutreten? Wurde uns vom Vermieter mittels einseitiger Mietvertragsänderung mitgeteilt. Was es schlussendlich an Kosten ausmacht hat man uns nicht mitgeteilt. Ich bin da sehr skeptisch, da wir schon mal mit einem Heizungscontracting gewaltig auf die Nase gefallen sind da wir uns damals an den Anlagekosten beteiligen mussten.
Lieber Rechi,
unsere Quartierstrom-Anlagen produzieren jährlich etwa 300'000 Kilowatt Strom.
Leibstadt speiste gemäss Angaben im Internet im Jahr 2015 total 8599 GWh Energie ins Netz ein! Zum Nachrechnen: Eine Gigawattstunde ist die Energie, die einer Leistung von einer Milliarde Watt, also 1'000'000'000 Watt pro Stunde entspricht. Jetzt nur noch mit 8599 multiplizieren …
Ich stelle fest: offenbar können Journis auch hie und da recht haben.
@Melanie Wirz, auch als Journalistin sollten Sie technische und physikalische Gesetze beachten. Sie schreiben die 27 Anlagen würden 300000 kW (300 MW) produzieren. Das glauben Sie ja selbst nicht, das wäre dann 1/4 des KKW Leibststadt. Ich stelle vermehrt fest Journis sind mit technischen Fragen und vor allem Energiefragen heillos überfordert.