Wo die wilden Kräuter wachsen
Wer offenen Auges durch die Natur geht, kann Pflanzen entdecken, die gesund sind – und fantastisch schmecken. Ein Streifzug mit der Pflanzenkennerin Simone Michel.
aktualisiert am 16. Mai 2018 - 09:01 Uhr
«Wenn die Zunge taub wird, gleich ausspucken», sagt Simone Michel. «Dann beginnen die Giftstoffe zu wirken.» Wir haben soeben auf einem kleinen Stück eines Aronstabblatts herumgekaut, wenn auch zögerlich. Vertrauen ist gut, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Hat nicht der Lehrer damals in der Pflanzenkunde vor dieser Giftpflanze gewarnt?
Simone Michel weiss es offenbar besser: Sie ist Umweltnaturwissenschaftlerin und kennt jedes Pflänzchen, das in Wald und Wiese spriesst. «So giftig ist der Aaronstab nun auch wieder nicht», sagt die 44-jährige Zürcherin mit Berner Wurzeln und grinst. «Wirklich gefährlich sind nur Schierling, Blauer Eisenhut und Seidelbast, teilweise geschützte Pflanzen, die ich nicht einmal versuchsweise in den Mund nehmen würde.»
Tatsächlich, nach einer Weile verschwindet das taube Gefühl auf der Zunge. Geschehen ist weiter nichts, wir leben noch. Und sind willig, noch mehr von dem Grünzeug zu probieren, das Simone Michel auf Schritt und Tritt erspäht. «Essen kann man eigentlich fast alles , was bei uns wächst», sagt die Pflanzenkennerin. Um gleich anzufügen: «Man sollte aber nur das sammeln, was man sicher kennt, und keine Experimente machen.»
Das Problem: Wildpflanzenbücher zeigen die Pflanze vorwiegend mit Blütenstand, und viele Naturkräuter schmecken nur bis kurz vor der Blüte – dies erschwert das Erkennen. So einfach ist es also doch nicht. Hätte ich im Botanikunterricht bloss besser aufgepasst!
Gleich hinter dem Schloss Herblingen bei Schaffhausen, wo die Rundwanderung beginnt, deutet Michel auf ein unscheinbares blaues Blümchen am Waldrand. Ein Veilchen ist es nicht, das erkennt selbst der Anfänger. «Ein Leberblümchen», sagt sie bestimmt – und zählt die der Pflanze nachgesagten Eigenschaften und ihre Verwendungszwecke auf.
«Das Wissen über Pflanzen ist doch nicht geheim.»
Simone Michel, Umweltnaturwissenschaftlerin
Die Frau mit den blonden Naturlocken ist ein wandelndes Lexikon. Schon während ihres Studiums an der ETH hat sie sich weniger für die lateinischen Namen der Pflanzen interessiert, sondern dafür, wie sich die Wildpflanzen und Kräuter verwenden lassen: in der Küche, als Tee oder als Heilmittel, zum Beispiel bei Husten oder Halsweh.
Eine moderne Kräuterhexe also? Simone Michel lacht: «Das Wissen über Pflanzen ist doch nicht geheim, das kann sich jeder und jede aneignen.» Früher, in der im Mittelalter begründeten Signaturenlehre, schloss man von der Erscheinung der Pflanzen auf ihre Wirksamkeit; das Leberblümchen mit seinen leberförmigen Blättchen etwa habe man zur Behandlung von Leberbeschwerden eingesetzt. «Das ist heute überholt», so Michel. Es lasse sich auch nicht jede einer Pflanze zugeschriebene Wirkung nachweisen. Einige Kräuter hingegen würden intensiv genutzt und deren Extrakte zur Herstellung von Medikamenten verwendet.
Auch wenn ihre Heilwirkung sich nicht in jedem Fall belegen lässt: Wildkräuter sind gesund, ja regelrechte Vitamin- und Mineralstoffbomben. Manche schwören auch auf die angeblich entschlackende und entgiftende Wirkung des ersten Frühlingsgrüns. Anderen wiederum ist der gesundheitliche Mehrwert egal. Hauptsache, der Bärlauchpesto schmeckt und bringt Abwechslung in die Küche.
Simone Michel ist nie um Tipps verlegen: «Beim Ernten trage ich Handschuhe, und später schlage ich das Kraut auf den Küchentisch, bis die Giftgefässe sich entleert haben», lautet ihr Rat im Umgang mit Brennnesseln. Doch die Anfängerin hat noch andere Fragen: Wie kann ich Verwechslungen beim Bärlauch vermeiden? Und sind Schlüsselblume und Veilchen geschützt? Auch hier hat Michel eine Antwort parat. Den Bärlauch erkenne man am typischen Knoblauchgeruch – die Blätter der giftigen Maiglöckchen und Herbstzeitlose hingegen sind geruchlos. Schlüsselblumen und Waldveilchen seien nicht mehr überall geschützt; in jedem Fall sollte man mit den Beständen verantwortungsvoll umgehen.
Die wackere Expeditionsleiterin, mit Wanderschuhen, Lexika und Karte ausgerüstet, kennt nicht nur jedes Pflänzchen, sondern auch jeden Schmetterling, der vorbeischaukelt, jeden Vogel, der seinen Gesang in die laue Frühlingsluft schmettert.
«Pflanzen sind die einfacheren Tiere, sie rennen nicht davon.»
Simone Michel
Einmal bleibt sie plötzlich stehen: Sie hat gleich neben dem Wanderweg ein graues, wolliges Gebilde ausgemacht. «Die nichtverdaulichen Überreste einer Maus, die eine Eule von sich gegeben hat: Schaut mal, die feinen Knöchelchen!» Simone Michel bleibt nichts verborgen. Wie eine gewiefte Fährtenleserin bewegt sie sich durch die Wildnis – sofern man in der Schweiz von Wildnis sprechen kann. Eine Frage liegt auf der Hand: Weshalb hat sie sich auf Pflanzen spezialisiert, wenn ihr die Tierwelt doch genauso am Herzen liegt? «Pflanzen sind die einfacheren Tiere, sie rennen nicht davon», so ihre Antwort, deren Logik sich nicht bestreiten lässt.
Ein weiteres Mal stoppt sie, bückt sich – es ist ein Stückchen Plastik, das ihre Aufmerksamkeit erregt. «Das muss nicht sein, Abfall hier im Wald», sagt sie und steckt es ein. Auch nach der Mittagsrast wird alles wieder eingepackt, obschon an der Grillstelle ein Abfalleimer steht. Predigen ist nicht ihr Ding, sie geht lieber mit gutem Beispiel voran.
Seit sechs Jahren ist die Wissenschaftlerin für die «Rucksackschule» tätig. Dieser Verein hat sich das Vermitteln von ökologischen Inhalten auf die Fahne geschrieben. Zum Team gehören fünf Wissenschaftler und eine Pädagogin, jeder hat sein Spezialgebiet. Simone Michels Steckenpferd sind Exkursionen in der Natur. Die Kurse zum Thema Waldküche kommen besonders gut an, aber auch Angebote wie Tierbeobachtung oder Gestalten mit Naturmaterialien sind gefragt.
Sie selber ist auch in ihrer Freizeit oft in der Natur unterwegs, kehrt von ihren Streifzügen selten mit leeren Händen nach Hause. «Ich finde immer etwas, was ich brauchen kann.» Den Giersch, der im Wald und in Gärten üppig spriesst und dort als Unkraut gilt, setzt sie in einer Bowle an. Das schmeckt aromatisch, kräftig, wie die österreichische Kräuterlimonade Almdudler, die mit Giersch hergestellt wird. «Man kann sich über das Unkraut im Garten aufregen, oder man kann es schätzen und verwenden», meint Michel. Alles eine Frage der Perspektive.
Nach ihrem Lieblingskraut gefragt, überlegt sie nicht lange: Der Knoblauchhederich – auch Knoblauchrauke genannt – hat es ihr besonders angetan. «Ein herrliches, aromatisches Kraut, das ich gerne in den Salat mische», schwärmt Michel. «Er schmeckt nicht so streng nach Knoblauch wie Bärlauch, sondern bloss dezent.»
Mit Knoblauchhederich und anderen kleingeschnittenen Wald- und Wiesenkräutern wie Brunnenkresse, Bärlauch, Giersch, Scharbockskraut, Spitzwegerich und Sauerklee peppt sie grünen Salat oder einen Hüttenkäse-Dip auf.
Beim Pflücken achtet sie erstens darauf, dass die Pflanzen nicht geschützt sind, und zweitens, dass sie in genügender Menge vorhanden sind. «Wenn es an einem Standort nur ein paar wenige Exemplare hat, lasse ich sie stehen.» Ernten tut sie jeweils nur maximal ein Drittel des Bestands, ob es sich nun um Bärlauch, eine Minzeart oder Brennnesseln handelt. Blüten – Waldveilchen, Schlüsselblume, Taubnessel – pflückt sie jeweils nur sehr zurückhaltend: «Die braucht es ja nur zur Dekoration.»
Andere Pflanzen wie Bärlauch hingegen verarbeitet sie im grossen Stil. «Einmal hatten wir so viel gepflückt, dass wir unsere Ernte in der Badewanne waschen mussten.» Beim Waschen muss man genauso vorsichtig sein wie beim Pflücken, denn es könnten die winzigen, von Auge nicht sichtbaren Fuchsbandwurmeier anhaften.
Auf Nummer sicher geht, wer den Bärlauch kurz blanchiert, bevor er weiterverarbeitet wird. Bärlauch verträgt das Erhitzen, im Gegensatz zu vielen anderen Pflanzen. Allen, die wie Simone Michel nach dem zehnten Glas Pesto des Bärlauchs überdrüssig geworden sind, empfiehlt die Kräuterfrau ihren Favoriten, den Knoblauchhederich.
Auch Wildgemüse macht sie auf einem Feldweg, am Rande einer Buntbrache, aus. Ich hingegen hätte das Wildrüebli – wie das meiste auf dieser Wanderung – schlicht übersehen. Dabei sieht das Kraut genauso aus wie das Rüeblikraut im Gemüsegarten, nur viel kleiner und feiner. Riechen und schmecken tut das Wildrüebli, das Simone Michel ausgräbt, aber unvergleichlich besser und aromatischer. «Wildpflanzen müssen sich gegen Wind und Wetter, gegen die Konkurrenz anderer Pflanzen sowie gegen Frassfeinde aus dem Tierreich behaupten. Das macht sie widerstandsfähig und unglaublich vital», erklärt Michel die Fülle an Aromen und Inhaltsstoffen.
Im Vergleich mit unseren Kulturgemüsesorten enthalten Wildpflanzen oft ein Vielfaches an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen. Zudem sind sie reich an wertvollen Bestandteilen wie ätherischen Ölen, Bitterstoffen und Enzymen. Mit den als besonders gesund geltenden Gemüsen wie Spinat nehmen sie es locker auf: Die Brennnessel beispielsweise ist mindestens so eisenhaltig und reich an Vitamin C . Allerdings variieren die Werte je nach Standort stark.
Als wir nach sechs Stunden – zwei Stunden Mittagspause, Feuermachen und Wildkräutersuppe-Kochen eingerechnet – wieder an unserem Ausgangspunkt eintreffen, ist klar: Wir übersehen so vieles am Wegesrand. Aus Unachtsamkeit. Oder weil wir es nicht kennen.
Dabei lohnt sich das Hinschauen: In der freien Natur oder im eigenen Garten wachsen vielleicht Giersch, Brennnessel, Breitwegerich – alles nützliche, essbare Pflanzen. Zur Sicherheit werde ich bei der nächsten Wanderung neben Schere und Stofftasche auch eine Wildkräuterfibel einpacken, nur so zur Sicherheit. Einmal Aaronstab genügt.
- Man sollte nur bekannte Pflanzen sammeln und ein Kräuterbestimmungsbuch auf Streifzüge mitnehmen. Noch besser: mit einem Pflanzenkenner wandern oder einen Wildkräuterkochkurs besuchen.
- Keine geschützten Arten sammeln – kantonales Recht beachten!
- Blätter und Blüten morgens ernten; der Gehalt an Nähr- und Vitalstoffen ist zu dieser Tageszeit am höchsten.
- Pflanzen mit der Schere schneiden und nicht in Plastiktüten, sondern in einen Korb oder Stoffbeutel legen.
- Nur saubere Pflanzenteile pflücken und Verunreinigungen an Ort und Stelle entfernen. Damit spart man sich Arbeit in der Küche.
- Die Ernte rasch verarbeiten, damit möglichst wenig Vitamine und Mineralstoffe verlorengehen.
- Die meisten Zubereitungsarten für Wildpflanzen sind ähnlich wie für Spinat oder anderes Gemüse. Als Faustregel gilt: Im Frühling geerntete Pflanzen haben eine kürzere Garzeit als solche, die man im Sommer oder Herbst sammelt. Jüngere Blätter haben kürzere Garzeiten als ältere.
- Menschen mit einem empfindlichen Magen sollten mit kleineren Mengen beginnen, damit sich Geschmacksnerven und das Verdauungssystem an die Wildpflanzen gewöhnen können.
Quelle: Markus Strauss: «Die 12 wichtigsten essbaren Wildpflanzen: bestimmen, sammeln und zubereiten»; Walter Hädecke Verlag, 2010
Die Rundwanderung startet in Herblingen SH und dauert zirka vier Stunden.
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