Warum bezahlen wir eigentlich so viel?
Nur weil wir mehr verdienen, müssen wir noch lange nicht mehr zahlen, sagen Konsumentenschützer. Ökonomen fordern sogar einen Schweiz-Abschlag.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2011 - 08:41 Uhr
Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger nimmt kein Blatt vor den Mund. Die Schweizer Detailhändler greift er inzwischen frontal an: «Wenn schon, dann müssten die Preise in der Schweiz tiefer sein als in unseren Nachbarländern. Sicher aber nicht höher!» Seine Argumentation ist einfach: «Unsere höheren Lohnkosten werden mehr als wettgemacht durch unsere noch viel höhere Arbeitsproduktivität.»
Wir verdienen zwar viel mehr, arbeiten im Schnitt aber länger und intensiver, gönnen uns weniger Pausen und sind seltener krank. Dazu kommen die rekordtiefen Schweizer Lohnnebenkosten und ein Mehrwertsteuersatz, der nicht einmal halb so hoch ist wie bei unseren Nachbarn. Gerade im Detailhandel sind die Unterschiede in Bezug auf die Produktivität enorm: In der Schweiz liegt diese bei 49 Franken pro geleistete Arbeitsstunde, in Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien dagegen bei 39 Franken.
Der Einfluss der Personalkosten auf die Ladenpreise wird ohnehin überschätzt. Löhne machen nur einen Siebtel des Verkaufspreises aus. Das bedeutet: Zahlen etwa Migros oder Coop 50 Prozent höhere Löhne als die deutsche Rewe, rechtfertigt dies nur einen Preisaufschlag von 7 Prozent. «Würde das Lohnargument stimmen, so müsste in Griechenland der Export boomen, und wir würden auf unseren Waren sitzenbleiben», sagt Eichenberger. Das Gegenteil sei der Fall, Exportweltmeisterin ist die Schweiz.
Noch weniger Gewicht haben die hohen Schweizer Ladenmieten, obwohl sie im Schnitt 29 Prozent höher liegen als in den Nachbarländern. Auch andere Argumente seien nicht stichhaltig. So gebe es beispielsweise keine einzige wissenschaftliche Studie, die belege, dass die Qualität der Schweizer Waren prinzipiell höher sei. Und dass der Service im Detailhandel hierzulande prinzipiell besser sei als im Ausland, sei wohl auch eher Mythos als Wahrheit. Eichenberger: «Wer schon einmal bei uns länger an der Kasse anstehen musste, obwohl er vorher das Gefühl hatte, der Laden sei sonst eigentlich leer, weiss, was ich meine.»
Die Ursache, warum die Schweiz trotz Globalisierung eine Hochpreisinsel geblieben ist, ortet Eichenberger an ganz anderer Stelle: im bis vor kurzem sehr schwachen Wettbewerb unter den wenigen Schweizer Detailhändlern. Weil es trotz Aldi und Lidl noch immer keinen echten Preiskampf gebe, habe sich der Wettbewerb auf teure Nebenschauplätze verlagert: auf schöne Läden, ein dichtes Filialnetz, viel Werbung und aufwendige Kundenbindungsprogramme. «Das ist nur möglich, weil die Detailhändler eine viel höhere Bruttomarge einstreichen als in den Nachbarländern», so Eichenberger.
Dass Coop mit ihrem aufwendigen Ladenkonzept richtig liege, zeige, dass diese Strategie aufgehe, sagt Ökonom Thomas Stocker vom Forschungsinstitut BAK Basel Economics. «Den Schweizer Konsumenten sind schöne Läden neben guten Preisen auch wichtig.» Aber der Wettbewerb habe sich verschärft: «Ohne Aldi und Lidl hätten wir heute ein noch höheres Preisniveau», sagt Stocker.
In der wohl umfangreichsten Studie über die Preisentwicklung im Schweizer Detailhandel konnten Thomas Stocker und seine Kollegen nachweisen, dass sich die Schweiz den Nachbarländern kontinuierlich annähert: zwischen 2000 und 2009 um beachtliche 15 Prozentpunkte. Deutsche, französische, österreichische und italienische Detailhändler waren nur noch 11 Prozent billiger als die Schweizer. Alle Waren und Dienstleistungen zusammengerechnet, war die Schweiz aber noch immer 22 Prozent teurer als die vier Nachbarländer.
Doch das war 2009. Seither hat sich die Schere wegen des Euro-Zerfalls wieder geöffnet. Nur weiss niemand genau, wie stark. Für Stocker ist allerdings klar: «Die rasante Aufwertung des Frankens hatte alle Fortschritte der letzten zehn Jahre zunichtegemacht.» Immerhin könne man seit Monaten eine Gegenbewegung beobachten, dank Rabatten und starken Preissenkungen gerade im Detailhandel. Das sei nichts als richtig, denn auch für Stocker gibt es «eigentlich keinen Grund, warum dasselbe Produkt in der Schweiz deutlich teurer sein sollte als in Deutschland».
Untersuchungen der letzten Jahre zeigen: Auffallend sind die Unterschiede im Food-Bereich. 2009 waren Lebensmittel im Schnitt 19 Prozent teurer als in den Nachbarländern. Am grössten war die Differenz bei Fetten, Öl und Fleisch (über 35 Prozent), am niedrigsten bei nichtalkoholischen Getränken und Tabakwaren (weniger als 15 Prozent). Im Non-Food-Bereich betrug der Preisunterschied lediglich 5 Prozent. Aber eben: Das war 2009, als ein Euro im Jahresdurchschnitt noch Fr. 1.51 kostete.
Die Schweizer Preise seien «endlich ins Rutschen gekommen», freut sich auch Rafael Corazza, Direktor der Wettbewerbskommission (Weko). Zum Beispiel bei den Autos, wo die Weko gegen BMW und Mini wegen des Verdachts ermittelt, dass sie Parallel- und Direktimporte behindern: Die zahlreichen Euro-Rabatte haben die Preise für Neuwagen kräftig gedrückt. «Das war wichtig. Doch die Importeure schrecken nach wie vor davor zurück, ihre Listenpreise definitiv an den billigen Euro anzupassen», so Corazza. In anderen Sparten wie dem Onlinehandel oder bei Hygieneprodukten gebe es aber weiterhin viel Spielraum für Preissenkungen.
Der oberste Wettbewerbshüter pocht jedoch auf Selbstverantwortung: «Es kann nicht Sache der Behörden sein, dem Konsumenten zu sagen, wo er einkaufen und welche Preisdifferenz er akzeptieren soll. Das muss jeder Konsument selber entscheiden.» Er persönlich verhalte sich im Übrigen alles andere als vorbildlich und akzeptiere «eigentlich problemlos» 20 Prozent höhere Preise. «Damit trage ich dazu bei, dass das Preisniveau in der Schweiz hoch bleibt, und profitiere indirekt von jenen Konsumenten, die im Ausland einkaufen gehen und so für mehr Wettbewerb hierzulande sorgen.»
Preisüberwacher Stefan Meierhans hütet sich im Moment vor verbindlichen Aussagen. Im Vorfeld des Abstimmungskampfs über die Buchpreisbindung will er nicht sagen, wie viel Schweiz-Aufschlag gerechtfertigt sei. So viel ist aber klar: Die Mitte-links-Mehrheit im Parlament hielt 20 Prozent höhere Buchpreise in der Schweiz für gerechtfertigt, Meierhans war das zu viel.
Eine allgemeingültige Antwort sei aber ohnehin nicht möglich. Denn: «Entscheidend ist, welcher Anteil der Kosten in der Schweiz und welcher im Ausland anfällt. Je weniger Arbeit in der Schweiz in einem Produkt steckt, desto kleiner die Preisdifferenz.» Für besonders stossend hält Meierhans deshalb Preisaufschläge im Onlinehandel, wo in der Schweiz oft nicht mehr als der Telefondienst angesiedelt sei.
Die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) ist im Kampf um faire Schweizer Preise fast schon bescheiden geworden. Solange es keine Kostentransparenz gebe, sei es schwierig zu entscheiden, wie hoch ein gerechtfertigter Aufschlag sein dürfe, sagt André Bähler, Leiter Politik und Wirtschaft. «Wichtige Daten wie die Einkaufspreise halten die Detailhändler aber vor uns geheim», so Bähler. Es gebe jedoch keine Rechtfertigung, warum die Schweizer Preise teilweise doppelt so hoch sind wie jene in den Nachbarländern. «Den Konsumenten ist in solchen Fällen auch ohne wissenschaftliche Studien klar, dass da jemand kräftig absahnt.»
Bähler anerkennt zwar die Fortschritte bei Detailhändlern wie Migros, Coop und Denner sowie bei Auto- und Motorradimporteuren («Die sind zum Teil aufgewacht»). Doch das sei noch nicht genug. Bei anderen Artikeln ortete der SKS-Mann Nachholbedarf. Und zwar bei: Kleidern, Schuhen, Zeitschriften, Haushaltsgeräten, Kosmetikartikeln, Möbeln, im Telekommunikationsbereich und bei Outdoor-Artikeln – um nur die wichtigsten zu nennen. «Die letzten Monate haben uns einmal mehr gezeigt, dass nur öffentlicher Druck hilft. Und dass es offenbar Konsumenten braucht, die ennet der Grenze einkaufen. Beides zusammen hat viel bewirkt.»
Beschwerden häufen sich
Konsumenten beschweren sich immer öfter bei der Wettbewerbskommission. Seit Mitte Juli ist die Zahl der Meldungen in die Höhe geschnellt. Am häufigsten beanstandet wurden (in dieser Reihenfolge) zu hohe Preise bei: Zeitschriften, Autos und Motorrädern, Kleidern, Unterhaltungselektronik, Kosmetik, Küchen- und Sanitärgeräten, Reisen, Gütern des täglichen Bedarfs.
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