Sein Werk «Über die wachsende Nervosität unserer Zeit» beklagt die Beschleunigung des Alltags. Der bekannte Heidelberger Neurologe Wilhelm Erb schreibt: «Durch den ins Unangemessene gesteigerten Verkehr, durch die weltumspannenden Drahtnetze [...] haben sich die Verhältnisse in Handel und Wandel total verändert: Alles geht in Hast und Aufregung vor sich.» Die Anteilnahme am öffentlichen Leben erhitze die Köpfe und zwinge die Geister zu immer neuen Anstrengungen. Es fehle «die Zeit für Erholung, Schlaf und Ruhe».

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Die Analyse trifft den Nerv, oder? Dabei ist der Text genau 120 Jahre alt. Wilhelm Erb (1840–1921) beschreibt darin ein Belastungs- und Erschöpfungsleiden, das ab 1880 in der damaligen Mittel- und Oberschicht weit verbreitet war: die Neurasthenie. Neurastheniker waren Personen, deren Nerven durch die Technik der Moderne übermässig strapaziert waren. Innovationen wie elektrisches Licht und die Eisenbahn, Telefon und Telegraph machten sie krank, ja sogar die «geistige Aktivität der Frau» löste Symptome aus.

«Neurasthenie war die erste sogenannte Zivilisationskrankheit», sagt der Schweizer Historiker Patrick Kury, der in seinem Buch die Geschichte von Burn-out und Stress kulturhistorisch aufgearbeitet und damit habilitiert hat. Seine Erkenntnis: «Jede Epoche erzeugt ihre eigenen Zivilisationsleiden, die ein Unbehagen über die jeweiligen Lebensumstände ausdrücken.»

Quelle: Thinkstock Kollektion
Häufiger gestresst als noch im Jahr 2000

Stressempfinden der Erwerbstätigen, in Prozent

Ein Drittel der Schweizer ist gestresst

Die Geissel des 21. Jahrhunderts ist der Stress – ein Produkt der digitalisierten Dienstleistungsgesellschaft. Termine, SMS, Internet, Druck bei der Arbeit, Facebook, E-Mail, flexibilisierte Agenden, Tempo Teufel überall. Wir alle machen mit bei dieser Hektik, kaum jemand will und kann sich dem Diktat von Beschleunigung und ständiger Erreichbarkeit entziehen. Zugleich bekommt uns das alles immer schlechter.

Die grosse Stressstudie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2010 brachte es an den Tag: 34 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz sind häufig bis sehr häufig gestresst. Zehn Jahre zuvor hatten sich noch deutlich weniger Befragte gestresst gefühlt, nämlich nur 27 Prozent. Überdurchschnittlichen Stress empfinden die Westschweizer (50 Prozent) und jüngere Erwerbstätige bis 34 Jahre. Und ein beträchtlicher Anteil dieser häufig bis sehr häufig Gestressten ist gemäss der Befragung eher schlecht oder überhaupt nicht imstande, den Stress aus eigener Kraft zu bewältigen.

Die Ergebnisse decken sich mit der Gesundheitsstatistik 2012 des Bundesamts für Statistik. Während die physischen Gesundheitsrisiken von Arbeit zurückgegangen sind, haben psychosoziale Belastungen zugenommen. Diese haben meist mit Stress zu tun. Kreuz- und Rückenschmerzen zum Beispiel, ein weitverbreitetes Leiden, sind in 27 Prozent der Fälle durch Stress und Sorgen bedingt. Und vor allem: Stress treibt die Menschen zuhauf ins Burn-out. Das Seco schätzt, dass sich die Kosten von Burn-out und Stress (ärztliche Behandlung, Medikamente und Produktionsausfall) auf jährlich 4,2 Milliarden Franken summieren – eine gewaltige Summe. Das ist mehr, als die vieldiskutierten Gripen-Kampfjets kosten würden.

Positiver Stress vor einem Auftritt

Dabei ist Stress an sich gar nichts Schlechtes. «Stress ermöglicht dem Menschen, Schwierigkeiten zu bewältigen und den Belastungen des Lebens gewachsen zu sein», sagt Samuel Rom, CEO der Klinik Schützen in Rheinfelden, der grössten Privatklinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie in der Schweiz. Stress hilft, bei Gefahren und anderen Herausforderungen adäquat zu reagieren: Bleibe ich? Renne ich davon? Wehre ich mich?

Lampenfieber ist das klassische Beispiel für positiven Stress, auch Eustress genannt. Ohne Lampenfieber wären Künstler, Aktienhändler oder Spitzensportler nicht imstande, Topleistungen zu erbringen. Der Musiker Stephan Eicher sagt von sich, er könne selbst nach über 30 Jahren Karriere keine Bühne betreten, ohne dass ihm vorher der kalte Schweiss ausbreche und der Puls rase. «Wenn auf solchen Stress der Erfolg und anschliessend die Erholung folgen, ist das völlig okay», sagt Samuel Rom. «Aber wenn sich solche Situationen verselbständigen, die schwarze Wand immer näher kommt, dann ist der Stress zu viel – und nicht mehr gesund.»

Quelle: Thinkstock Kollektion
Jeder Vierzehnte fühlt sich überfordert

Antworten der Erwerbstätigen  auf die Frage, wie gut sie mit Stress klarkommen

Burn-out gilt nicht als Krankheit

Was ist Stress überhaupt? Patrick Kurys Buch zeigt auf, dass sich die Vorstellungen darüber im Lauf der Zeit immer wieder gewandelt haben. Die eingangs erwähnte Neurasthenie bezeichnet der Historiker als «Stressphänomen avant la lettre» – ein eigentliches Konzept zum Stress existierte Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht. Doch während die Neurasthenie bis heute im Krankheitskanon ICD der Weltgesundheitsorganisation aufgeführt ist, haben weder Stress noch Burn-out den Status einer Krankheit.

Als Vater der physiologischen Stressforschung gilt der in Wien geborene Biochemiker und Mediziner Hans Selye (1907–1982), der ab Mitte der 1930er Jahre in Kanada forschte und entdeckte, dass der menschliche Körper auf jegliche Art von Herausforderung mit einem stereotypen hormonellen Ablauf reagiert. «Allgemeines Anpassungssyndrom» nannte er diese Reaktion. 1946 sprach er erstmals von Stress. Etwa gleichzeitig, aber unabhängig von Selye benutzten seit dem Zweiten Weltkrieg britische und amerikanische Militärmediziner und -psychiater den Begriff. Sie beschrieben damit die psychischen Belastungen, denen Fliegersoldaten im Gefecht ausgesetzt waren, «sowie teilweise auch die Folgen dieser Belastungen, unter denen Soldaten noch lange nach dem Kriegseinsatz litten», schreibt Patrick Kury.

Ab 1970 setzte sich nach und nach das psychosoziale Verständnis von Stress durch. Nun ging es weniger um körperlich-hormonelle Reaktionen, vielmehr interessierte fortan das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt. Mit dieser Deutung wurden der Stress und das Reden über Stress enorm populär. Via Medien und die Ratgeberliteratur wanderte der Begriff über den medizinischen Kontext hinaus in die Alltagssprache ein. Stress sei zum «kulturellen Code» geworden, sagt Kury, mit dem grundsätzlich alle als belastend empfundenen Situationen des Alltags charakterisiert würden.

Quelle: Seco-Stressstudie 2010; Infografik: Beobachter/DR/AS  

Quelle: Thinkstock Kollektion
Unterbrechungen, hohes Tempo und Termindruck lösen am häufigsten Stress aus

Regelmässig auftretende Stressfaktoren, in Prozent

Konzentration wird immer schwieriger

Welche Situationen dies im Arbeitsleben sind, hat das Seco genau untersucht. Es zeigte sich wenig überraschend: Es ist die gehetzte Wirtschaft, das Immer-unter-Strom-Stehen, das viele zermürbt. Dabei sind hohes Arbeitstempo und steter Termindruck nicht das Hauptproblem. Am meisten zu schaffen machen Arbeitnehmenden die dauernden Unterbrechungen: wenn es unmöglich wird, sich während einiger Stunden auf eine Arbeit zu konzentrieren, weil parallel dazu E-Mails beantwortet werden müssen und das Handy im Minutentakt klingelt.

Man mag hier dagegenhalten, dass in früheren Zeiten die Menschen ein viel härteres Leben zu meistern hatten als wir heutzutage. Unsere Vorfahren erlebten Kriege, Krisen und Epidemien, und auch heute gibt es Länder, in denen die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Das legt den Schluss nahe, dass unsere Wohlstandsgesellschaft verweichlicht ist. Der Psychologe Samuel Rom von der Klinik Schützen sieht das anders: «Es stimmt, dass die Inuit in der Arktis oder manche Stämme im afrikanischen Busch ein hartes Leben führen. Aber diese Lebensumstände sind viel unmittelbarer als unsere. ‹Ich habe Frau und Kind, aber nichts mehr zu essen, deshalb muss ich jagen gehen› – das ist fassbar und verständlich, diese Aufgabe hat einen Anfang und ein Ende. Sie ist sozusagen analog.»

Wie sich hingegen die allgegenwärtige Digitalisierung auf Arbeitnehmende der Industriegesellschaft auswirkt, sieht Rom bei den vielen Burn-out-Patienten in seiner Klinik. Es treffe in der Regel diejenigen Mitarbeiter, die sich bis zur Selbstaufgabe in die Arbeit stürzten und oft ein Problem hätten, nein zu sagen.

Ein Umdenkbruch in der Gesellschaft

Bis vor kurzem galt die Devise, in erster Linie liege es am Einzelnen, mit seinem Stress klarzukommen. Mittlerweile mehren sich die Zeichen, dass es die Gesellschaft ist, die kollektiv umdenken muss, was teilweise bereits geschieht. Indem wir weniger auf Tempo setzen, das schnelle und billige Schnäppchen nicht mehr «geil» finden, das stetige Wachstum drosseln, den Reiz von finanziellen Anreizen relativieren.

Zu diesem Schluss kommt auch Patrick Kury in seiner Analyse. «Das Individuum ist am Limit», sagt der Historiker. Was bereits die Stressforschung der 1970er Jahre forderte, gelte heute umso mehr: «Es sind die Gesellschaft und die Wirtschaft, die sich an das Individuum und seine psychischen und körperlichen Fähigkeiten anpassen müssen, nicht umgekehrt.»

Buchtipps

  • Patrick Kury: «Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burn-out»; Campus, 2012, 344 Seiten, ca. CHF 42.
  • Simone Grebner u. a.: «Stress bei Schweizer Erwerbstätigen»; herausgegeben vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), 2010.