Wohin, mein Herz?
Was, wenn die Reiseroute dem Zufall folgt? Unser Reporter hat eine Fahrt ins Blaue gemacht und ist mit einem Strauss Geschichten zurückgekehrt.
Veröffentlicht am 2. Juli 2014 - 11:23 Uhr
Vor Jahren schenkte mir mein Freund Dominik ein Herz. Es ist aus Zink und trägt auf der einen Seite die Prägung «I will», auf der anderen «I won’t». Das war nichts Romantisches, wie Sie jetzt vielleicht denken. Er wollte mir eine Entscheidungshilfe geben für die ernsthafte Frage, vor der Männer immer wieder stehen: Soll ich noch ein Bier bestellen oder nicht?
Dieses Mal liegt das Herz in meiner Linken, als ich am Zürcher HB zur Anzeigetafel hochblicke. Der erste Zug fährt nach Olten. Soll ich oder soll ich nicht? Ich soll. Und sitze bald darauf im Regio-Express. Für die Reise ins Ungewisse trage ich ein rot-schwarz kariertes Hemd, die Farben des Roulettes, wo der Spieler nicht weiss, ob die Kugel in ein rotes oder ein schwarzes Nummernfach holpern wird.
Ich hätte den Tag auch dem Buchstaben O opfern können: mit Olivia im Overall ins Oberland fahren, «Ottos Mops hopst» von Ernst Jandl lesen oder «Histoire d’O», Musik von Yoko Ono hören, Obstkuchen essen und Orangensaft trinken oder einen Ouzo. Oder immer links gehen oder rechts. Von Aadorf nach Zwischenflüh radeln. Von Männedorf nach Frauenfeld. Oder von Rehetobel nach Hundwil gehen.
Beim Aussteigen bellt ein Mann: «Das Interesse ist intakt! Bern ist im Moment das Bottleneck! Wir müssen Druck machen!» Dann schiebt er sich, das Mobiltelefon ans Ohr gepresst, an mir vorbei. Das Wort Bottleneck geht mir nicht aus de Sinn. Bern, ein Flaschenhals? Ich will einen Kaffee trinken; um eine Bottle Bier in den Neck zu kippen, ist es zu früh. Die Ruhe der Aare folgt mir, als ich die Bahnhofbrücke quere. Reihenweise leere Ladengeschäfte empfangen mich auf der anderen Seite, ihre dunklen Münder von Schaufenstern scheinen ihren Atem auszuhauchen. Dann tauche ich in eine Ladenpassage ab, die etwas Leben verspricht. Sie ist vollkommen leer.
Olten, wo fast so viele Züge halten wie am Zürcher HB – man sagt, es sei ein Eisenbahnknotenpunkt –, hat in den letzten Jahren 3000 Einwohner verloren, lese ich später nach. Nun zählt man dort noch 17'000 Seelen. Während des Zweiten Weltkriegs muss es vor Menschen gewuselt haben. Über 60'000 Militärs waren vor Ort, und über 18 000 Flüchtlinge und Internierte. In Olten wurden im grossen Stil Schuhe genäht und Lampen und edle Gläser geblasen, doch das weiss kaum einer mehr.
Ich kehre zum Bahnhof zurück und steige in den Bus, den das Herz per Zufall gewählt hat.
«Ein Billett, bitte.»
«Nach Bern? Basel? Zürich?», fragt der Buschauffeur.
«Äh, nach Dulliken … Halbtax.»
«Gut. Dulliken Zentrum! Ich fahre nämlich nur dorthin», lacht er. «Macht Fr. 2.60.»
Wie Dulliken Zentrum wohl aussieht? Ich habe noch nie von dem Ort gehört. Es geht den Hügel hinauf, das Land öffnet sich. Vom Bus aus sehe ich einen Betonklotz. Ein Silo?
Eine Art Kreuzung mit Parkplatz. Kein Geschäft, kein Café. Dafür eine Anhöhe mit Bäumen auf einer Wiese, mit einem bürgerlich hellen Pfarrhaus und einer Kirche aus Beton, dem die Zeit zugesetzt hat. Was ich für einen Silo gehalten habe, ist der Glockenturm auf Betonstelzen.
Einst bildete ich mir ein, ich könnte an der Turmspitze erkennen, wer ein Gotteshaus erbaut hat. Auf katholischen Kirchen sitzt oft eine Zwiebelkuppel oder ein Kreuz, auf protestantischen ein Hahn, der sich mit dem Wind dreht. Aber ich sehe kein Kreuz auf dem Silo und keinen Hahn auf der protestantischen Kirche etwas weiter unten. Als die Schwengel auf die Glocken des Betonturms schlagen, vergeht mir Hören und Sehen. Letzteres ist von Vorteil.
«Wenig Speck und viele Schwarten, viel Hag und wenig Garten», sagen die Solothurner über ihren Kanton. Da der Bus erst viel später fahren wird, folge ich den Gartenzäunen zu Fuss nach Olten. Es ist Vormittag. Ich sehe zwei Frauen, die auf dem Balkon rauchen, zwei Frauen mit Kopftüchern, einen Handwerker, der nach Hause humpelt, zwei Rentner, die mich vor dem Coiffeur, der auch Lose verkauft, herzlich grüssen. Ein Hund kläfft mich durch eine Hecke an, die kleinen Gärten riechen nach Tau und Gras.
Was tut man in Dulliken? «Energiearbeit und Beratung – Tibetische Rückenmassage – Kristallbett – Auch für Kinder», lockt ein Ladengeschäft. Energiearbeit? Auf dem Kristallbett? Ein anderes bietet Schweizer Poulets an – «frisch zum mitnehmen». Man kauft beim Gärtner Hagmann eine versteinerte Putte oder ein bluttes Frölein, ebenfalls versteinert. Oder legt sich ein Wasserbett zu. Das alles gibts auf dem Weg nach Olten. Man kann Jamaikanisch essen, Galicisch trinken und Billard spielen, eine Pizza beim «original» Italiener holen, in der Metzgerei Alima Halalfleisch posten und in der «Sichtbar» abstürzen. Die liegt in der Nähe der Bushaltestelle «Knoblauch».
In Olten steige ich in den nächstbesten Zug. Und schon am nächstbesten Ort wieder aus, denn ich habe Hunger. Aarburg empfängt mich mit Sonne und der Aussicht auf die … Aarburg. Der Kanton Aargau heisst ja wegen der Aare so, der Thurgau hat seinen Namen von der Thur. Das Wort Gau schmeckt mir – einem Davoser – bitter wegen Wilhelm Gustloff. Der war ein deutscher Nationalsozialist und wollte in den 1930er-Jahren den Gau Schweiz aufbauen. Von Davos aus. Es kam nicht gut. Gustloff hauchte in den Blauen Häusern in Davos-Horlauben sein Leben aus.
Wer alleine reist, reist in sein Inneres.
Soll ich in der «Krone», die gleich gegenüber dem Bahnhof liegt, Zmittag essen? Ich soll, sagt mein Herz. Der Wirt begrüsst alle Gäste laut und herzlich, und was er gekocht hat – «Gebratene Pouletstreifen an süss-saurer Sauce mit Basmati-Reis» – erinnert mich an das unverwüstliche Riz Casimir. Jedenfalls schmeckt es gut, und nach dem Espresso stehe ich vor der Tür des Restaurants und rauche.
Aarburg ist die Heimat von Dr. Karel Vesely, dem Komponisten des Walzers «Aarburger Nächte». So steht es auf der Website des Ortes. Zudem liegt Aarburg im Aargau. Den Aargauern haben die Berner, als sie das Land vor mehr als 200 Jahren in die Unabhängigkeit entliessen, ein eigenes Erbrecht verpasst. Bei den Bernern bekam das jüngste Kind den Hof, das nennt man Minorat. Bei den Aargauern war das nicht der Fall. Darum sind die Berner Höfe grossflächig geblieben. Die Aargauer Höfe wurden bei jedem Erbgang zerstückelt.
Ein Mann mit sehr blauen Augen und sehr violettem Hemd raucht ebenfalls vor der «Krone». Ich sehe zur Aarburg hoch, die sich auf der Krete hinter ihm an den Fels krallt. Die protestantischen Berner bauten die Burg von 1659 bis 1673 zu einer gewaltigen Festung gegen die Katholiken aus.
In aller Naivität frage ich: «Was meinen Sie? Lohnt sich ein Besuch?»
«Warum nicht? Vielleicht lassen sie Sie hinein? Das ist die Jugendstrafanstalt.»
«Ach so. Da wäre ich wohl weniger willkommen. Ein Mann in fortgeschrittenem Alter …»
Er lacht. «Sie können es ja versuchen!»
«Ich reise dem Zufall nach – aber in ein Jugendgefängnis?»
Ich weiss nicht, ob er mich richtig verstanden hat, denn der Mann sagt: «Gehen Sie doch in die Jugendherberge in Zofingen! Dort war ich mal. An einem Seminar.»
Missverständnisse oder Zufälle können dem Leben eine unerwartete Wendung geben. Eine Freundin traf einst im Zug ein Paar, das nach Saint-Maurice reiste. «Saint-Maurice!», rief sie aus, «wie kommen Sie denn dazu, an dieser Felswand zu wohnen!?» Man erzählte ihr, Vorfahren hätten in Zürich in bestem Französisch Billetts nach Saint-Maurice verlangt. Der Beamte stellte sie ihnen aus. Sie fuhren ins Wallis. Doch eigentlich wollten sie nach St. Moritz in Graubünden, nicht nach Saint-Maurice.
Das Paar kam aus Russland und war vor der Oktoberrevolution geflüchtet. Es dachte, ein paar Tage St. Moritz samt Casino und frischer Luft würde ihm guttun, bis die Wirren vorbei sein würden.
Das Paar blieb in Saint-Maurice im Wallis. Seinen Lebtag lang.
Selbstverständlich kenne ich Zofingen. Ich habe bei Ringier gearbeitet, und die Zeitschriften BeobachterNatur und Beobachter werden bei Ringier gedruckt. Alle zwei Wochen, immer am Freitag und am Montag, telefoniere ich mit Zofingen und frage Herrn Cabral oder Herrn Iseli oder Herrn Senn, ob die Seiten, die ich in Zürich am Computer abgeschickt habe, bei ihnen angekommen seien.
Nun bin ich nie dort gewesen, weder in der Druckerei der Ringiers, die jetzt Swissprinters heisst, noch im Ort. Mein erster Eindruck, nachdem man mich schon in der Unterführung fröhlich begrüsst hat (was Städter irritiert, weil kein Zürcher je einem Fremden zulächeln würde): Zofingen ist stattlich, geradezu muskulös. Und es scheinen wenig Menschen in der Altstadt zu leben. Der zweite: Warum fahren Autos durch diesen schönen Ort? Der dritte: Es gibt mehrere Läden für Hörgeräte. Folglich werden die Menschen alt. Ein Restaurant, das «Tex Mex» an der Sternengasse, bietet Pouletflügeli für sieben Franken an. Ich muss die Zahl auf der Tafel zweimal lesen. Sieben Franken. Im Anur-Brother-Kiosk bedient mich ein Sri Lanker. Ich solle für fünf Franken ein Los kaufen, sagt das Herz. «Win for Life». Es ist eine Niete. Ich werde weiterhin arbeiten müssen.
Manches Mal bleibe ich fasziniert vor einem Fenster stehen. Vor dem des Schreiners, der Treppen zimmert. Vor dem eines Spenglers, dessen Werkzeug so stolz aufgefächert ist wie der Schwanz eines balzenden Pfaus. Vor dem des Metzgers, wo ein Plakat erklärt, wie die Teile von Schwein und Rind heissen. Vor der Bäckerei, die drei Kunststoffberliner zu einer mannshohen Skulptur getürmt hat. Oder vor der zauberhaften Löwen-Apotheke. Da blickt eine Frau sich um. Ich habe vor mich hingeredet: «Das ist jetzt aber schön!»
In Zofingen steht zwar keine Ringmauer mehr. Aber den Pulverturm gibts noch. Mit jeweils sechs Schüssen aus der Kanone begrüsst man Ende Jahr Barbara, die Schutzpatronin der Artillerie und der Tunnelbauer. Die Kanone steht vor dem Turm am Rand der Altstadt.
Dort, wo das Grün beginnt, finde ich die Jugendherberge. Sie ist ferienhalber geschlossen. Ich gehe die General-Guisan-Strasse entlang – das Militär folgt mir in Zofingen bei Fuss – und sehe vor einem Museum einen Mann mit Besen.
«Grüezi!»
«Grüezi!»
«Was sieht man denn in Ihrem Museum?»
«Das ist das älteste Museum im Kanton Aargau, wir zeigen unter anderem die Geschichte der Region und der Stadt Zofingen.»
«Aha. Gut. Dann schau ich mir gern Ihr Museum an.»
«Das geht leider nicht. Ich habe eine Schulklasse zu Besuch, das Museum ist am Dienstag eigentlich geschlossen.»
Die Orte Aarau, Olten und Zofingen wollte man einst zum «Hauptzentrum» vereinen; für den Zusammenschluss des Trios dachte man sich den Namen «Arolfingen» aus. Das war der Plan vor 50 Jahren. Weder Aargauer noch Solothurner verspürten Lust auf diese Zweckheirat.
Auf dem Land haben die Menschen Zeit. Der Bus fährt dann, wenn er fährt. Nicht allzu fleissig, aber pünktlich. Man wartet mit dem Fahrer, zwei älteren Frauen und zwei jüngeren Männern, steigt irgendwann ein, und nach einer spitzen Linkskurve zieht der Bus an Feldern entlang und an Einfamilienhäusern, die in Gehegen spriessen, die ein Planer ihnen zugewiesen hat.
Das Restaurant Eisenbahn beim Bahnhof Reiden ist zu. Es wird bald abgerissen oder ist es bereits, wenn Zofingen diese Zeilen gedruckt hat. Neben der Kirche ist der Hügel bis auf die Knochen ausgehöhlt. Ab Frühjahr 2015 wird man «modern wohnen am Weinberg». Für 680'000 Franken in einer Vierzimmerwohnung. Gegenüber drängeln sich die neuen, hellen, beigefarbenen Wohnbauten der Raiffeisen-Bank zwischen die Hauptstrasse und den Friedhof.
Ich suche das Grab des Grossvaters eines alten Freundes. Der Friedhof ist klein. Ich finde das Grab nicht. Ich blicke Menschen ins Gesicht, die 8 oder 19 oder 94 wurden. Ihre Bilder eingeschweisst in Folien. Und lese den Hinweis, der ganze Grabreihen betrifft: «Infolge Ablauf der Grabesruhe wird dieses Grab aufgehoben. Die Angehörigen der Verstorbenen werden gebeten, die Grabmäler und Pflanzen bis zum 10. Mai 2014 zu entfernen.»
Im Altersheim besuche ich die Mutter meines alten Freundes. «Wer sind Sie schon wieder?», fragt sie. Wir trinken in der Sonne ein Glas Wein.
«Das freut mich jetzt, so unverhoffter Besuch! Welches meiner Kinder kennst du?»
«Alle fünf. Wir haben zusammen Weihnachten gefeiert.»
«Haben wir?»
«Ich habe das Grab deines Vaters nicht gefunden.»
«Man hat ihn längst ausgegraben.»
Im Zug dem Sempachersee entlang. Der Mann gegenüber liest die Zeitung. Ich habe ein Erste- Klasse-Billett gekauft. In der ersten Klasse kann man den Akku ans Stromnetz anhängen. Aber die Buchse ist tot. Das Mobiltelefon tut keinen Wank. Spiegelnd der See, der allzu schnell vom Fenster verschwindet. Die Enten und Taucherli, die über die Fläche gleiten wie stille Eisläufer. Wohin steuert dieses Land? Alten Häusern bröckelt der Kitt von den Fensterrahmen. Neben ihnen breiten Kräne ihre Arme aus und ziehen Bauten hoch, deren dunkle Augen sich nicht mehr öffnen.
Im Bahnhof der Leuchtenstadt so viele Leute, dass ich die Lässigkeit und Leere Zofingens vermisse.
«Jetzt muss ich meinen Beziehungsstatus ändern auf Facebook», sagt die junge Frau im Abteil ins Handy. «Als Erstes! Ich lass mir doch nicht sagen: ‹Du kannst mich am Arsch lecken!› Und die 300 Franken, die ich ihr gegeben habe, die sähe ich nie wieder, sagte sie.» Sie wischt sich keine Träne weg. «Mein Akku ist bald leer. Kommst du mich am HB abholen?»
Auf der Fahrt nach Zürich hörte ich einmal, wie eine Amerikanerin zu ihrem Freund sagte: «Und ich dachte, Zürich HB steht für Zürich Heart broken.» Gebrochenes Herz.
Daran denke ich, während ich das Herz aus Zink in meiner Handfläche wiege. «I will». Oder «I won’t». Und bestelle mir im «Fédéral» im HB ein Bier.
Sophie Calle, eine französische Künstlerin, setzte sich eines Tages im Zug nach Wallonien ins Waggonrestaurant, las während der Fahrt ein Gedicht von Walt Whitman und nippte an einem Whisky. Eine hübsche Idee.
Man kann auch einem Buchstaben nachreisen, also nur Ziele anpeilen, die mit B beginnen, mit T oder, vielleicht weniger günstig, mit Q. Aber wer weiss. Oder man reist nach dem Abc. Von Arlesheim nach Zuchwil etwa. Was man bedenken muss: Auf dem Land ist der öffentliche Verkehr zwar gut, aber die Frequenz nicht hoch. Wer in einer Stadt wohnt, sollte mal sämtliche Tram- und/oder Buslinien von Endstation zu Endstation gefahren sein.
Meine Tagesreise habe ich mit einem Herz aus Zink unternommen, aber eine Münze tuts auch – sofern man sich jeweils erinnern kann, ob Kopf oder Zahl Ja bedeutet. Der Würfel, den ich mitgenommen hatte, war nicht sachdienlich, ebenso wenig das Schnippschnapp. Und sowieso: Wenn man Hunger hat, ist die Fünf eine gerade Zahl. Viel Vergnügen!