Wenn Zeugnisse nichtssagend sind
Arbeitszeugnisse werden immer häufiger mit Hilfe von Software erstellt. Das nimmt zum Teil seltsame Formen an, gegen die Arbeitnehmer vorgehen können.
Veröffentlicht am 24. November 2022 - 13:22 Uhr
Neben schlechten und guten Beispielen für Arbeitszeugnisse erfahren Sie, wie ...
- ein Zeugnis sein muss und was Sie verlangen können
- Sie intervenieren, um ein Zeugnis persönlich zu gestalten
- Sie Ihr Zeugnis von den Fachleuten des Beobachters prüfen lassen
- Sie mithilfe unserer Mustervorlage gegen das Zeugnis protestieren
Die Verkäuferin eines Grossverteilers machte Bestellungen, füllte die Regale auf, sorgte für Ordnung und Sauberkeit. In ihrem Arbeitszeugnis steht jedoch allen Ernstes: «Mit ihrem guten Verkaufs- und Verhandlungstalent gelang es ihr leicht, die Kunden zu überzeugen und Kaufabschlüsse zu realisieren.» Verkaufsverhandlungen im Supermarkt – echt jetzt?
Oder der Lokführer einer Regionalbahn. Er fährt den ganzen Tag Zug, hält Station für Station, bis er am Endbahnhof ist. Sein Zeugnis attestiert ihm, er habe «die erforderlichen Massnahmen auch unter Termindruck selbständig durchgeführt, richtige Prioritäten gesetzt und ein sehr gutes Engagement zur Erreichung des Arbeitsergebnisses gezeigt». Termindruck bei einem Lokführer? Erreichung des Arbeitsergebnisses?
Umständlich formuliert und wenig aussagekräftig
Das Zeugnis einer Controllerin ist weniger absurd. Ihre Leistungen werden hoch gelobt, ihr Weggang wird sehr bedauert. Aber da ist dieser Satz: «Frau X informierte regelmässig über ihren Aufgabenbereich.» Die Controllerin ist irritiert: Sie hatte mit heiklen, vertraulichen Daten zu tun, Verschwiegenheit war oberste Pflicht. Will der Chef andeuten, dass sie zu viel geplaudert habe?
Oder der Küchenchef einer sozialen Institution: Man sei mit seinen Leistungen sehr zufrieden gewesen, alle hätten ihn sehr geschätzt. Der passionierte Gastronom fragt sich: Und was ist mit dem Essen, mit den selbst kreierten Rezepten?
Laut Pflichtenheft war er verantwortlich für eine abwechslungsreiche, gesunde und zielgruppengerechte Verpflegung sowie für die kulinarischen Höhepunkte bei besonderen Anlässen. Doch davon steht nichts im Arbeitszeugnis – es könnte genauso gut einen Buchhalter betreffen. Da ist die Rede von seinem «sicheren Urteil», seinen «Lösungen und Vorgehensweisen» und weiter unten von der «zügigen Arbeitsweise» und seinem Fleiss. Ob sein Essen geschmeckt hat, erfährt man nicht. «Ich habe meinen Gästen doch keine ‹Lösungen› serviert», sagt er.
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Im Arbeitszeugnis-Check prüfen Fachleute des Beobachters Ihr Zeugnis auf Herz und Nieren. In den Kosten von 180 Franken ist Folgendes inbegriffen:
- Dokumentenanalyse Ihres Arbeitszeugnisses
- 15 bis 20 Minuten telefonische Beratung
- Kontrolle der von Kunden überarbeiteten Version
- Argumentarium für Rückweisung an den Arbeitgeber
- Zugang zu über 4000 Beratungsinhalten im Rechtsratgeber für 1 Monat
- Gutschein im Wert von 10 Franken für den E-Ratgeber «Fair qualifiziert» aus der Beobachter-Edition
Software setzt Arbeitszeugnisse zusammen
Eine Floskel nach der anderen. Immerhin wollten die Vorgesetzten dieser Angestellten nichts Böses. Die Bewertungen sind gut bis sehr gut. Es geht hier auch nicht um sogenannte Zeugniscodes , also um negative Botschaften, die sich hinter vordergründig positiven Formulierungen verstecken und die ohnehin nicht zulässig wären.
Das Problem liegt woanders. Arbeitszeugnisse werden meistens nicht mehr individuell verfasst, sondern mit Hilfe einer speziellen Software aus vorformulierten Textbausteinen zusammengestellt. In unzähligen Zeugnissen sind denn auch die ewig gleichen Wendungen zu lesen. Da wird tausendfach Fachwissen zielorientiert umgesetzt, ganze Heerscharen bewahren in schwierigen Situationen den Überblick und unterstützen die Arbeit im Team. Auch der Hinweis, dass Angestellte über ihren Arbeitsbereich informieren, wie bei der Controllerin, ist eine häufige Floskel. Ob sie nun Sinn ergibt oder nicht.
Regeln und Standards haben zwar auch Vorteile für Angestellte. Bei grossen Firmen, die jährlich Dutzende von Arbeitszeugnissen ausstellen, sichern sie eine gewisse Qualität. Seltsam wird es aber, wenn die gleichen Allerweltsfloskeln querbeet für alle Berufsgruppen verwendet werden, unabhängig davon, welche Eigenschaften und Fähigkeiten für die betreffende Tätigkeit wirklich wichtig sind. Oder wenn die Vorgesetzten nur den vorgekauten Einheitsbrei verwenden, ohne ein paar individuelle Bewertungen einzubringen (siehe «Arbeitszeugnisse persönlicher gestalten»). Wer bei Standardzeugnissen nur die Leistungsbeurteilung liest, hat darum meist keine Ahnung, was die Person überhaupt gemacht hat.
Sind Arbeitszeugnisse überflüssig?
In letzter Zeit wurden Stimmen laut, Arbeitszeugnisse gehörten allgemein abgeschafft, sie strotzten nur so vor Floskeln und sagten nichts aus. Das ist leider nicht ganz falsch, wie unzählige Zeugnisse aus allen Branchen zeigen, die Ratsuchende in den letzten Jahren ans Beobachter-Beratungszentrum geschickt haben.
Doch es gibt sie durchaus noch, individuell verfasste Zeugnisse, zugeschnitten auf die konkrete Tätigkeit und die Persönlichkeit. Auch das zeigen die Erfahrungen des Beratungszentrums. Solche Zeugnisse klingen nicht nach Pflichtübung. Das veranschaulicht der folgende Ausschnitt aus dem Zeugnis der Stationsleiterin eines Altersheims:
«Frau X legt grossen Wert auf das Wohlbefinden der ihr anvertrauten betagten Personen. Sie kann gut beobachten, erkennt die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen richtig und handelt entsprechend. Sie pflegt mit viel Herz, strahlt Ruhe und Gelassenheit aus, was den Heimbewohnern Sicherheit und Geborgenheit schenkt. Dabei pflegt sie einen feinen, liebevollen und doch konsequenten Umgang mit den betagten Menschen.»
Da hat sich jemand die Zeit genommen, sich mit der Mitarbeiterin auseinanderzusetzen. Das ist Wertschätzung – geht doch!
Arbeitszeugnis: So muss es sein, das können Sie verlangen
Wann muss ein Zeugnis ausgestellt werden?
Nach Gesetz muss der Arbeitgeber nicht von sich aus aktiv werden. Arbeitnehmende haben aber das Recht, jederzeit ein Arbeitszeugnis zu verlangen – während der Anstellung (Zwischenzeugnis
), am Ende des Arbeitsverhältnisses und auch noch danach. Die Verjährungsfrist beträgt zehn Jahre.
Was muss im Arbeitszeugnis stehen?
In ein sogenanntes Vollzeugnis gehören Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses sowie eine Beurteilung von Leistung und Verhalten (siehe dazu auch die Checkliste «Was gehört ins Arbeitszeugnis»). Als Alternative kann man auch eine Arbeitsbestätigung verlangen
, die sich nur zu Art und Dauer des Arbeitsverhältnisses äussert – ohne jede Bewertung.
Wie schnell muss der Arbeitgeber das Zeugnis ausstellen?
Eine gesetzliche Frist gibt es nicht. Mehr als zwei Wochen sollte man aber nicht auf ein Zeugnis warten müssen.
Darf im Arbeitszeugnis nur Positives stehen?
Nein. Zeugnisse sollten wohlwollend sein, also die Stärken und Fähigkeiten einer Person hervorheben. Laut Bundesgericht
sind negative Äusserungen aber zulässig, sofern sie der Wahrheit entsprechen und für das Arbeitsverhältnis wesentlich sind.
Dürfen gesundheitliche Probleme im Arbeitszeugnis erwähnt werden?
Nur wenn sie einen erheblichen Einfluss auf Leistung oder Verhalten des oder der Angestellten hatten oder wenn es sich um sehr lange Absenzen im Verhältnis zur Anstellungsdauer handelte. Auch wenn Angestellte ihre vertraglichen Aufgaben wegen der Krankheit
nicht mehr erfüllen konnten, darf das erwähnt werden.
Ich bin mit dem Zeugnis nicht einverstanden. Was kann ich tun?
Reden Sie mit dem Arbeitgeber und berufen Sie sich auf Zwischenzeugnisse, Mitarbeiterbeurteilungen und andere Belege für Ihre Sicht der Dinge. Wenn Sie gemeinsam keine Lösung finden, bleibt Ihnen der Rechtsweg. Der erste Schritt ist ein Schlichtungsverfahren. Falls es auch dort keine Einigung gibt, erhalten Sie die Klagebewilligung und können vor Gericht gehen.
In welchem Zeitraum kann man den Arbeitgeber zur Korrektur des Arbeitszeugnisses auffordern?
Während der zehnjährigen Verjährungsfrist ist das jederzeit möglich.
Kann ich verlangen, dass im Zeugnis steht, dass ich selbst gekündigt habe?
Es muss nicht zwingend im Arbeitszeugnis stehen, wer gekündigt hat. Sie können aber verlangen, dass erwähnt wird, dass Sie die Firma auf eigenen Wunsch verlassen.
Arbeitszeugnisse persönlicher gestalten
Wenn ein Betrieb standardisierte Zeugnisse schreibt, müssen Angestellte das grundsätzlich akzeptieren. Sie können jedoch vorschlagen, wie der Text angepasst werden könnte – gut begründete Vorschläge haben Aussicht auf Erfolg.
Überlegen Sie,
- welche Kompetenzen und Eigenschaften für Ihren Tätigkeitsbereich wichtig sind;
- welche Ziele Sie erreicht haben, auf welche Erfolge Sie besonders stolz sind;
- wofür Sie gelobt wurden, spontan von der Chefin, in Mitarbeiterbeurteilungen, von Kunden;
- wo Sie positive Spuren hinterlassen, Verbesserungen angestossen, Projekte realisiert haben.
Wenn nichts davon im Zeugnis steht, schlagen Sie Ergänzungen vor: «Besonders zu erwähnen ist/sind …»
Haben Sie spezielles Fachwissen oder besondere Erfahrung? Dann verlangen Sie, dass nicht nur – wie üblich – von «fundiertem Fachwissen» die Rede ist, sondern präzisiert wird, in welchen Bereichen Sie überdurchschnittlich versiert sind.
Standardformulierungen lassen sich auch mit Beispielen ergänzen. Anstatt einfach die «Belastbarkeit» zu loben, kann man ausführen, wann das für den Betrieb von Nutzen war, etwa im Zusammenhang mit Projekt X oder weil es während der Covid-Pandemie überdurchschnittlich viel zu tun gab.
Wer mit dem Arbeitszeugnis des Arbeitgebers nicht einverstanden ist, sollte das Gespräch mit ihm suchen. Beobachter-Mitglieder erhalten mit dem Musterbrief «Unzufrieden mit dem Arbeitszeugnis» eine hilfreiche Vorlage, wie sie dem Begehren um Verbesserung Nachdruck verleihen können.
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