Beobachter: Was war eure letzte Mahlzeit?
Laura Schälchli: Wirz mit Knoblauch und darauf ein Ei – alles, was ich noch zu Hause hatte. Und gestern Abend habe ich in einem Kurs Bouillon aus Suppenhühnern und einen Jus aus den Knochen einer 14-jährigen Kuh gekocht. Das war fein.
Rebecca Clopath: Gestern hatte mein Schwager Geburtstag. Es gab Spiessli vom eigenen Schwein, Kartoffeln, Mayo, Ketchup und selbstgemachten Sauerrahm.
Beobachter: Esst ihr auch mal einen Döner?
Nicole Hasler: Ich schon. Ich versuche, nicht dogmatisch zu sein, ich kaufe auch mal Thai-Curry vom Take-away. Ich will mich ja nicht sozial ausgrenzen. Ich finde es okay, einmal im Jahr fragwürdiges Fast Food zu essen. Es erinnert mich daran, warum ich mich mit Nose-to-Tail-Kochen beschäftige. Es geht mir nämlich um viel mehr als nur Innereien.
Beobachter: Also gibt es nichts, was nie auf den Teller kommt?
Hasler: Doch, Thunfisch.
Schälchli: Ich würde nichts essen, was ich nicht aussprechen kann. Etwa wenn auf abgepackten Lebensmitteln komplizierte Geschmacks- und Zusatzstoffe stehen. Das macht das Essen nicht feiner.
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«Bei meiner Mutter gab es Teigwaren, Fischstäbli, Lasagne, Fertigpizza, UHT-Milch...»
Die Zürcher Gastronomin hat in Bra im Piemont, der Slow-Food-Hochburg schlechthin, gastronomische Wissenschaften studiert. Unter dem Label «Sobre Mesa» ermöglicht die 35-Jährige «Begegnungen rund um Esskultur»: Workshops und Dinnerserien mit dem Ziel, bewussten Genuss auf den Teller zu bringen – und die Konsumenten näher an die Produzenten.
«Wer Fleisch isst, müsste mal im Schlachthof dem Metzger zuschauen.»
Die Bündnerin ist auf einem Biohof in Lohn GR aufgewachsen, wo sie heute wieder lebt. Am liebsten kocht die 29-Jährige mit dem, was Wald, Wiese und Garten hergeben. Dabei ist ihr der Bezug zur Landschaft und zu lokalen Produzenten wichtig. Inspiriert wurde ihre Naturküche vom avantgardistischen Gourmetkoch Stefan Wiesner vom «Rössli» in Escholzmatt LU. Dort arbeitete sie mehrere Jahre.
«Ich muss nicht jeden Tag Hoden essen. Aber sie haben ihren kulinarischen Wert.»
Die 32-Jährige aus Zürich doktoriert in Volkswirtschaft – und kocht nebenher leidenschaftlich gern. Dabei hat sie sich der Nose-to-Tail-Philosophie verschrieben, der sinnvollen Verwertung des ganzen Tiers. Nicole Hasler führt den Food-Blog «zum fressn gern», der Freude am Kochen und Respekt vor Lebensmitteln vermitteln will.
Beobachter: Ihr engagiert euch im Slow-Food- und Nose-to-Tail-Bereich. Da gäbe es auch noch Veganismus, Clean Eating und weitere moralisch aufgeladene Begriffe. Ist das Essen eine verkrampfte, moralinsaure Angelegenheit geworden?
Hasler: Letztes Jahr bin ich mit meinem Hund eine Woche lang wandern gegangen. Es war wunderschön: Ich stand auf, wanderte, am Abend hatte ich Hunger und ass dann – einfach so, ganz unbeschwert. Sonst bin ich immer auf der Hut, nerve Freunde mit der Frage: Wo wurde das Huhn produziert? Ich bin mittlerweile ein schwieriger Gast. Da muss ich mich manchmal an der Nase nehmen. Nicht alle beschäftigen sich so intensiv mit der Fleischproduktion wie ich.
Clopath: Für mich ist es definitiv kompliziert, ich mache mir viele Gedanken. Wenn ich sehe, was für Junkfood Leute in sich reinstopfen, muss ich aufpassen, nicht lehrmeisterlich zu werden. Einen solchen Wohlstand, wie wir ihn haben, hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Wir sind wie Kinder, die vor ihren Nasen grosse Dosen mit Süssigkeiten haben und sich mit beiden Händen Guetsli in den Mund schaufeln.
Schälchli: Viele Leute fragen mich: Wie viel Zeit braucht denn Slow Food? Sie sind völlig überfordert. Aber ein gutes Essen kann schnell und einfach sein: ein schönes Gemüse, ein guter Käse, ein feines Brot, fertig.
Hasler: Schmorgerichte, bei denen alle sagen, die dauern zu lange, schmeisse ich einfach in einen Dampfkochtopf. In 20 Minuten ist das Fleisch fertig, daneben lese ich ein Buch. Ich muss sagen, ich bedaure, dass sich Leute keine Zeit mehr nehmen fürs Kochen. Es geht auch ein sozialer Aspekt verloren. Zusammen mit Familie und Freunden vor einem Sonntagsbraten sitzen und geniessen, das ist doch etwas Wunderschönes.
Schälchli: Aber was ich mir auch immer wieder sagen muss: Nicht alle haben den Luxus, sich solche Gedanken ums Essen machen zu können.
Clopath: Stimmt. Meine Schwester hat jung Kinder bekommen, da fehlt Geld und Zeit. Ich hätte die Mayo und den Ketchup beim Nachtessen gestern von Hand gemacht. Aber bei ihr geht das natürlich nicht.
«Ich finde es sehr wichtig, dass man das Fleisch richtig verwertet. Es ist Wahnsinn, wie viel im Abfall landet.»
Rebecca Clopath, Köchin
Beobachter: Besonders Fleisch ist ein heikles Thema, Veganismus ist im Trend. Ihr esst trotzdem Fleisch. Warum?
Schälchli: Die Tierhaltung gehört für mich einfach zu unserer Landwirtschaft. Leider wurde sie aber so weit industrialisiert, dass sie nichts mehr mit der ursprünglichen Tierhaltung zu tun hat.
Clopath: Viele haben das Problem, dass der direkte Bezug zum Fleisch fehlt. Man holt es beim Grossverteiler, portioniert, vakuumverpackt, ohne einen Tropfen Blut dran. Meiner Meinung nach müssten alle, die Fleisch essen, einmal in einem Schlachthof gestanden und dem Metzger zugeschaut haben.
Hasler: Für mich ist die Schlachtung unschön, aber ein notwendiger Teil der Viehzucht. Während meiner Kindheit wurde noch mitten im Dorf geschlachtet. Das war ganz normal. Erst mit dem Umzug in die Stadt kam die Entfremdung. Durch mein Engagement hat sich das aber wieder geändert. Wenn ich heute Fleisch esse, sehe ich das Tier vor mir. Und empfinde Dankbarkeit.
Clopath: Ich finde es auch sehr wichtig, dass man das Fleisch richtig verwertet. Es ist Wahnsinn, wie viel im Abfall landet. Das ist mir erst in der Kochlehre richtig bewusst geworden. In meinem Lehrbetrieb hatte ich das Glück, dass wir Jus und Bouillon selber aus Knochen zubereitet haben, Ochsenmaulsalat, solche Sachen. Nur Innereien haben wir leider nicht gekocht – die Leute wollten das nicht.
Beobachter: Das zeigt doch, dass es eher um moralische Gründe geht, wenn man Innereien isst. Und nicht um den Genuss.
Hasler: Ganz und gar nicht. Güggelihoden etwa schmecken himmlisch, wie feinste Cipollata aus Poulet. Ich muss nicht jeden Tag Hoden essen. Aber sie haben ihren kulinarischen Wert, und den muss man neu entdecken. In anderen Kulturen, zum Beispiel in Österreich oder in Frankreich, werden Innereien mehr geschätzt. Nur schon in der Romandie: Für ein Foto für ein Westschweizer Magazin sollte ich einmal mit einem spektakulären Stück Fleisch posieren. Ich schlug Hirn vor, doch die Fotografin winkte ab. Das sei nichts Aussergewöhnliches, das sei ja eine Spezialität, «cervelle au beurre noisette». Bei uns in der Deutschschweiz ist das anders.
Schälchli: Und, ehrlich gesagt: Filet ist so langweilig!
Hasler: Manchmal muss ich lachen. Wir essen Döner und Take-away-Burger, und Innereien finden wir eklig. Wir kaufen Antibiotika-Pouletfleisch und grausen uns vor dem Herzen eines Biorinds, das mit Gras gefüttert wurde. Das ist doch absurd.
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Beobachter: Kochen wirklich wieder mehr Leute mit Rindszungen und Schweineohren? Oder ist das nur ein schneller Trend in der Kochwelt?
Clopath: Es gibt sicher Köche, die schon lange mit Innereien arbeiten. Aber es hat einen Schub gegeben von jungen Leuten, die das ernst nehmen und sich wirklich für das Thema interessieren. Und da wir mit Social Media aufgewachsen sind, sind wir auffälliger als die Köche, die das schon seit 30 Jahren machen.
Schälchli: Manchmal habe ich aber schon das Gefühl, dass wir in unserer kleinen urbanen Blase leben, in der alle so kochen wie wir und sich über das Essen eine Identität schaffen.
Clopath: In der Bäuerinnenschule bin ich auf die Welt gekommen. Von 19 Frauen hatten nur drei schon etwas von Slow Food gehört.
Hasler: Es gibt ja den Trend zu mehr einheimischen Produkten. Innereien passen gut dazu. Man kann exotisch und gleichzeitig regional essen. Derzeit erlebt zum Beispiel das Leistenfleisch eine kleine Renaissance. Rindszwerchfell hat man früher verwurstet, dann als Katzenfutter abgewertet. Dabei schmeckt es super, etwa als Steak auf dem Grill.
Schälchli: Wir haben so viele spannende Lebensmittel aus unserer Region und unseren Nachbarländern. Im Alpenraum gibt es 3000 Pflanzenarten, in der Schweiz 30 Randensorten. Für Exotik muss man überhaupt nicht weit weg suchen.
Clopath: Ich habe gestern mit einem Gemüsebauern gesprochen, der im Winter 400 Sorten Gemüse anbaut. Das ist doch Wahnsinn.
«Meine Grosseltern haben im Zweiten Weltkrieg geheiratet, und die Leute damals hatten Hunger. Wir alle kennen dieses Gefühl gar nicht mehr.»
Nicole Hasler, Food-Bloggerin
Beobachter: Hatten die Leute früher mehr Bewusstsein fürs Essen?
Alle: Nein.
Hasler: Als ich das Kochbuch meiner Urgrossmutter von 1901 fand, dachte ich: Das wird eine kulinarische Offenbarung. Aber die Gerichte zeugten davon, wie wenig Lebensmittel damals vorhanden waren. In der gebrannten Crème hatte es nicht mal Rahm! Wir haben heute viel mehr Möglichkeiten. Man muss sie einfach nutzen.
Schälchli: Unser Lebensmittelsystem ist von «Altlasten» geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Produktion und Anbau so entwickelt, dass sie möglichst effizient funktionierten. Tiere wurden wahnsinnig hochgezüchtet, mussten schnell wachsen, Pflanzen ebenso. Lebensmittel mussten haltbar und transportfähig sein. Der Geschmack war egal. Mittlerweile produzieren wir abartige Mengen von Essen und verschwenden 40 Prozent davon.
Hasler: Aber man muss sich auch immer wieder vor Augen führen, woher diese Entwicklung kommt. Meine Grosseltern haben im Zweiten Weltkrieg geheiratet, und die Leute damals hatten Hunger. Wir alle kennen dieses Gefühl gar nicht mehr.
Schälchli: Es haben immer noch viele Leute bei uns Hunger. Nicht Hunger wie im Zweiten Weltkrieg, aber Körperhunger: Sie sind dick und gleichzeitig unterernährt.
Beobachter: Kennt ihr schlechte Ernährung selber, etwa als Kind?
Clopath: Ich nicht. Ich bin in einem Schlaraffenland aufgewachsen. Meine Mutter war eine grandiose Köchin. Ich glaube, dass ich ihretwegen Koch gelernt habe.
Schälchli: Ganz anders als bei mir! Meine Urgrossmutter hat noch Ravioli aus der Büchse serviert, meine Grossmutter tiefgefrorenes, fettiges Mah-Mee-Gemüse. Bei meiner Mutter gab es Teigwaren, Fischstäbli, Lasagne, Fertigpizza, UHT-Milch...
Hasler: Oje, die ganzen Abgründe!
«Ich wünsche mir, dass wir wieder mehr Freude am Essen und Kochen haben und genauer hinschauen.»
Laura Schälchli, Gastronomin
Beobachter: Wann kam bei euch das Bewusstsein für gutes Essen?
Schälchli: Mit 19 bin ich nach New York gegangen, um zu studieren. Dort habe ich gemerkt: Irgendwas stimmt nicht. Die Leute sind richtig dick. Schlechtes Essen ist unglaublich billig. Und gute Lebensmittel sind viel zu teuer.
Clopath: Ich kenne eine Frau aus den USA, die 60 Kilometer weit fahren muss, wenn sie ein frisches Rüebli kaufen will. Dort hat man keine Supermärkte, sondern Tankstellen mit Junkfood. Da krieg ich Hühnerhaut, das graust mich richtig.
Schälchli: In den USA nennt man solche Gebiete Food-Deserts – Essenswüsten. Ich war aber letzthin bei meinem Bruder in Zizers, Graubünden. Weil er einen leeren Kühlschrank hatte, wollte ich dort einkaufen gehen. Und ich habe gemerkt: Es gibt fast keine anderen Möglichkeiten als die Grossverteiler. Ich bin überhaupt nicht zu frischem Gemüse gekommen.
Hasler: Hier in der Stadt ist das ironischerweise viel einfacher als auf dem Land, weil die Produzenten zu den Wochenmärkten fahren.
Schälchli: Aus solchen Situationen entstehen aber Gegenbewegungen. Slow Food aus Italien zum Beispiel – als Reaktion auf solche Missstände.
Beobachter: Wenn ihr einen Wunsch frei hättet: Worauf sollten die Leute beim Essen und Kochen mehr achten?
Schälchli: Dass wir wieder mehr Freude daran haben und genauer hinschauen.
Hasler: Dass wir unsere Vorstellungen von Abfall hinterfragen.
Clopath: Dass wir wieder ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie wichtig das Essen ist.
«Nose to tail»
Eine Philosophie (englisch «nose»: Nase; «tail»: Schwanz), nach der möglichst alle Teile eines Tiers als Lebensmittel verwertet werden. Statt vom Rind nur das Filet zu essen, kochen Nose-to-Tail-Enthusiasten auch das Herz, das Zwerchfell oder das Hirn.
Slow Food
Die gleichnamige Organisation aus Italien hat den Begriff für genussvolles, regionales und bewusstes Essen geprägt. Slow Food ist als Gegenbewegung zu abgepacktem Fertigessen und Fast Food entstanden.
Veganismus
Veganer meiden Produkte, die tierischen Ursprungs sind – gleichgültig, ob die Tiere dafür geschlachtet wurden oder nicht. Dazu gehören Fleisch, Milchprodukte, Honig und Eier.
An Ostern sind Eier ein Muss. Aber müssen es immer Hühnereier sein? Für Food-Bloggerin Nicole Hasler sind Güggelihoden eine Delikatesse. In der Form erinnern sie an daumengrosse Cipollata-Würstchen. «Zart und aromatisch, stehlen sie jedem Pouletbrüstchen geschmacklich die Show. Und sie sind eine witzige Alternative zu den traditionellen Ostergerichten», sagt Hasler.
Wie andere Innereien fanden Güggelihoden früher mehr Verwendung in der Küche. Gemäss dem Kochbuch «Das kulinarische Erbe der Alpen» war es üblich, dass der Hühnermetzger von Hof zu Hof zog und als Lohn Hahnenkämme und -hoden für sich behalten durfte.
Für den Beobachter hat Nicole Hasler dieses Rezept kreiert:
Eier von glücklichen Güggeli mit Frühlingssüppchen
Vorspeise für 2 Personen
ZUTATEN
für die Suppe
- 1 Bund Radiisliblätter, nur das Grüne grob hacken
- neutrales Öl zum Anbraten, Hälfte einer kleinen Sellerieknolle, geschält und in 1 cm grosse Würfel geschnitten
- 1 kleine Zwiebel, gehackt
- 5 dl selbstgemachte Gemüsebouillon
- Gewürze: Curry, Salz und Pfeffer
für die Güggelihoden
- 2 TL milde Sojasauce
- 1 kleine Knoblauchzehe, gepresst
ZUBEREITUNG
- Güggelihoden 1 Stunde lang marinieren.
- Das Öl in einem Topf erhitzen. Radiisliblätter und Zwiebel andünsten. Sellerie beigeben und mit der Bouillon ablöschen.
- Alles aufkochen und zugedeckt bei kleiner Hitze weich garen.
- Die Suppe mit dem Stabmixer fein pürieren und mit Gewürzen abschmecken.
- Güggelihoden bei mittlerer Hitze je 3 Minuten beidseitig anbraten. Je ein Hödeli längs auf ein Spiessli stecken und mit der Suppe servieren.
Achtung: Güggelihoden sind sehr empfindlich. Bei zu grosser Hitze können sie platzen.
Güggelihoden gibts zum Beispiel beim Hof Silberdistel, der das Projekt «Huhn mit Bruder» für nachhaltige Hühnerzucht und Eierproduktion unterstützt.
Rezept: Blut-Brownies
Wussten Sie, dass man Blut in Brownies verarbeiten kann? Ein Rezept aus dem Fundus der Zürcher Gastronomin Laura Schälchli.
Rezept: Wildkräutersalat mit Urdinkelbrot
Ein Osterrezept aus dem Fundus der Bündner Köchin Rebecca Clopath: Wildkräutersalat mit Urdinkelbrot, confiertem Eigelb und wildem Lauch.