Jung und schon des Lebens müde
Wenn Kinder oder Jugendliche depressiv werden, ist das oft nicht leicht zu erkennen. Dabei wäre es wichtig, sie richtig zu behandeln.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2017 - 15:13 Uhr,
aktualisiert am 26. Oktober 2017 - 14:41 Uhr
Bereits Kinder und Jugendliche können eine Depression haben», sagt Dagmar Pauli. Und: «Es ist ein häufiges Problem.» Pauli ist Chefärztin und stellvertretende Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP) in Zürich. «Schon Vierjährige können auf schwierige Lebensumstände depressiv reagieren», sagt sie. Häufiger seien jedoch Depressionen im Jugendalter. 2008 zeigte eine Befragung von Schülern der zweiten Sekundarklasse in der Stadt Zürich, dass 23 Prozent der Mädchen und neun Prozent der Buben ernsthafte Suizidgedanken hatten. «Und das ist nur die Spitze des Eisbergs», so Pauli.
Die Ursache für eine frühe depressive Störung ist – wie bei Erwachsenen – oft ein Zusammenspiel von genetischen Komponenten und Ereignissen im Umfeld. «Mobbing, Überforderung in der Schule oder die Trennung der Eltern im Streit können Auslöser sein», sagt die Expertin. Weil die depressive Reaktion von Kindern und Jugendlichen oft an konkrete Belastungen gekoppelt sei, werde der Ernst der Lage nicht erkannt: «Die Leute sagen dann: Kein Wunder, geht es dem Kind schlecht, wenn es in der Schule gemobbt wird.» Dabei werde in vielen Fällen übersehen, «dass die Reaktion des Kindes Krankheitswert hat und das Funktionieren im Alltag stark beeinträchtigt».
Dass das Thema aktuell ist, zeigen auch die Zahlen der Notfallmeldungen der KJPP in Zürich. Waren es vor zehn Jahren noch weit unter 100 Notfallkonsultationen, sind es in der ersten Hälfte dieses Jahres bereits über 300. Kinder und Jugendliche werden meist wegen Suizidversuchen oder Suizidgefährdung eingeliefert.
Auch Anja Becker*, heute 19-jährig, kämpfte in ihrer Jugend mit Suizidgedanken. Die erste depressive Phase hatte sie mit 14. «Da war plötzlich eine unbegründete Trauer in mir, und ich konnte die nicht mehr loswerden.» Anja Becker wurde in der Primarschule gemobbt, in der Pubertät sank ihr Selbstwertgefühl immer tiefer. «Zu den richtigen Downs kam es meist durch ganz banale Dinge. Zum Beispiel eine kritische Aussage einer Kollegin. In mir drin gab es eine Kettenreaktion aus Wut, Trauer und Selbsthass.»
Das ging so weit, dass Becker mit Suizidgedanken zu kämpfen hatte. Hinzu kamen Selbstverletzungen: «Ich nahm ein scharfes Küchenmesser unter die Dusche und ritzte mich an der Hüfte.»
Anja Becker hatte damals das Glück, dass ihre Freundinnen sie dazu bewogen, professionelle Hilfe zu suchen. Die meisten Kinder und Jugendlichen mit einer depressiven Störung erhalten keine Unterstützung. Laut Expertin Pauli gehen Betroffene oft unter. «Depressive Kinder und Jugendliche sind häufig still und zurückgezogen. In der Schule und auch in den Familien dominieren eher die lauten Kinder.»
Auch in Anja Beckers Umfeld wollte am Anfang niemand so recht glauben, dass sie Depressionen hat. «Viele sagten mir, dass sie das nie gedacht hätten.» In dieser Zeit spürte Becker, dass Depression in der Gesellschaft noch lange nicht als Krankheit anerkannt ist. «Einige versuchten mich aufzumuntern, indem sie mir sagten: ‹Du musst dich halt zusammenreissen! Das geht dann schon!› Das tat richtig weh.» Auch gegenüber ihren Eltern öffnete sich Becker erst, als sie schon in Behandlung war. «Es brauchte mehrere Gespräche, bis sie mich richtig verstanden haben.»
«Einige sagten: ‹Du musst dich halt zusammenreissen.› Das tat richtig weh.»
Anja Becker*, 19
Wie können Eltern eine depressive Reaktion ihrer Kinder früh erkennen? Eine Checkliste gebe es nicht, weil jedes Kind anders sei, sagt Dagmar Pauli. Man könne aber auf Veränderungen achten: «Wenn das Kind plötzlich weniger lebhaft ist, Stimmungseinbrüche hat, kraftlos wirkt, es sich von Freunden zurückzieht, Hobbys plötzlich vernachlässigt werden oder die Schulleistungen abnehmen, dann sind das Alarmsignale.»
Bei Anja Becker tauchten viele dieser Alarmsignale mit 17 Jahren wieder auf. Nach einem Austauschjahr in Australien fühlte sie sich eigentlich wieder stabil. Doch dann schlich sich die «unbegründete Trauer» zurück. «Zum Glück hatte ich diesmal keine Suizidgedanken und ritzte mich nicht mehr. Wohl auch, weil ich mir diesmal viel schneller Hilfe holte.» Das war vor zwei Jahren, Becker ist heute noch immer in Behandlung.
Die Psychotherapie unterscheidet sich stark, je nach Alter der Patienten. In der Therapie lernen sie, wieder positive Gedanken über sich selber zu entwickeln. Und es werden Bewältigungsstrategien für schwierige Situationen trainiert. «Bei den jüngeren Kindern machen wir das spielerisch», sagt Dagmar Pauli von der KJPP. Mit Zeichnungen oder einem «Lobheft» lernen die Kleinen, sich wieder positiver zu beurteilen. Schwierige Situationen spielen sie mit Puppen nach. «Mit älteren Jugendlichen ist die Therapie dann schon sehr kognitiv, ähnlich wie bei den Erwachsenen, so dass man miteinander diskutiert», so Pauli.
Es bringe aber nichts, nur das Kind «gesund zu therapieren», wenn gleichzeitig Belastungen im Umfeld bestehen bleiben. Darum sei es wichtig, auch die Eltern einzubeziehen, sagt die Expertin: «Wenn es eine reale Schulüberforderung gibt oder sich die Eltern tatsächlich die ganze Zeit streiten, dann muss man auch schauen, dass man da eine Verbesserung erreicht.»
Eltern werden aber auch aktiv in die Therapie eingebunden, da sie helfen können, die positive Problembewältigung zu unterstützen. «Wenn man pro Woche nur eine Stunde mit dem Kind arbeitet, dann nützt das viel weniger, als wenn man zusätzlich mit den Eltern arbeitet, die die Kinder die ganze Woche unterstützen können.»
«Ich rechne schon damit, dass die Depression vielleicht wieder zurückkommt. Aber hoffentlich nie mehr so stark»
Anja Becker*, 19
In der Regel seien die Eltern bei einer Therapie engagiert dabei. Für viele sei die Diagnose Depression eine Erlösung, sagt Dagmar Pauli. «Sie sind froh, dass ihnen endlich jemand erklärt, was mit ihrem Kind los ist.» Manche Eltern seien vorsichtig, wenn es um Psychopharmaka gehe. «Aber wenn Eltern von Jugendlichen sehen, dass die Therapie allein nicht ausreicht und es von den ärztlichen Fachpersonen empfohlen wird, entscheiden sie sich häufig doch dafür, ein Medikament einzusetzen.»
So war es auch bei Anja Becker: «Meine Mutter war am Anfang gegen Medis. Ich wollte es aber probieren und habe sehr gute Erfahrungen gemacht.» Es sei zwar nicht so gewesen, dass sie mit dem Antidepressivum keine Downs mehr gehabt habe, aber die «Grundtraurigkeit» sei verschwunden. «In der Therapie lernte ich dann, meine Denkweise zu ändern. Ohne Medis wäre das bestimmt viel schwieriger gewesen.»
Mittlerweile hat Becker die Medikamente abgesetzt, die Therapie befindet sich in der Schlussphase.
Ganz weg wird das Risiko aber nie sein. Dagmar Pauli von der KJPP sagt: «Die Rückfallgefahr ist relativ hoch. Laut Studien bekommt ein Drittel bis die Hälfte später im Leben wieder schwere Depressionen. Wenn man die Warnzeichen früh erkennt, kann man jedoch rascher handeln.»
Das weiss auch Anja Becker: «Ich rechne schon damit, dass es vielleicht wieder zurückkommt. Aber hoffentlich nie mehr so stark.»
*Name geändert