Wenn man ständig auf der Überholspur lebt
Stress wird in der Leistungsgesellschaft zum immer grösseren Problem: Mindestens zwei von drei Erkrankungen sind Folge von Überforderung. Wer nicht rechtzeitig die Notbremse zieht, riskiert den totalen Kollaps.
aktualisiert am 28. Januar 2020 - 12:15 Uhr
Herzrasen, Schweissausbrüche, flache Atmung, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Appetitlosigkeit – typische Symptome eines überlasteten Managers kurz vor dem Kollaps? Auch. Aber die gleichen Störungen weisen auch «akut» Verliebte auf. In beiden Fällen signalisiert der Körper dasselbe: Stress !
Doch während der eine «Hochspannungszustand» für rosigen Teint, bebende Sinne und Höchstleistungen sorgt, beschert uns der andere hohle Wangen, dunkle Augenringe und den körperlichen und seelischen Knockout. Stressforscher haben unterdessen erkannt, dass das englische Allerweltswort «Stress» – zu Deutsch Druck oder Anspannung – aufgeteilt werden muss, in Eu-Stress und Dis-Stress.
Eu-Stress verleiht Flügel , ist das Salz in der Alltagssuppe und der Kick für Höchstleistungen und Glücksgefühle. Kein gelungener Auftritt ohne Lampenfieber, keine sportlichen oder beruflichen Erfolge ohne Herausforderung und Konkurrenz. Was den Eu-Stress gesund macht, ist seine Endlichkeit. Wenn der Sieg errungen ist, die Tat vollbracht, weicht die innere Anspannung einer wohltuenden Entspannung. Das innere Pendel findet in die Balance zurück. Auch der chaotische Zustand des Verliebtseins muss irgendwann abflauen – sonst würden wir ihn schlicht nicht überleben.
Anders der Dis-Stress. Er ist kein Energielieferant, sondern nur Verbraucher. Er nagt am Seelenfrieden und erschöpft unsere Kraftreserven. Dis-Stress ist Überforderung. Treffend formulierte es Hans Seyle, jener Arzt, der 1936 dem Stress seinen Namen gab: «Negativer Stress entsteht, wenn die Schildkröte versucht, das Rennpferd zu überholen.» Und in die erschöpfende Schildkrötenposition gerät man schneller, als man es sich bewusst ist: Termindruck , Ärger, Überanstrengung, Dauerkonflikte, nagende Frustrationen, Geldsorgen, Mehrfachbelastungen, Perfektionismus… Wir hecheln unseren Verpflichtungen nach und leben ständig auf der Überholspur.
Für diese modernen Stressfaktoren aber ist unser Körper nicht gerüstet. Unser biochemisches Alarmsystem kennt darauf nur eine Reaktion: «Achtung: Gefahr!» Ob die Bedrohung nun von Dauerstress oder einem überfüllten Terminkalender kommt, ist ihm egal. So oder so ordnet er körperliche Mobilmachung an: Adrenalinausstoss, erhöhter Puls, Muskelanspannung.
Kommen geeignete Bewältigungsstrategien wie körperliche Betätigung, Pausen, Entspannung oder Konfliktlösungen nicht zum Einsatz, verharren Nerven und Muskeln in einem permanenten Spannungszustand – einem Gummiband gleich, dass durch die ständige Überdehnung seine Elastizität verliert. Klar, dass sich Körper und Seele irgendwann zu wehren beginnen. Und die Alarmzeichen haben mittlerweile auch einen medizinischen Namen: früher psychosomatische, heute somatoforme Störungen genannt – Krankheitssymptome ohne organische Ursache.
Die körperlichen Alarmglocken schrillen unterschiedlich: innere Unruhe, Reizbarkeit, Schlafstörungen, Atemprobleme, Konzentrationslöcher, Kopfschmerzen, Rückenprobleme, Herz- und Kreislaufstörungen, Ohrensausen, sexuelle Unlust, Panikattacken.
Die totale Erschöpfung kam schleichend: Sie verabredete sich immer weniger mit Freundinnen, trat aus dem Sportklub aus und verbrachte immer mehr Zeit mit «Löcher-in-die-Luft-Starren». «Meine gesamte Energie ging für die Bewältigung der alltäglichen Verpflichtungen drauf. Für alles andere reichte die Kraft nicht mehr.» Durchbeissen, sagte sie sich.
Obwohl Brigitte todmüde war, schlief sie immer schlechter. Sie bekam Ekzeme und eine Erkältung nach der anderen, die schliesslich in eine chronische Bronchitis mündeten. Sie war zunehmend freudlos und gereizt, was ihr nagende Schuldgefühle verursachte.
«Ich wollte unbedingt funktionieren.»
Brigitte F., alleinerziehende Mutter von drei Kindern
Nur nicht schlappmachen, hämmerte sie sich ein, denn wer würde sonst die Kinder versorgen? Wenn es unerträglich wurde, schluckte sie Schmerz- oder Entspannungstabletten. «Ich wollte unbedingt funktionieren. Aber immer häufiger hatte ich dieses beängstigende Gefühl, das Leben wie durch eine Milchscheibe zu betrachten. Das versetzte mich jedesmal in Panik.»
Nach Schulproblemen ihres Ältesten, einem Streit mit ihrer Mutter und einem Finanzengpass passierte das Unausweichliche: Brigitte brach zusammen, körperlich und psychisch. Aufstehen konnte sie nicht mehr. Wollte auch nicht mehr. Die Spitaldiagnose lautete: Kreislaufkollaps . Noch erschreckender die Diagnose des Psychologen: schwere Erschöpfungsdepression mit Angststörung.
Nach zweimonatigem Klinikaufenthalt machte Brigitte eine Kurskorrektur in ihrer Lebenseinstellung: «Die äusseren Anforderungen sind zwar dieselben geblieben, meine inneren aber habe ich reduziert. Heute kann ich besser Hilfe fordern und annehmen.» Sie versucht, sich selber Gutes zu tun. «Aber das ist gar nicht so einfach. Ich muss mir Genuss, Entspannung und Lebensfreude regelrecht antrainieren.»
Brigitte ist keine Ausnahme. Erschreckend viele Menschen – so eine Studie des Max-Planck-Instituts – beissen sich auch dann noch durch, wenn sie längst in Behandlung gehörten. Statt rechtzeitig ein taugliches Stressmanagement zu erlernen, warten viele zu lang auf «bessere Zeiten». In der Regel vergehen zehn bis zwölf Jahre, bevor ein Stresspatient mit somatoformen Störungen spezifische Hilfe bekommt.
«Wenn sich die Burnout-Spirale erst einmal in Gang gesetzt hat, ist es schwierig, ihr wieder zu entkommen», sagt Psychologe Michael Stark. Denn mit der persönlichen Energiebilanz verhalte es sich wie mit dem Bankkonto: «Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt.» Und er verweist auf die banalen, aber wirksamen Regeln: Entspannung, körperliche Bewegung, Zeitinseln schaffen, lachen, sich in Gelassenheit üben. «Die meisten kennen das Rezept, aber sie befolgen es nicht.»
Abgesehen von menschlichem Leid verursacht unbewältigter Stress auch einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden: Gemäss einer Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hat die Schweizer Wirtschaft den Stress ihrer Arbeitnehmer mit jährlich 4,2 Milliarden Franken zu bezahlen – werden die Arbeitsunfälle dazugezählt, verdoppelt sich die Summe. Und bei der Invalidenversicherung machen die Rentenbezüger mit psychischen Erkrankungen bereits 30 Prozent aus.
Auch die Medikamentenstatistik zeugt von zunehmendem seelischem Infarkt: Der inländische Umsatz von Antidepressiva hat sich in den letzten sechs Jahren von 41 auf 120 Millionen Franken verdreifacht. Hinzu kommen alle rezeptfreien Trübsalkiller – ganz zu schweigen vom gefährlichen Stressabtöter Nummer eins: Alkohol.
Henry Kissinger soll einmal gesagt haben: «Nächste Woche kann es keine Krise geben, mein Terminkalender ist bereits voll.» Irrtum: Die Krise kommt nur bei vollem Terminkalender und somit immer ungelegen.