«Gravierende Änderungen für die Betroffenen»
Aus dem Erbe müssen künftig EL-Schulden beglichen werden. Viel drastischer aber wirke sich die EL-Reform auf die bedürftigen Rentnerinnen und Rentner aus, sagt Sozialversicherungs-Expertin Anita Hubert im Interview.
Veröffentlicht am 16. Oktober 2019 - 18:50 Uhr
Im Frühling beschloss das Parlament eine Reform der Ergänzungsleistungen (EL). Nun sorgt die neu eingeführte Vererbung von EL-Schulden für Aufruhr (siehe Beitrag aus «10vor10»). Im Interview beantwortet die Beobachter-Expertin für Sozialversicherungen, Anita Hubert, die wichtigsten Fragen dazu. Und erklärt, wieso die Reform noch viel gravierendere Auswirkungen auf EL-Bezüger mit sich bringt.
Beobachter: Ab 2021 müssen Erben Ergänzungsleistungen von Verstorbenen zurückzahlen, wenn das Erbe 40'000 Franken übersteigt. Wieso hat das Parlament diese Änderung beschlossen?
Anita Hubert: Die Ausgaben des Bundes und der Kantone für die Ergänzungsleistungen haben sich in den letzten 17 Jahren mehr als verdoppelt, im Jahr 2017 betrugen die Auslagen 4,9 Milliarden. Dies, weil in der Schweiz immer mehr Menschen im AHV-Alter leben und diese oft EL für die Finanzierung der Pflegeheime benötigen. Das Parlament will mit der Revision Kosten einsparen. Um das zu erreichen, hat es verschiedene Änderungen beschlossen, die EL-Rückzahlung aus dem Erbe
ist nur eine davon. Andere betreffen EL-Bezüger bereits zu Lebzeiten. Das belastet genau diejenigen, die Unterstützung eigentlich am nötigsten haben.
Gilt die Änderung bei der Erbschaft auch dann, wenn man ein Erbe ausschlägt?
Verzichtet jemand auf sein Erbe, geht sein Anteil am Betrag von 40'000 Franken an die übrigen Erben. Eine Ausschlagung eines Erbes macht generell dann Sinn, wenn das Erbe zum Beispiel überschuldet ist. Doch dann hätte auch die EL-Stelle nichts bekommen. Eine Ausschlagung bei einem unverschuldeten Erbe macht keinen Sinn, da die Kinder der EL-Bezüger ihren Anteil der 40'000 Franken ja trotzdem erhalten und erst der darüberhinausgehende Teil für die Rückzahlung der EL verwendet wird. Sie erben also keine Schulden, sondern Ihr Erbe wird unter Umständen einfach kleiner.
Wen trifft diese Änderung am härtesten?
Treffen wird dies vor allem Erben von denjenigen EL-Bezügern, die noch im eigenen Haus wohnen. Solange die EL-Bezüger leben, wird ihr Haus nach dem Steuerwert bewertet, nach ihrem Tod aber nach dem Marktwert. Letzterer ist in den meisten Fällen höher. Deshalb ist das Vermögen plötzlich grösser als zu Lebzeiten des EL-Bezügers und damit auch das Erbe. Möglicherweise kann man dann die Rückforderung der EL-Stelle als Erbe nicht begleichen und verliert dadurch das von den Eltern geerbte Haus
.
Steigt damit nicht der finanzielle Druck auf ältere Menschen – es will ja niemand die Nachkommen belasten?
Es ist ja keine Belastung der Nachkommen, sondern es ist das Ersparte der EL-Bezüger, das an die Behörde zurückbezahlt wird. Die Nachkommen müssen nicht aus dem eigenen Sack EL zurückbezahlen.
Was raten Sie betroffenen Personen?
Allenfalls kann eine frühzeitige Übergabe der Liegenschaft an die Erben sinnvoll sein, zum Beispiel zusammen mit der Einräumung eines Wohnrechtes. Mit dieser Form können die Erben von einer Schenkungsminderung profitieren (mehr dazu bei Guider).
Was für weitere Auswirkungen erwarten Sie von diesem neuen Gesetz?
Das Gesetz beinhaltet noch einige Änderungen, die für mich viel gravierender sind, als die Rückerstattung durch die Erben. Änderungen, die die EL-Bezüger direkt in ihrem Leben erfahren. Denn EL-Bezüger leben heute nicht auf grossem Fuss
– die Ergänzungsleistungen sind knapp berechnet und das Parlament hat mit der Revision auch bei den Bezügern selber gespart:
- Weniger Geld für Kinder
Der Lebensunterhalt für Kinder unter 11 Jahren von EL-Bezügern wird von 840 auf 590 Franken drastisch gesenkt. Das gilt vor allem für die IV-Rentner unter den EL-Bezügern.
- Freibetrag wird kleiner
Bisher hat ein einzelner EL-Bezüger einen Freibetrag von 37'500 Franken Vermögen, der nicht in der EL-Rechnung berücksichtigt wird. Neu sind dies aber nur noch 30'000 Franken. Bei Ehepaaren waren es bisher 60'000 Franken, künftig sind es 50'000.
- Grössere Ausgaben werden bestraft
Heute werden bei den EL nur Gelder aufgerechnet, die ein EL-Bezüger verschenkt hat. Neu werden mit der Revision auch Gelder in die Rechnung miteinbezogen, die der EL-Bezüger grosszügig ausgegeben hat. Zum Beispiel wenn er in den Jahren bevor er überhaupt EL bezogen hat, mehr als 10'000 Franken jährlich aus seinem angesparten Vermögen verbraucht hat. Ein verschwenderischer Lebensstil hat für zukünftige EL-Bezüger somit Folgen.
Bringt die Reform auch positive Änderungen?
Ja, und zwar bei den Mietzinsen. Seit 2001 wurde die Mietzinshöhe für Ergänzungsleistungsbezüger nicht mehr angepasst – dabei sind die Mieten allein von 2001 bis 2012 um 21 Prozent gestiegen, wie das Bundesamt für Sozialversicherungen berechnet hat. Und seither noch mehr. Das Parlament hat dies nun nach regionalen Kriterien nachgeholt.
EL-Bezüger im Konkubinat werden jedoch nicht von der Mietzinserhöhung profitieren, denn neu wird die Anzahl im Haushalt lebenden Personen miteinberechnet (zum Guider-Merkblatt).
Ab wann gelten die Neuerungen?
Erhöhungen (zum Beispiel für Mietzinse) werden ab dem 1. Januar 2021 sofort erfolgen. Wenn sich bei EL-Bezügern Kürzungen ergeben, wird diesen eine Übergangsfrist von 3 Jahren gewährt, um sich an das verminderte Budget zu gewöhnen. Die Regelung mit der Rückzahlung aus dem Erbe gilt ebenfalls erst für EL-Bezüge ab 2021.
Seit 2021 gibt es Änderungen bei den Ergänzungsleistungen. Das Merkblatt «EL-Revision» fasst für Mitglieder des Beobachters zusammen, welche Mietzinsmaxima nach Region gelten, welche Grenzen beim Vermögen beachtet werden müssen und was sich für Paare im Konkubinat verändert hat.
27 Kommentare
Würde der Eigenmietwert bei den Steuern wegfallen, man hat ja das Geld NICHT, müssten viele keine Ergänzungsleistungen beziehen.
Sie Steuer ist doppelt so hoch wie der Krankenkassenbeitrag den man von der EL erhält !!!
Klammheimlich wurde dieses Gesetz in Bern beschlossen, und niemand hat das Referendum ergriffen!! Es trifft vorallem die weniger begüterten Mitbürger. Es zeigt sich wieder einmal was "bürgerliche" Politik anrichtet. Ich erwarte, dass dagegen das Referendum ergriffen wird, wenn unsere "Volksvertreter in Bern" endlich aufwachen und die Auswirkungen dieses verheerenden Gesetzesbeschlusses feststellen! Die EL ist eine Versicherung, und Leistungen einer Versicherung sind in der Regel nicht rückforderbar!
Leider ist die Aufzählung unvollständig, weil ein ebenfalls gravierender Aspekt durchs Parlament hineingeschmuggelt wurde - die Ausweitung des Begriffs "Vermögensverzicht"! Dieser greift bereits viel weiter als vorher, wie aktuell bei mir, mit der sog. Beweislastumkehr der EL-Stellen. Zeitlich unbefristet in die Vergangenheit zurückgerechnet muss jede Ausgabe belegt werden können, ansonsten dieser Abzug die EL auf ein paar Fränkli bis Soz-Hilfe-Niveau zusammenschrumpfen lässt, mithin Fr. 1000.- und mehr pro Monat! Eine gesellschaftspolitisches Desaster sondergleichen! Nur wegen der Mietzinsmaxima wurde kein Referendum ergriffen, ganz schwache Leistung der Linken/Gewerkschaften und Verbände und ein Verrat an ihren Grundwerten der sozialen Gerechtigkeit!!
Die Schweiz entwickelt sich immer mehr in Richtung eines Staates für Millionäre. Nicht-Vermögende sind je länger deso mehr unerwünscht und sollten im Alter Platz machen zur Aufnahme fremder Millionäre die sich hier etablieren möchten.
Das kommt davon, wenn im Parlament nur noch Gut- bis Bestverdienende sind, denen ist es egal, was mit der Mehrheit der über 60+ im weiteren Lebensabschnitt passiert. Das sind unsere Volksvertreter!!