Stopp, der Sozialdienst übernimmt
Wer die Prämien nicht zahlt, landet womöglich auf einer schwarzen Liste. Das bedeutet Behandlungsstopp. Genau da wird der Kanton Thurgau aktiv.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2018 - 19:24 Uhr,
aktualisiert am 25. Oktober 2018 - 18:19 Uhr
Türknallen, Tränen, Schimpftiraden – das muss Astrid Artho bei den Sozialen Diensten in Sirnach TG gelegentlich über sich ergehen lassen. Trotzdem sagt sie: «Die schönen Momente überwiegen. Viele sind dankbar, dass wir ihnen helfen und sie ihr Leben wieder in den Griff kriegen.»
Artho ist in der Gemeinde für das KVG-Case-Management zuständig: Sie kontaktiert und berät Leute, die ihre Krankenkassenprämien nicht zahlen und nun betrieben werden. Im Kanton Thurgau kommen sie auf eine Liste, und die Kassen kommen nur noch im Notfall für medizinische Behandlungen auf. Artho soll Betroffenen helfen, sich aus dieser Misere zu befreien. «Manche sind einfach überfordert mit administrativen Aufgaben. Ihnen ist oft nicht klar, was es heisst, wenn sie keine Prämien zahlen.»
Die Listen säumiger Prämienzahler – im Volksmund: schwarze Listen – sind seit 2012 im Krankenversicherungsgesetz (KVG) vorgesehen. Kantone können sie führen, müssen aber nicht. Die Idee dahinter: Die Beschränkung auf Notfallbehandlungen soll abschreckend wirken.
Die Kantone haben ein Interesse daran, dass möglichst alle ihre Prämien zahlen. Wenn es jemand nicht tut und es zu einem Verlustschein kommt, müssen am Ende die Kantone 85 Prozent der offenen Forderungen begleichen. Der Verlustschein bleibt bei der Krankenkasse. Die Schulden sind somit nicht getilgt. Falls die Kasse das Geld irgendwann doch noch eintreiben kann, muss sie nur die Hälfte davon an den Kanton zurückzahlen.
Die Mittel zur Deckung der ausstehenden Prämien nehmen viele Kantone aus dem Topf für Prämienverbilligungen. Diese wären eigentlich für Leute gedacht, die in wirtschaftlich bescheidenen Verhältnissen leben. Bei den säumigen Zahlern ist das nicht immer der Fall.
Neun Kantone haben schwarze Listen eingeführt. Die Erfahrungen sind durchzogen: Es gibt immer mehr säumige Zahler, schwarze Listen hin oder her. Ausserdem verursachen sie hohe administrative Kosten. Und es gab auch schon tragische Einzelfälle. Letztes Jahr zum Beispiel starb im Kanton Graubünden ein aidskranker Mann, weil die Krankenkasse aufgrund der Leistungsbeschränkung seine Medikamente nicht mehr bezahlte
. Die Kasse taxierte die Sache nicht als Notfall.
«Als Arzt und Mensch kann ich es schlicht nicht verantworten, dass man jemandem, der Hilfe braucht, nicht hilft.»
Angelo Barrile, SP-Nationalrat und Arzt
Graubünden, Solothurn und Schaffhausen wollen die Listen wieder abschaffen oder haben es schon getan, in anderen Kantonen wird darüber diskutiert. Dem Zürcher SP-Nationalrat und Arzt Angelo Barrile wäre es am liebsten, die Listen würden verboten. In einer Motion fordert er, den betreffenden Artikel aus dem Krankenversicherungsgesetz zu streichen. «Es geht einzig darum, Leute zu bestrafen, ohne Rücksicht auf Verluste. Als Arzt und Mensch kann ich es schlicht nicht verantworten, dass man jemandem, der Hilfe braucht, nicht hilft.»
Es sei praktisch unmöglich, den Notfall sinnvoll zu definieren. «Selbst Kopfschmerzen können ein Notfall sein, wenn eine Hirnblutung dahintersteckt. Um das herauszufinden, muss man den Patienten aber erst untersuchen.» Auch bestimmte Prostataerkrankungen seien vielleicht im Moment kein Notfall, können unbehandelt aber Jahre später zu einem werden .
Muss man also einen gewissen Anteil von Versicherten in Kauf nehmen, die das System vielleicht ausnützen? Oder gäbe es stattdessen eine Möglichkeit, die schwarzen Listen sinnvoll einzusetzen? Im Kanton Thurgau ist man davon überzeugt. Die Sache mit den Verlustscheinen ist hier anders geregelt: Nicht der Kanton kommt dafür auf, sondern die Gemeinden. Der Kanton übernimmt aber einen Teil der Kosten, wenn die Gemeinde es schafft, jemanden zum Zahlen zu bringen, bevor ein Verlustschein entsteht.
Genau das ist der Job von Astrid Artho in Sirnach. Zuerst schickt sie allen Personen auf der Liste einen Brief, weist sie darauf hin, dass die Krankenkasse nur noch für Notfälle bezahlt, und lädt sie zu einem Gespräch ein. Die meisten reagieren nicht.
Nach vier Wochen erhalten die säumigen Zahler wieder Post von der Gemeinde. Diesmal mit dem Hinweis, dass eine Anzeige wegen Nichtbefolgens einer behördlichen Verfügung droht, wenn sie wieder nicht reagieren. Bei manchen klopfen alsbald tatsächlich Uniformierte an die Tür
. Bei anderen trifft unterdessen der Verlustschein ein. Etwa eine bis drei von zehn Personen erscheinen aber zum Gespräch – und die meisten seien hinterher dankbar, sagt Astrid Artho. «Viele können zunächst nicht viel dafür, dass sie in diese Lage geraten sind.»
«Manchen ist nicht klar, was es heisst, wenn sie die Prämien nicht zahlen.»
Astrid Artho, Soziale Dienste, Sirnach TG
Häufig kommen sie laut Artho nach einer Scheidung oder nach einem Jobverlust
in einen finanziellen Engpass. Andere hätten einfach Mühe im Umgang mit Geld. Manchmal liege es sogar nur daran, dass jemand nicht den beigelegten Einzahlungsschein benutze und
das Geld falsch verrechnet werde. Die Gemeindeangestellte kontaktiert dann die betreffende Kasse, um den Fehler zu korrigieren, wartet auch mal eine halbe Stunde in der Telefonschleife.
Den Betroffenen gibt sie Tipps. Dem einen rät sie, ein Lastschriftverfahren einzurichten, den anderen weist sie auf die Schuldenberatungsstelle oder andere Angebote der Caritas hin. Manchmal stellt Artho auch fest, dass die Betroffenen keine Prämienverbilligung eingefordert haben, obwohl sie Anspruch hätten. «Manche wissen schlicht nicht, was das ist.»
Wenn die Aussicht besteht, dass die finanzielle Situation sich zum Positiven verändern lässt, übernimmt die Gemeinde sämtliche Ausstände bei der Krankenkasse. Dafür müssen Betroffene aber zuerst drei Monate lang die laufenden Prämien zahlen. Zudem verpflichten sie sich, die Schulden bei der Gemeinde in Raten abzustottern. Zu Türknallen und bösen Worten kommt es meist dann, wenn Betroffene uneinsichtig sind. «Wir würden das falsche Signal aussenden, wenn wir die Ausstände auch begleichen würden, wenn jemand nicht bereit ist, die laufenden Prämien zu zahlen», sagt Artho.
Sirnach gab in den letzten Jahren rund 200'000 bis 300'000 Franken jährlich aus, um Prämienausstände zu begleichen, bevor es zum Verlustschein kommt. 40 bis 70 Prozent dieser Kosten übernimmt der Kanton, und rund 65'000 bis 95'000 Franken pro Jahr fliessen durch die Ratenzahlungen zurück in die Gemeindekasse.
Nicht alle Thurgauer Gemeinden sind mit dem gleichen Elan bei der Sache. «Das Case-Management setzt viel Know-how voraus und ist aufwendig. Gerade kleinere Gemeinden sind hier im Nachteil», sagt Kurt Baumann. Er ist Gemeindepräsident von Sirnach und steht dem Verband Thurgauer Gemeinden vor. Sirnach mit seinen rund 7800 Einwohnern leistet sich eine halbe Stelle für das KVG-Case-Management. Im Kanton Aargau, der ebenfalls eine schwarze Liste führt, wurde eine ähnliche Lösung von den Gemeinden abgelehnt – wegen des Aufwands. Baumann ist aber überzeugt, dass der sich lohnt: «Die Liste säumiger Prämienzahler ist nur in Kombination mit Case-Management sinnvoll.»
Die Zahlen sprechen für sich: Die Thurgauer Gemeinden gaben 2016 etwa 3 Millionen Franken für Krankenkassen-Verlustscheine aus. Das sind CHF 11.10 pro Einwohner – weniger als in den meisten anderen Kantonen. Zum Vergleich: Im Kanton Solothurn waren es über 9 Millionen respektive CHF 34.50 pro Kopf, im Kanton St. Gallen fast 15 Millionen oder CHF 29.60, im Aargau 16 Millionen oder CHF 24.10 pro Kopf.
Wenn sich der Schuldenberg anhäuft, nutzen meist dubiose Sanierungsbüros die Unwissenheit der Schuldner. Beobachter-Mitglieder erfahren, wie das Verfahren eines Privatkonkurses aussehen könnte, welche Rechte bei einer Pfändung gelten und erhalten in einer Schuldenberatung weitere Handlungsanweisungen.