Zu hoch eingeschätzt – Schuldenberg vererbt
Die Berner Steuerverwaltung schätzt einen Alkoholkranken jahrelang auf ein Fantasieeinkommen ein. Er stirbt – und hinterlässt 400'000 Franken Schulden.
Veröffentlicht am 21. November 2017 - 15:22 Uhr,
aktualisiert am 21. November 2017 - 14:19 Uhr
Fritz Bangerter gab es zweimal. Der eine war Alkoholiker und fristete ein trostloses Dasein im Stöckli eines verwahrlosten Bauernhofs im Berner Seeland, im 600-Seelen-Dorf Wengi bei Büren. Er arbeitete nicht mehr, das Viehhändlerpatent hatte er vor Jahren verloren, Tiere durfte er auch nicht mehr halten.
Seine Frau hatte sich bereits 1999 scheiden lassen und zog mit den zwei Söhnen weg. Bangerter lebte mit einer Freundin zusammen. «Wir schlugen uns mehr schlecht als recht mit meinen bescheidenen Einkünften durch. Er verdiente nichts», sagt sie. Zeitweise suchten sie in Abfallcontainern nach Essbarem. Sozialhilfe bezog Bangerter nie, mit dem Staat wollte er nichts zu tun haben. Briefe von Ämtern beantwortete er nicht. Im September 2017 starb er, gerade mal 57 Jahre alt. Leber und Bauchspeicheldrüse machten nicht mehr mit. Krebs.
Der andere Fritz Bangerter existiert nur auf Papier, in den Akten der Steuerbehörden. Dieser Bangerter war ein sehr erfolgreicher Viehhändler. Einer, der über 10'000 Franken im Monat verdiente und auf bis zu 100'000 Franken steuerbares Einkommen kam.
So zumindest die Einschätzungen des Berner Steueramts. Denn Bangerter reichte keine Steuererklärungen ein. Er hätte über 20'000 Franken Steuern bezahlen müssen, jedes Jahr. Bei seinem Tod schuldete er dem Staat 400'000 Franken – allein für die Steuern. Hinzu kommen enorme Sozialversicherungsbeiträge, die aus den fiktiven Einkommen errechnet wurden.
Jann ist einer der beiden Söhne von Fritz Bangerter. Er war sieben, als er mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder aus dem Stöckli auszog. «Es ging nicht mehr. Der Alkohol, die Depressionen und der schwierige Charakter des Vaters drohten die Familie zu zerstören», sagt der heute 25-Jährige. Er sitzt auf dem alten Sofa im Stöckli. Hier hatte sein Vater gehaust, bis er starb. Es ist ein kalter Novembertag, Feuchtigkeit dringt in die kleine Wohnung. In einer Ecke steht ein elektrischer Heizlüfter. «Damit heizte mein Vater. Öl wollte ihm niemand mehr liefern.»
Hunderte Briefe fand der Sohn in der Wohnung. Viele ungeöffnet, die meisten von Ämtern. Die Freundin hatte den Vater wiederholt darauf angesprochen. «Darüber reden wollte er nicht, mit niemandem. Da war er ganz Patron.» Falscher Stolz und die Unfähigkeit, Hilfe zu suchen oder anzunehmen, hatten alles verschlimmert.
Jann Bangerter erinnert sich an vermeintlich bessere Zeiten. Die Ausflüge mit dem Vater. «Er wollte mit Bauern ins Gespräch kommen, um ihnen vielleicht ein Schwein oder ein Rind zu verkaufen.» Doch schon damals hätten die meisten Geschäfte mit einem Verlust geendet. Wegen der Trinksucht verlor er später das Billett – Viehhandel war nicht mehr möglich.
Der Betreibungsweibel kam regelmässig vorbei, fand aber nichts Pfändbares. Die Polizei übergab Bangerter nicht abgeholte Amtspost. Der Schuldenberg wuchs weiter. Dennoch zeichnete die Steuerverwaltung weiter am Bild des erfolgreichen Viehhändlers. Um die Jahrtausendwende schätzte sie sein steuerbares Einkommen auf 77'000 Franken.
«Das war für die Branche und das Alter des Steuerpflichtigen ein realistisches Einkommen», so Hansjörg Herren, Leiter der Region Seeland bei der Steuerverwaltung des Kantons Bern. Bangerter wehrte sich nicht, weder gegen diese noch gegen spätere Einschätzungen. 2007 erbte er einen grösseren Betrag. Das Geld wurde sofort beschlagnahmt, um Schulden zu bezahlen. Danach erhöhte das Steueramt das fiktive Einkommen des Viehhändlers massiv. 27'000 Franken Steuern hätte er 2008 abliefern müssen, für ein steuerbares Einkommen von 100'000 Franken. Bis zu seinem Tod flatterten Rechnungen in dieser Grössenordnung ins Stöckli – und blieben liegen.
«Ich mache niemanden verantwortlich für das Schicksal meines Vaters», sagt der Sohn. «Ich verstehe aber nicht, warum man einer gescheiterten Existenz das Leben mit absurd hohen Steuerforderungen zusätzlich erschwert hat.» Steuerchef Herren bedauert die zu hohen Einschätzungen, verteidigt aber das Vorgehen: «Wir hatten ja nie Hinweise auf eine Fehleinschätzung erhalten. Weder der Betroffene noch die Gemeinde oder andere Personen meldeten sich bei uns.»
Der Kanton setzte aber auch nie eigene Abklärungen in Gang. Genau das müssen Steuerbehörden gemäss einem neuen Bundesgerichtsentscheid aber tun. Sonst riskieren sie, dass ihre Einschätzungen für willkürlich erklärt werden (siehe Infobox unten «Steuerbehörde will künftig abklären»). Der Sohn von Fritz Bangerter hat darum ein Gesuch für die Neuberechnung der Steuern eingereicht. Der Entscheid steht noch aus.
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Die Gemeinde Wengi könne sich zum Fall nicht äussern, sagt Gemeindeschreiberin und Finanzverwalterin Maja Bächler. Gemäss Gesetz sei der Kanton für die Steuereinschätzungen zuständig. Aber auch die Gemeinde wusste, dass ihr Bürger absurd hoch eingeschätzt wurde. Dass er einer war, der längst keiner Arbeit mehr nachging. 2014 machte die Gemeinde sogar eine Gefährdungsmeldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb). Aber auch über diesen Weg will das kantonale Steueramt keine Hinweise erhalten haben.
Was aus der Gefährdungsmeldung geworden ist, bleibt unklar. Die Kesb will selbst den Sohn nicht darüber informieren, obwohl er vor dem Tod seines Vaters eine Generalvollmacht erhalten hatte. «Es hiess, die Daten seien höchstpersönlich und darum auch mir nicht zugänglich», sagt Bangerter. Die Freundin des Verstorbenen kann sich nicht an einen Besuch der Kesb erinnern. «Fritz hätte das sicher gesagt.» Vielleicht schickte die Behörde einen Brief. Einen, der wie alle Behördenschreiben ungeöffnet liegen blieb.
Im Kanton Bern leben 627'000 steuerpflichtige Personen. Etwa 25'000 werden pro Jahr vom Amt rechtskräftig eingeschätzt, weil sie keine Steuererklärung eingereicht haben. Eingeschätzte, die sich wehren wollen, hatten bis anhin nur eine Chance auf spätere Korrektur, wenn sie belegen konnten, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage waren, eine Beschwerde einzureichen.
Im Sommer aber beurteilte das Bundesgericht einen Fall aus dem Kanton Zürich (BGE 2C_679/2016 vom 11. Juli 2017) und erklärte die viel zu hohen Einschätzungen für nichtig. Eine Einschätzung müsse dem realen Sachverhalt und der materiellen Wahrheit möglichst nahe kommen, hielten die Lausanner Richter fest. Dazu seien die Behörden – je nach Fall – auch zu eigenen Abklärungen verpflichtet.
«Der Kanton Bern arbeitet an Vorgaben für Abklärungen, wenn ein Steuerpflichtiger mehrfach keine Steuererklärung einreicht», sagt Hansjörg Herren, Leiter der Region Seeland bei der Steuerverwaltung Bern. Das müsse in Absprache und Koordination mit den Gemeinden geschehen.
«Bei Selbständigen wird es aber weiterhin schwieriger sein, ein realistisches Bild der Einkommenssituation zu erhalten. Hier können wir uns nicht einfach bei der Sozialversicherung nach einbezahlten AHV-Beiträgen erkundigen, wie wir das bei Angestellten tun», so Herren.
Zum aktuellen Fall in Wengi will er sich wegen des hängigen Gesuchs – trotz Befreiung vom Steuergeheimnis – nicht weiter äussern.
Der Sohn könnte das Erbe ausschlagen, dann wäre die Sache mit den Schulden für ihn erledigt. Doch er und sein Bruder haben einen Traum. Sie wollen den verwahrlosten Hof in der Familie behalten. Das können sie aber nur, wenn die hohen Steuereinschätzungen revidiert werden.
Der Hof gehört seit Jahrzehnten einer Erbengemeinschaft mit mehr als einem halben Dutzend Berechtigter. Fritz Bangerter war einer von ihnen. «Für einen rentablen Landwirtschaftsbetrieb ist der Hof zu klein. Aber ein Kurhof wäre für uns denkbar. Ein Ort, wo sich Leute in einer Lebenskrise oder mit einem Burn-out erholen können», sagt Medizinstudent Jann Bangerter. Ein Ort, der Menschen vielleicht ein Schicksal erspart, an dem sein Vater zerbrochen ist.
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