Was erhalten Geschädigte als Genugtuung?
Wer einen Schaden erleidet, hat eventuell Anrecht auf eine Entschädigung. Meist ist sie aber kleiner als erwartet.
Veröffentlicht am 18. Januar 2018 - 10:38 Uhr
Der Zahnarzt von Irina Isler* hat schlecht gearbeitet. Er hat ihr mangelhafte Zahnprothesen eingesetzt. Damit beginnt Islers Martyrium. Ein Jahr lang hat sie Schmerzen beim Essen, kann nicht normal kauen und sprechen. Muss ihr der Zahnarzt eine Genugtuung zahlen?
Ja, sagte das Gericht. Es sprach ihr ein Schmerzensgeld von 1000 Franken zu. Das Gericht hielt fest, man willige als Patient zwar in die Behandlung ein, nicht aber in einen Kunstfehler.
Wenn das erlittene körperliche und seelische Leiden gravierend ist, kann man zusätzlich zum Schadenersatz eine Genugtuung fordern. Sie soll eine finanzielle Wiedergutmachung sein und den erlittenen Schmerz aufwiegen. Was aber gilt juristisch als gravierend? Jeder erlebt eine belastende Situation anders. Im Streitfall entscheidet daher der Richter, ob eine Genugtuung ausgerichtet wird.
Zahlen muss die Genugtuung der Verantwortliche für den Unfall respektive dessen Haftpflichtversicherung. Grundsätzlich gilt: Bei Körperverletzungen ist eine Genugtuung geschuldet, wenn die Verletzung bleibende Folgen hat, das Leben bedroht, einen längeren Spitalaufenthalt nötig macht oder eine längere Arbeitsunfähigkeit bedeutet. Bei psychischen Schmerzen wird auf das «Empfinden eines Durchschnittsmenschen» abgestellt, also keine messbare Grösse. Das macht die Sache nicht einfacher.
«Wer seine Beschwerden nicht zweifelsfrei nachweisen kann, muss damit rechnen, leer auszugehen», sagt der Zürcher Anwalt Silvio Riesen. Er vertritt regelmässig Geschädigte vor Gericht oder gegenüber Versicherungen. Riesen stellt fest, dass die Hürden bei Schadenersatz- und Genugtuungsforderungen generell höher sind als noch vor 10 oder 15 Jahren. «Vor allem bei Schmerzen und psychischen Problemen – etwa infolge eines Schleudertraumas oder einer Hirnverletzung – ist die Rechtsprechung streng.»
Wie aber will man Leid oder einen Verlust an Lebensqualität in bare Münze umrechnen? Eine konkrete Berechnungsmethode fehlt. Einzige rechtliche Vorgabe: Die Genugtuung muss angemessen sein, soll also weder lächerlich tief sein noch reich machen. Bei der Berechnung orientieren sich Richter an alten Fällen oder an den Suva-Tabellen (siehe weiter unten «So berechnet die Suva körperliche Schäden»).
Für die Genugtuung ermitteln Richter eine Basissumme, je nach konkreter Beeinträchtigung. Dann passen sie diesen Betrag den besonderen Umständen und dem individuellen Leid an – sie reduzieren ihn eventuell, wenn der Geschädigte mitschuldig ist.
Dabei gilt: Vor dem Gesetz sind alle gleich. Egal, ob der Betroffene Milliardär ist oder Sozialhilfe bezieht .
Doch mit dieser Gleichbehandlung nehmen es die Richter dann woanders nicht so genau. So werden Genugtuungen oft gekürzt, wenn der Verletzte seinen Zustand nicht mehr ganz wahrnehmen kann – wegen einer Behinderung, etwa einer Hirnverletzung mit Wachkoma. Das ist problematisch.
Wie hoch eine Genugtuung oder ein Schmerzensgeld ausfallen kann, ist Sache des Richters. Beobachter-Mitglieder sehen im Merkblatt «Genugtuung – wie hoch kann sie ausfallen?» neun Berechnungsbeispiele und wie Streitigkeiten in der Gerichtspraxis erledigt werden.
Genugtuungsprozesse sind ohnehin unberechenbar. «Oft weiss man bei Einleitung der Klage nicht, was am Ende rauskommt», sagt Anwalt Riesen. Viele Gerichte sind mit der komplizierten Materie wenig vertraut. Das macht Verfahren lange und teuer.
Da ist es wenig erstaunlich, dass fast alle Genugtuungsfälle aussergerichtlich erledigt werden, wie Mirjam Eberhard sagt, Sprecherin der Versicherung AXA Winterthur.
Spätestens wenn die Offerte der Versicherung auf dem Tisch liegt, sollte man sich an einen spezialisierten Anwalt wenden . Er kann abschätzen, ob das Angebot angemessen ist.
Schwindelerregend hohe Schmerzensgelder, wie man sie in den USA kennt, gibt es in der Schweiz nicht. Auch im Vergleich mit 13 EU-Staaten landet die Schweiz auf dem zweitletzten Platz. Mehr als 150'000 Franken Genugtuung sind selten – selbst für schwerste Verletzungen wie Para- oder Tetraplegie.
In der Schweiz ist man mit einer Summe von 250'000 Franken derzeit am Limit. So viel erhielt ein Mädchen, das von seinem Vater mehrfach angeschossen wurde, dabei schwere Verletzungen erlitt und seither seitlich gelähmt ist.
Die in der Schweiz zugesprochenen Summen seien zu tief, sagt Spezialist Silvio Riesen. AXA-Winterthur-Sprecherin Eberhard hält dagegen: Die Genugtuungssummen seien zwar niedriger als im Ausland, dafür seien hier die Schadenersatzzahlungen höher. Dabei geht es um Entschädigungen für den Erwerbsausfall sowie für den Haushalts- und Betreuungsschaden. Letzteres betrifft die Kosten, die bei einer Pflege zu Hause oder für eine Haushaltshilfe entstehen. Doch davon hat der Geschädigte nichts, sie widerspiegeln nur das hohe Preisniveau.
Vor rund 20 Jahren initiierte der Bundesrat eine Gesetzesänderung, die die Genugtuung hätte aufwerten sollen. 2009 verzichtete er aber auf die Revision. Seither werden die Genugtuungssummen zwar regelmässig kritisiert, konkrete politische Vorstösse gibt es aber nicht.
Wenn ein Unfall zu einer bleibenden Gesundheitsschädigung führt, zahlt die Unfallversicherung eine einmalige sogenannte Integritätsentschädigung. Ausgangsgrösse dabei ist der maximale versicherte Verdienst von 148'200 Franken (Stand 2017). Davon legt die Suva die Höhe der Entschädigung als Prozentsatz fest. Ihre Tabellen führen von A wie Armverlust (50 Prozent) bis Z wie Verlust der Zeugungsfähigkeit (40 Prozent) jede gesundheitliche Beeinträchtigung auf.
Darüber hinaus erhält das Opfer eventuell eine Genugtuung vom Verursacher. Ob und in welcher Höhe, muss ein Gericht entscheiden.
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