Der Stachel im Fleisch
Veganer wollen die Massenhaltung und Massentötung von Tieren stoppen. Warum provoziert das Fleischesser bis aufs Blut?
Veröffentlicht am 24. Oktober 2017 - 10:51 Uhr,
aktualisiert am 26. Oktober 2017 - 09:54 Uhr
Das Dutzend Veganerinnen und Veganer demonstrierte Ende August vor einem besonders beliebten Zürcher Grillstand, dem Sternengrill. «Fleisch ist Mord», schmetterten die Tierschützer den irritierten Wurstessern ins Gesicht. Und auf Flyern stand zu lesen: «Tiere sind Lebewesen, keine Lebensmittel.»
Der Spuk dauerte wenige Minuten. Einige Würste später kam der Shitstorm. Medien hatten über den Protest «militanter Veganer» berichtet, Kommentarspalten füllten sich mit Tiraden auf Missionare, mit Klagen über den Verlust letzter Freiheiten und der Anklage gegen die Sojaesser: Für sie würden Regenwälder abgeholzt und Ureinwohner vertrieben.
70 Prozent des Sojas werden zwar von Tiermästern importiert, in Tiermägen verdaut und mit viel Energieverlust in Fleisch umgewandelt. Doch emotionale Debatten sind nicht der Ort für rationale Argumente. «Wer kein Fleisch essen will, soll das tun. Aber die in Ruhe lassen, die Fleisch essen», wünschte sich eine Kommentatorin.
Veganer, Vegetarier und Fleischesser, die gemeinsam grillieren, jeder nach seinem Geschmack? Für viele eingefleischte Veganer ist der Verzicht aber nicht eine Frage des persönlichen Geschmacks. Er ist der Weg in eine Gesellschaft ohne Fleisch- und Milchindustrie. Der Verzicht ist darum politisch, provozierend und oft missionarisch.
Der 45-jährige Marc Steiner* lächelt zufrieden. Er hat den kleinen Spuk vor dem Zürcher Grill mitorganisiert. «90 Prozent der Menschen können Fleisch nur essen, weil sie gerade verdrängen, was sie tun», sagt er. Deshalb reagierten viele so emotional, wenn man sie mit der Massentierhaltung konfrontiere.
Auch Fleischesser wissen, dass ihr Steak ein Tier war. Und sie ahnen, dass es nach einem kurzen und vielleicht leidvollen Leben auf der Schlachtbank endete. Trotzdem bleibt ihnen kein Bissen im Hals stecken.
Wissenschaftler nennen es das «Fleisch-Paradox». Was gemeint ist, zeigen Experimente australischer Forscher. Bei Befragungen beschrieben Fleischesser Schafe und Rinder durchwegs als empfindsame und intelligente Wesen – solange sie auf einer Weide gezeigt wurden. Wenn sie aber im Zusammenhang mit der Massentierhaltung und Fleischproduktion zu sehen waren, war das plötzlich anders. Die gleichen Befragten wiesen den Tieren weniger «menschliche» Eigenschaften zu. Das macht das Fleischessen erträglicher – zumindest für sie.
Fleischesser reagieren oft emotional und irrational auf Kritik. Die US-Sozialpsychologin und Veganerin Melanie Joy erklärt das mit kultureller Prägung: «Menschen werden zu Veganern, indem sie eine Wahl treffen. Sie entscheiden sich bewusst gegen tierische Produkte.» Dafür hätten sie zuvor Argumente gefunden. Anders Fleischesser. Ihr Verhalten laufe meist unbewusst ab. «Die Menschen tun es, weil sie es so gelernt haben, weil sie es als normal und natürlich empfinden.»
Marc Steiner will weiter an solchen Gewohnheiten rütteln. Seinen richtigen Namen möchte er hier nicht lesen. Wegen der Bussen, die ihm für zwar friedliche, aber unbewilligte Aktionen drohen. Für Demos, Mahnwachen vor Schlachthöfen und – etwas ungewöhnlich – für improvisiertes Theater vor Fleischtheken.
«Wir Männer greifen dort jeweils unsere Frauen verbal an, beschimpfen sie als ‹Scheiss-Veganerinnen›. Kunden und Angestellte setzen sich dann meist für die Veganerinnen ein und beginnen gegen uns Pöbler zu argumentieren.» Steiner hofft, dass sich durch den Rollentausch auch in den Köpfen der Fleischesser etwas bewegt.
Anders die 27-jährige Andrea Monica Hug. «Ich will mit dem Veganismus niemanden mehr provozieren. ‹Schau, das Säuli stirbt wegen dir› zieht nicht.» Zu oft sei sie auf taube Ohren gestossen. Jetzt versucht sie es anders. Als sogenannte Influencerin inszeniert sie ihren veganen Lifestyle online. Sie inspiriert ihre Follower mit Fotos von veganem Essen und ihren Sportsessions.
Auffallend viele Influencer ernähren sich vegan. «Vegans of Instagram» nennen sich die fleisch- und milchfrei Glücklichen. Sie leben ihren Verzicht sehr unterschiedlich. Hug: «Man begegnet dem tätowierten Hipster, dem Fitnessmodel, veganen Sängerinnen und Schauspielern.»
Und Andrea Monica Hug, die für Lederschuhe wirbt und für eine Kosmetikmarke, die auch Tierversuche macht. «Das ist zwiespältig, das ist mir bewusst. Ich würde liebend gern ausschliesslich junge, vegane Start-up-Brands promoten, aber davon könnte ich als Influencerin realistisch gesehen nicht leben.»
Kritiker werfen ihr vor, sie sei eine egoistische Veganerin. «Ich will eben, dass es in erster Linie mir gut geht, körperlich und seelisch. Und genau darum verzichte ich auf Fleisch- und Milchprodukte. Und ich trage keinen Pelz», entgegnet sie.
Die letzte vegane Konsequenz ist nicht Hugs Ziel. «Wenn aber etwas mehr Leute weniger Fleisch essen würden, wäre ich noch glücklicher.» Ihre Botschaften kommen vor allem bei Jüngeren an. Mehr als 18'000 folgen ihr auf Instagram.
Jung ist auch Meret Schneider. Doch die 25-Jährige will nicht einfach ein veganes «Role Model» sein. Sie will politisch etwas bewegen. Und sie ist bis heute sauer auf ihr Umfeld – und sich selber. «Obwohl ich mich mitten im Naturschutzkuchen bewegte, schnallte ich es zu lange nicht.»
Das mit dem Fleisch und der Milch etwa. Damit eine Kuh Milch gibt, muss sie kalbern. Also bringt sie ein Kälbchen zur Welt, einmal pro Jahr. Männchen enden auf dem Teller – oder der Kadaversammelstelle, weil ihr Fleisch für die Aufzucht uninteressant ist. Wie in der Geflügelzucht, wo die männlichen Küken vergast werden, weil sie keine Eier legen.
Meret Schneider wollte schon immer die Welt verbessern. Für die Flüchtlinge, die Natur und vor allem die Tiere. Sie verbrachte viel Zeit auf einem Bauernhof, streichelte Hühner, bis sie in ihren Armen einschliefen, kümmerte sich um Kühe. Auf ihrem Teller landeten dann doch tierische Produkte: Fleisch, Eier und Käse. Bio vom Bauernhof nebenan, wegen der Tiere und der CO2-Belastung. Wie viele fand Meret Schneider das okay so. «Heute höre ich von fast allen, dass sie nur vom Biobauern kaufen. Wenn man sich aber die wenigen Prozent Marktanteil ansieht, merkt man: Da kann etwas nicht stimmen.»
Selbst Grüne und Umweltschützer seien unehrlich mit sich selber, wenn es um Fleisch gehe. «Das wollte ich nicht mehr mitmachen. Und ich will mit meinem Joghurtkonsum keine Kälbchen töten.» Meret Schneider sieht sich in einer besonderen Verantwortung. Als 14-Jährige gründete sie die Jungen Grünen in Grüt im Zürcher Oberland. Heute sitzt sie für die Partei im Gemeinderat von Uster.
Schneider will ein Stachel im Fleisch bleiben, auch für inkonsequente Umweltschützer. «Elektroautos fahren und energiesparende Kühlschränke kaufen, um dann Fleisch darin zu kühlen. Das ist völlig irrational. Der Fleischkonsum ist ja nicht nur unnötige Tierquälerei. Er ist auch Hauptfaktor für die Umweltverschmutzung.»
Um ein Kilo Fleisch zu produzieren, braucht es 5 bis 20 Kilo Futtermittel und bis zu 15'000 Liter Wasser. Besonders schlecht ist die Ökobilanz beim Rindfleisch. Gemäss Berechnungen japanischer Forscher ist die Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch so umweltschädigend wie 250 Kilometer Autofahren.
«Ich gehöre nicht zu denen, die Menschen in Veganer und Mörder einteilen. Ich freue mich viel mehr über jeden, der weniger Eier isst und seinen Fleischkonsum überdenkt.» Für grosse Veränderungen brauche es viel Zeit.
Kühe, die besonders viel Milch geben, gebären magere Kälber, die für die Aufzucht und Fleischproduktion uninteressant sind. Kälber der Milchrassen Holstein und Red Holstein sterben über 50 Prozent häufiger bei der Geburt oder in den ersten drei Lebenstagen als das Braunvieh. Das zeigt eine Auswertung der Meldungen an die Tierverkehrsdatenbank. Braunvieh gibt weniger Milch, ist dafür aber für die Fleischproduktion interessant. Der Schweizer Tierschutz kritisierte bereits vor zwei Jahren die hohe Sterblichkeit der Milchkälber in den ersten drei Tagen. Laut Insidern wurden im Welschland Jungtiere in Kadaversammelstellen entsorgt. Offenbar wurden sie als Totgeburten gemeldet, tatsächlich aber nach der Geburt getötet. Kälber dürfen gemäss Gesetz nicht vor dem siebten Alterstag geschlachtet werden.
Damit es nicht allzu lange dauert, lancierte sie Volksinitiativen: für das Verbot der Massentierhaltung und für vegane Menüs in öffentlichen Kantinen. In Basel, Zürich und Luzern sind sie zustande gekommen. Aber auch ohne politischen Druck haben erste Kantinen umgestellt. An der Universität Zürich wird in der Kantine Rämi 59 sogar ausschliesslich vegan gekocht.
Fleisch- und Milchloses bereichert nicht nur Speisekarten. Das Geschäft mit veganen Lebensmitteln wächst bei den Grossverteilern im zweistelligen Bereich. Coop und Migros bauen ihr Angebot laufend aus. 257 vegane Produkte gibt es aktuell in den Migros-Regalen. Und Coop hat im Bahnhof Zug einen ersten Shop mit 370 ausschliesslich vegetarischen und veganen Produkten eröffnet. Karma heisst er, wie die Vegi-Linie. Der indische Begriff besagt: Alles, was wir tun, hat Folgen für unser Schicksal.
Doch wer kauft die fleischlosen Produkte? Das ist unklar. «Es sind kaum konsequente Veganer. Diese kochen oft selber. Eher sind es Allesesser, die mal etwas Neues probieren wollen», sagt Hans-Ulrich Huber, Präsident des Schweizer Tierschutzes STS (siehe «Eine vegane Weltgesellschaft ist nicht die Lösung»).
«Hut ab vor allen, die sich vegan ernähren», sagt Hans-Ulrich Huber vom Schweizer Tierschutz. Doch der Verzicht auf Fleisch genüge nicht.
Eine Befragung vom Februar 2017 zeigt: 86 Prozent der Schweizer essen Fleisch, 70 Prozent mindestens drei- bis viermal pro Woche. 11 Prozent bezeichnen sich als Vegetarier. Nur 3 Prozent ernähren sich vegan, es werden aber immer mehr.
Für mehr als die kleine Minderheit kocht Lauren Wildbolz. «Die meisten, die ich an meinen Caterings vegan bewirte, sind Allesesser.» 120 waren es kürzlich, für 500 wird die 36-Jährige im November auftischen. Sie selbst isst seit ihrer Kindheit kein Fleisch mehr. Das Nein zu Milch und anderen tierischen Produkten folgte mit 29. «Ich machte schon damals intensiv Yoga. Das sensibilisierte mich auch für Ernährungsfragen. Trotzdem stiess ich körperlich an Grenzen.»
Sie fand heraus, dass ihr Milch schlicht nicht gut tut. Die «Schale» am Morgen war kein Aufsteller, sondern ein Downer. «Und natürlich hat es mich immer mehr beschäftigt, dass die Massenproduktion von Fleisch untrennbar mit der Milchindustrie verschränkt ist. Es war für mich darum ein logischer Schritt, auf solche Produkte zu verzichten.»
Lauren Wildbolz gründete das erste rein vegane Restaurant in Zürich. Inzwischen hat sie es an eine vegane Firma verkauft und konzentriert sich auf Catering und Kochkurse. Sie tischt opulent auf. «Wenn Gäste nach dem Essen nichts vermissen, ist der Anlass ein Erfolg für mich.» Nichts zu vermissen, sei die ideale Voraussetzung, um selber über eine fleischlose oder vegane Ernährung nachzudenken.
Vor wenigen Jahrzehnten überlistete man Fleisch verweigernde Kinder mit allerlei Foodtricks oder versuchte ihnen in Heimen «das Essen» beizubringen. Heute prophezeien manche Kritiker den Veganern eine Zukunft mit brüchigen Knochen und Frühdemenz. Oder sie denunzieren Veganismus gleich als kaschierte Essstörung.
Solche Bedenken kann Wildbolz nicht mehr ernst nehmen. Gemeinsam mit drei Ärzten hat sie ein Buch über vegane Schwangerschaft verfasst. «Mit gutem Coaching und vielseitiger Ernährung ist auch das kein Problem.» Offizielle Stellen raten Schwangeren und bei Kleinkindern von rein veganer Ernährung ab, zumindest in Europa.
Wildbolz’ Tochter ist heute drei Jahre alt – und isst Fleisch. «Kinder wollen dazugehören. Ich will ihr darum nicht verbieten, was für andere Kinder normal ist. Sie soll später selber entscheiden, was sie essen will.»
Bis dann ist Fleischessen vielleicht kein Thema mehr. Inzwischen tüfteln Start-ups wie die kalifornischen Impossible Foods und Beyond Meat mit viel Geld an Ersatzfleisch herum. Auf pflanzlicher Basis, aber mit Geschmack und Konsistenz, die kaum von echtem Fleisch zu unterscheiden sind. Andere Unternehmen züchten In-vitro-Fleisch aus tierischen Stammzellen – langsam wird es sogar bezahlbar. Das ist wohl nicht ganz bio, funktioniert aber ganz ohne das Massenschlachten.
Schweine, Hühner, Kühe, Pferde, Schafe: Sie alle leben auf einem Hof im Schaffhausischen, ohne dass sie wirtschaftlich genutzt würden. Claudia Steiger hat den Lebenshof mit ihrem Partner über die Stiftung Stinah ins Leben gerufen. Nutztieren werde oft jegliche Würde abgesprochen, sagt die 49-jährige Zürcher Anwältin. «Man setzt sie zu reinen Konsumgütern herab. Das macht es erst möglich, die leidensfähigen Mitgeschöpfe aufgrund ihrer Andersartigkeit auszubeuten.» Der Hof bewahrt einige wenige davor.
«Leider hinterfragen wir den überlieferten Umgang mit Tieren nicht, auch nicht die Folgen. Das führt dazu, dass wir fühlende Geschöpfe ohne Skrupel zu unserem Nutzen designen, misshandeln und in unglaublichen Mengen töten», sagt die Anwältin. Das sei auch der Grund für die Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, deren Lebensgrundlagen zerstört würden, nur weil wir die Lust auf Fleisch als höherrangig werteten.
Besonders stossend findet sie, dass wir in der Schweiz zwar ein hochgelobtes Tierschutzgesetz haben. Aber keinen Tieranwalt, der die minimalen Ansprüche des Tierwohls einfordern könnte. «Welche Folgen das haben kann, zeigt die Tragödie auf dem Hof im thurgauischen Hefenhofen.» Vor über zehn Jahren habe sie schon auf Missstände dort aufmerksam gemacht. «Die Behörden haben es ignoriert.»
Die Fleischindustrie ist ein undurchsichtiges Geschäft. Die Tiere werden meist in der Nacht auf die Schlachtbank gekarrt. Schulklassen besuchen vielleicht Kehrichtverbrennungs- oder Kläranlagen – aber keinen Schlachthof. Zu traumatisch wäre das Erlebte für die Kinder.
In England deckten investigative Journalisten innerhalb eines Jahres 1600 Fälle von Tierquälerei in Schlachthöfen auf. Mit Folgen: Die Tötungsanlagen müssen künftig mit Kameras überwacht werden. In der Schweiz gibt es zwar erste mit Kameras ausgestattete Schlachthöfe. Dies dient aber primär der internen Qualitätssicherung.
Die Zustände in den Schlachthöfen und bei Tiertransporten öffentlich machen, das will der St. Galler Tierschutzverein Animalibus – mit Virtual-Reality-Filmen und 3-D-Brillen. Die Filme gibt es auf www.ianimal360.de – sie sind aber nur schwer zu ertragen. Der Verein kauft auch Kühe aus der kommerziellen Milchproduktion frei.
Beim St. Galler Steueramt ersuchte er kürzlich um Steuerbefreiung wegen Gemeinnützigkeit. Die Antwort: Die Schweizer Milch- und Fleischwirtschaft sei rechtmässig und legitim. Tiere davor zu retten, diene nicht dem Allgemeinwohl. Das Gesuch wurde abgelehnt.
Der «Impossible Burger» ist rein pflanzlich, soll aber wie Fleisch schmecken. Beobachter-Redaktor Peter Aeschlimann wollte wissen, ob das stimmt.
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