Coronavirus
Die Notbremsung
Das Corona-Virus zwingt uns alle zu dramatischen Einschränkungen und Verhaltensänderungen. In seiner Bedeutung könnte es sich als eine Art heilsame Systemkorrektur für unsere Zivilisation erweisen. Ein Kommentar von Beobachter-Chefredaktor Andres Büchi.
Veröffentlicht am 19. März 2020 - 16:43 Uhr
Ein Tram in Zürich wird desinfiziert.
Quelle: Alexandra Wey / KeystoneSeit ein paar Wochen ist die Welt nicht mehr, was sie zu sein schien: ein unendlicher Möglichkeitsraum, der uns allen vorab für unsere individuellen Wünsche offen stehen soll und als Preis dafür ein immer wahnwitzigeres Verschieben von Gütern und Menschen rund um den Planeten einfordert. Weltweite Liefer- und Produktionsketten sind plötzlich unterbrochen, und die persönliche Bewegungsfreiheit ist in einem Masse eingeschränkt, wie wir das bis vor kurzem für unmöglich gehalten hätten.
Wir haben uns in hochriskanten, eng getakteten Schönwetterplänen eingerichtet, absehbare ökologische und ökonomische Risiken trotz Warnzeichen ausgeblendet und nach dem Motto «Hauptsache weiter so» darauf vertraut, dass es irgendwie gelingen möge, stets alle Probleme technisch oder politisch lösen zu können, ohne unser Verhalten ändern zu müssen.
Jetzt zeigt uns ein kleines fieses Virus schonungslos die Schwächen unserer Sorglos-Konsumgesellschaft auf und wirft uns darauf zurück, primär die Grundfunktionen unserer Infrastruktur in überschaubaren Räumen sicherzustellen und auf jeder Ebene wieder mit mehr Sicherheitsmarge zu spielen. Das gilt für uns als Gesellschaft genauso wie im privaten Bereich.
Dabei ist das Virus selber gerade so gefährlich, dass es zwar nie gekannte Notmassnahmen erfordert, uns aber glücklicherweise nicht so tödlich bedroht wie beispielsweise Ebola. Dass ausgerechnet ein so kleiner Erreger unserem Wachstumshunger buchstäblich Grenzen setzt und uns Verhaltensänderungen abverlangt, vor denen Politik und Staaten seit Jahren zurückschrecken, wirkt wie eine Ironie des Schicksals.
Doch man kann es auch deuten als ein Krankheitssymptom unserer materialistisch geprägten Gesellschaft, auf das der Gesamtorganismus früher oder später reagieren musste.
Dafür muss man kein Eingreifen einer strafenden, höheren Macht bemühen. Vielmehr erscheint es als Korrektur eines Systems, das komplex verschränkt funktioniert, sich selbst organisiert und nicht hierarchisch gesteuert werden kann durch Wille und Macht, sondern nur aus sich heraus nach Gesetzen der Selbstregulation. Das Wunder der existierenden Natur ist ja auch kein Resultat des aus unserer Sicht Wünschbaren, sondern des im Interesse des Gesamtorganismus Notwendigen und Nützlichen.
Noch reagieren wir in alten Mustern und listen wie im Sport allabendlich die Resultate auf, die Infizierten und die Toten und die neuesten Analysen. Und natürlich redet alles davon, bald wieder zum Courant normal zurückzukehren. Zugleich ahnen wir alle, dass das ganze Regelwerk unseres Wirtschaftens auf unserem begrenzten Planeten auf dem Prüfstand steht und wir vor einer weit fundamentaleren Transformation stehen.
Diese Korrektur wird uns vieles abverlangen. Sie wird anstrengend, unbequem, teuer und vielerlei Verzicht und Opfer fordern. Die Krise zeigt aber auch, wie schnell gesellschaftliche Änderungen möglich sind, wenn die äussere Notwendigkeit und die klaren Vorgaben dazu da sind. Es ist an uns, jetzt solidarisch den Hauptleidenden zu helfen: Menschen, die plötzlich ohne Einkommen dastehen, genauso wie jenen, die uns dank unermüdlichem Einsatz helfen, mit der Situation bestmöglich umzugehen.
Doch Hoffnung, die mit jeder Krise kommt, zeigt sich bereits jetzt in einigen Bereichen. Satellitenmessungen zeigen, dass die Luftverschmutzung dank der Notbremsung deutlich zurückgegangen ist. Und dank der uns aufgezwungenen Entschleunigung entdecken wir Qualitäten und kleine Glücksmomente im Alltag, für die uns eine oft unnötig vollgestopfte Agenda bisher kaum Zeit gelassen hat.
So gesehen, liegt in der jetzigen Krise trotz aller Opfer eine Chance. Ums mit Goethe zu sagen: «Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.»