Heldenhafte Männer – und die Frauen?
Was die Besetzung der Grenzen von 1939 für die Schweiz bedeutete – und wie sie bis heute nachwirkt.
Veröffentlicht am 30. August 2019 - 17:30 Uhr,
aktualisiert am 27. August 2019 - 10:52 Uhr
Mein Grossvater Karl war Pazifist, ein unabhängiger Geist, politisch eher links. Und doch war sein Dienst während des Zweiten Weltkriegs bis ins hohe Alter eines seiner Lieblingsthemen. Er hat Dutzende Artikel über General Guisan aufbewahrt, Broschüren über das Réduit, Militärabzeichen und sein Schiessbüchlein.
Vor 80 Jahren, am 1. September 1939, war er zusammen mit 710'000 Männern eingezogen worden , um die Schweiz gegen Nazideutschland zu verteidigen. «Soldat, getreu dem Fahneneide standest du auf deinem Posten», steht auf der Urkunde, die Karl sechs Jahre später von General Guisan erhalten sollte. «Durch ihre Wachsamkeit bewahrte die Armee unser Land vor dem Leiden des Krieges.» Die wehrhaften Mannen, die die Grenzen bewachten und die Berge in eine Bunkerlandschaft umbauten, waren die Retter der Schweiz. Und die Frauen?
«Wenn ich mir überlege, was jeder Soldat eigentlich an Opfern darbringt, so komme ich mir ganz klein und hässlich vor.» Das schrieb meine Grossmutter Erika im Februar 1940. Sie hat damals Vollzeit als Direktionssekretärin bei der Bandweberei Bally gearbeitet, über Mittag den Offizieren abgefallene Knöpfe an die Uniformhosen genäht, abends Leibwärmer für Karl gestrickt und in der elterlichen Wirtschaft bei der Soldatenverpflegung geholfen. Manchmal stürmten bis zu 1000 Soldaten das Restaurant Central in Küttigen AG. «Und auch sonst wuchs mir die Arbeit fast über den Kopf», schrieb sie ihm.
Dass Erika ihre Leistung kleinmachte, hatte System. Die staatlichen und militärischen Propagandaschriften machten aus den Männern Helden und aus den Frauen moralische Unterstützerinnen. Die Frauen in Grossbritannien, Deutschland, Österreich erhielten nach dem Ersten, jene in Frankreich, Belgien und Italien nach dem Zweiten Weltkrieg das Stimmrecht. Doch meine Grossmutter musste 56 Jahre alt werden, bis sie 1971 das erste Mal abstimmen durfte .
Karl musste im Aktivdienst vor allem eines tun: «Warten, warten, warten.» Immer wieder schrieb er an seine Erika: «Wir haben uns ordentlich gelangweilt.» Natürlich war der Dienst auch anstrengend, es gab Märsche, Schiessübungen, Bauarbeiten. Fotos zeigen, wie er in tiefem Schnee bei garstigem Wetter Funkstationen einrichtet. «Diese Nutzlosigkeit» – «im Taktschritt defilieren vor Seiner Majestät dem neuen Hauptmann», schrieb Karl sarkastisch.
«Bier trinken
und abwarten» und «das ganze Schweizerland stand bewaffnet umenand» – das waren typische Erinnerungen von Soldaten. Oder: «Hätten wir daheim nicht viel Gescheiteres zu tun?» Der Alltag sei oft monoton und stumpfsinnig gewesen, schreibt der Historiker Christof Dejung in seinem Buch «Aktivdienst und Geschlechterordnung».
«Im Notfall wäre die Bevölkerung schutzlos gewesen. Vielleicht musste gerade deswegen die Situation der Frauen ausgeblendet werden.»
Regina Wecker, Historikerin
1940 heirateten Erika und Karl, während eines Diensturlaubs. Zwei Jahre später kam Vreneli zur Welt, meine Mutter. 1943 folgte der kleine Ueli. Erika war monatelang allein mit den beiden Kindern, besorgte den Haushalt, machte Lebensmittel ein, wusch die Militärwäsche ihres Mannes, beherbergte zwei geschwächte Buben aus den Niederlanden und Belgien und einen jüdischen Flüchtling.
Wie alle Frauen arbeitete sie während des Kriegs mehr. Trotzdem hatte sie das Gefühl, zu wenig zu leisten. «Im Grunde genommen ist es einfach nicht richtig, dass wir Zivilpersonen uns warmer Betten erfreuen, während ihr opferbereite Soldaten euch eng zusammengepfercht auf dem Strohsack einrollen müsst», schrieb sie.
«Warten, warten, warten.» – «Wir haben uns ordentlich gelangweilt.»
In ganz Europa mussten die Frauen während der beiden Weltkriege allein klarkommen, arbeiten, die Fabriken und Höfe am Laufen halten, familiäre Entscheidungen treffen. Nach dem Krieg liess sich die männliche Herrschaft nicht mehr in gleichem Masse wiederherstellen. Millionen von Männern waren tot oder in Kriegsgefangenschaft, die Frauen hatten sich an ihre Unabhängigkeit gewöhnt, das politische System war zusammengebrochen.
Nicht so in der Schweiz. Ab Herbst 1940 wurden die Wehrpflichtigen nur noch im Ablösemodus für ein paar Monate eingezogen. Im Schnitt waren die Männer 800 Tage im Dienst. Man tat während des Kriegs alles, um nicht an den alten Strukturen zu rütteln. «Es gab in der Schweiz einen konservativen Umschwung im Vorfeld des Kriegs», sagt Historiker Dejung. Und dieser hatte jahrzehntelang Folgen. Die Frauenbewegung hatte in der Schweiz einen schweren Stand und hat es bis heute.
Die Statistik spiegelt den konservativen Rückzug. Die Geburtenrate stieg von 1,8 Kindern im Jahr 1937 auf 2,6 bei Kriegsende. Die Erwerbsquote der Frauen sank in den Kriegsjahren auf den Tiefstwert des Jahrhunderts. Die Zahlen zeigen aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich arbeiteten die Frauen wesentlich mehr. Frauen wurden oft ersatzweise, vorübergehend oder unentgeltlich angestellt, zeigt Regina Wecker, emeritierte Professorin für Geschichte der Universität Basel, auf.
Diese Arbeitsverhältnisse wurden als «Hilfe» eingestuft und erschienen in den Statistiken nicht als Erwerbsarbeit. Bei den Basler Verkehrsbetrieben etwa wurden die Ehefrauen der abwesenden Aktivdienstler rekrutiert. Sie übernahmen die Jobs ihrer Männer, aber ohne Lohn – der Ehemann erhielt weiter 100 Prozent Lohn anstelle der 80 Prozent Erwerbsersatz. Sobald die Männer zurückkehrten, mussten die Frauen die Stelle wieder verlassen .
Den Bäuerinnen wurden neben ihren Männern auch das Zugvieh und die Traktoren eingezogen. Viele Städterinnen leisteten Landdienst, meist freiwillig und unentgeltlich. Die Ehefrauen von Selbständigen führten die Betriebe ihrer Männer. Ausserdem arbeiteten die Frauen in den «Kriegswäschereien», quartierten Soldaten ein und führten Soldatenstuben.
1939 wurde der militärische Frauenhilfsdienst (FHD) gegründet. Die Armeefrauen wurden zwar in typisch weiblichen Bereichen wie Sanität, Schreib- und Fahrdienst eingesetzt, trotzdem wurden sie angefeindet. Man nannte den FHD auch «Feldhurendienst», die Frauen «Offiziersmatratzen», es gab eine parlamentarische Intervention, da man sich an den hosentragenden Fahrerinnen stiess.
«Der Aktivdienst hat viele soziale Konflikte unter den Teppich gekehrt.»
Christof Dejung, Historiker
«Ihr habt eure Familien beschützt und die Schweiz gerettet!», habe es nach dem Krieg über die Männer geheissen, sagt Historiker Christof Dejung. Dass sich die Armee durch die Réduit-Strategie im Gotthard verschanzte und nur ein paar Kompanien zum Schutz der Frauen und Kinder im Grenzgebiet und im Mittelland belassen wurden, sei dabei weniger ins Gewicht gefallen.
Erika muss um die Konsequenzen des Réduits gewusst haben. Der Rückzug in die Alpen bedeute «den vorübergehenden Verlust des reichen Mittellandes und seiner Bevölkerung», hiess es lapidar in einer Broschüre, die sie aufbewahrt hatte. Der «vorübergehende Verlust seiner Bevölkerung» – das wären auch Erika, Vreneli und Ueli gewesen.
«Im Ernstfall wäre die Bevölkerung schutzlos gewesen», schreibt Regina Wecker. «Vielleicht musste gerade deswegen die Situation der Frauen ausgeblendet werden.» Das Réduit und die Demobilmachung erlaubten eine umfassende wirtschaftliche Kooperation mit Deutschland, da die Armee weniger Soldaten brauchte und man so die Industrieproduktion halten konnte, ohne die Frauen noch stärker einzubinden. Dass die Schweiz womöglich wegen ihrer Exporte nach Deutschland und nicht wegen ihrer Wehrhaftigkeit von den Nazis unberührt blieb, war jahrzehntelang ein Tabu.
«Nach dem Krieg waren die Männer wieder da», sagt Wecker. «Sie wollten ihre Jobs und ihre Stellung zurück.» Man wollte um jeden Preis vermeiden, dass der Aktivdienst negative Konsequenzen für die wirtschaftliche Situation der Männer hatte . Es gab Arbeitsplatzgarantien für Aktivdienstler und einen Erwerbsersatz. Zu wach war die Erinnerung an den Generalstreik 1918, als Arbeitslosigkeit, finanzielle Not und Hunger die Menschen auf die Strasse getrieben und fast zum Bürgerkrieg geführt hatten.
«Der Aktivdienst hat viele soziale Konflikte unter den Teppich gekehrt», sagt Dejung. Der Harmonie zuliebe wurde auch die Frage des Frauenstimmrechts zurückgestellt. Die Emanzipation fiel der Landesverteidigung zum Opfer.
Die öffentlich propagierte Aufgabe der Frau war traditionell. In einer Broschüre in Erikas Nachlass heisst es: «Der Schweizerin wird eine überaus wichtige Aufgabe zufallen: Sie hat dafür zu sorgen, dass in ihren männlichen Kameraden das Verständnis und der Opfergeist für die Wehrbereitschaft wach bleibt.» Die Frau sei immer verantwortlich dafür, dass die nationale Gesinnung nicht verkümmere. Frauen sollten Briefe schreiben, Socken stricken, Nahrungsmittel sparsam verarbeiten – und Kinder zur Welt bringen .
Erika erfüllte all diese Aufgaben. Allein 1940 schickte sie 103 Briefe per Feldpost an ihren Funkerpionier. Sie sandte Päckchen mit selbstgemachten Guetsli und berichtete Karl vom Einmachen. «Meine hausfrauliche Tüchtigkeit hat heute einen empfindlichen Schlag erlitten.» Sie habe die eingemachten Vorräte geprüft. «Doch solcher Anblick bot sich mir!» Es habe sich Schimmel gebildet. «Ich war erschüttert, bin es noch; so sehr habe ich mir Mühe gegeben.»
In Erikas Kiste lag eine Broschüre, die zum Kindermachen anhielt. «Während [der Schweizer] sich aber gegen aussen wappnet, schleicht heimlich und unerkannt ein Feind heran, der von innen heraus seine Heimat bedroht. Wie eine zehrende Krankheit sitzt er im Mark unseres Volkskörpers. Es ist der Geburtenschwund, der ihn kalt erfasst hat. Er ist der Staatsfeind Nr. 1.»
1941 gab die 26-jährige Erika ihren Beruf auf, wurde Mutter und Hausfrau. Sie bekam sechs Kinder. Aber meine Grossmutter war kein Huscheli. Sie war gut ausgebildet, hatte eine Verkaufslehre und die Handelsschule absolviert, sprach fliessend Französisch, Italienisch und Englisch, nahm erfolgreich an Stenografie-Meisterschaften teil. Sie hatte eine politische Meinung («dass ich zutiefst sozialistisch bin»), dachte über Rollenteilung nach («auch wir Frauen müssten einmal eine RS durchmachen und uns damit abfinden, den ganzen Besitz in ein kleines Bündel zusammengepfercht zu sehen»). Sie schrieb in ihren Briefen über Demokratie und Diktatur und den Krieg.
«Nicht das arme deutsche Volk soll verbluten, aber seine Lehre, der es anhängt, die soll untergehen, begleitet von Blitz und Donner. Es könnte unmöglich so weitergehen, dass Gewalt vor dem Recht steht, dass man Verträge bricht, wie es einem beliebt, dass die elementarsten Gesetze der Sittlichkeit mit Füssen getreten werden», schrieb sie zwei Tage nach Kriegsbeginn. «Unabsehbares Elend wird entstehen, und man wird kaum helfen können.» Was sie für ihren wehrpflichtigen Mann tue, komme ihr «bescheiden, ja ärmlich» vor.
«Die wirtschaftlichen Leistungen der Frauen während des Krieges wurden nicht als gleichwertig wahrgenommen», sagt Historikerin Wecker. In öffentlichen Reden, Zeitungsartikeln und Propagandaschriften war die Frau meist nur eine Fussnote. Privat sah das anders aus. Manche Männer wussten durchaus, was sie den Frauen zu verdanken hatten. Auch Karl schrieb: «Es wird mir ja ganz unmöglich sein, auch nur ein Teil von dem abzutragen, was Du jetzt für mich tust.»
Und doch: Das Stimmrecht blieb an die Wehrpflicht gekoppelt und bis 1971 den Männern vorbehalten. Und den Orden von General Guisan – «Soldat, du hast den Dank der Heimat verdient» – bekam mein Grossvater. Nur er.