Es ist der 12. Juni. Der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk ist im Bundeshaus zu Besuch. Die Bundespolizei soll den Anlass sichern und sperrt für einen Fototermin die Treppe im Foyer.

Das wollen SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi und sein Parteikollege Michael Graber nicht akzeptieren: Sie ignorieren die polizeilichen Anweisungen und bahnen sich einen Weg über die Treppe. Dabei kommt es zu einem Handgemenge zwischen Aeschi und zwei bewaffneten Bundespolizisten.

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Untersuchung durch Bundesanwaltschaft 

Er habe sich nicht stoppen lassen, schreibt der SVP-Nationalrat anschliessend auf Twitter und verlinkt ein Video der Nachrichtenplattform Nau.ch. «Es geht darum, dass während der Session die parlamentarische Arbeit vor ausländischen Staatsbesuchen Vorrang hat.» Einen Tag später reicht eine Privatperson Strafanzeige gegen Thomas Aeschi ein.

Nun ist die Bundesanwaltschaft dran: In Vorabklärungen soll ein sogenanntes Offizialdelikt untersucht werden. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Was ist ein Offizialdelikt?

Die Schweizer Justiz unterscheidet zwischen Antragsdelikten und Offizialdelikten:

  • Antragsdelikte sind leichtere Delikte. Dazu zählen laut Strafgesetzbuch zum Beispiel Sachbeschädigung, Ehrverletzung oder einfache Körperverletzung. Sie werden nur verfolgt, wenn die geschädigte Person einen Strafantrag stellt.
  • Offizialdelikte sind schwerere Straftaten wie Vergewaltigung, schwere Körperverletzung, Raub oder Betrug. Sobald die Strafverfolgungsbehörde (Staatsanwaltschaft) davon Kenntnis hat, muss sie eine Untersuchung starten – selbst dann, wenn das niemand beantragt hat.

Nur eine Rangelei – warum kommt hier ein Offizialdelikt in Frage?

Zu den Offizialdelikten gehört auch Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.

Laut Strafgesetzbuch wird bestraft, «wer eine Behörde, ein Mitglied einer Behörde oder einen Beamten durch Gewalt oder Drohung an einer Handlung, die innerhalb ihrer Amtsbefugnisse liegt, hindert, zu einer Amtshandlung nötigt oder während einer Amtshandlung tätlich angreift».

Welche Konsequenzen hätte eine Verurteilung?

Falls es zu einer Verurteilung wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte kommt, droht grundsätzlich eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Leichtere Fälle werden allerdings mit einer Geldstrafe geahndet.

Neben den strafrechtlichen Konsequenzen könnte eine Verurteilung auch dem Ruf des Nationalrats schaden.

Darf man einen Nationalrat überhaupt verurteilen?

Ratsmitglieder haben gewisse Privilegien:

  • Absolute Immunität: Sie können für ihre Äusserungen in den Räten und deren Organen nicht juristisch verfolgt werden. Dadurch soll die freie Meinungsäusserung garantiert werden.
  • Relative Immunität: Die Mitglieder der Bundesversammlung geniessen eine relative Immunität, wenn die strafbare Handlung in unmittelbarem Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit und Stellung steht.
    Das heisst, dass Personen erst strafrechtlich verfolgt werden können, wenn die zuständigen Kommissionen ihre Immunität aufheben. Dafür muss die Strafverfolgungsbehörde ein Gesuch stellen.

Thomas Aeschi stellt sich auf den Standpunkt, er sei an seiner parlamentarischen Arbeit gehindert worden. Das spricht dafür, dass er in Bezug auf den Vorwurf relative Immunität geniesst – und diese zuerst aufgehoben werden muss, bevor er verfolgt werden kann.

Ob die Bundesanwaltschaft ein entsprechendes Gesuch stellt, wird sich zeigen.

Was sagt Thomas Aeschi dazu?

«Ich begrüsse es, dass der Sachverhalt durch eine unabhängige Instanz, die Bundesanwaltschaft, (vor)abgeklärt wird», antwortet Aeschi auf Anfrage des Beobachters.

Es habe bereits ein Gespräch zwischen dem Bundesamt für Polizei (Fedpol), Parteikollege Michael Graber und ihm gegeben, so der Nationalrat.

Warum dürfen die Medien seinen Namen nennen?

Das ist in diesem Fall erlaubt, weil Thomas Aeschi ein politisches Amt wahrnimmt. Als SVP-Fraktionspräsident ist er eine öffentlich bekannte Person.

Zudem hat er das Video über Twitter eigenhändig weiterverbreitet und dazu Stellung bezogen.