Mehr als 33 ungelöste Tötungsdelikte in der Schweiz
Der Ständerat will, dass Mord nicht mehr verjähren soll. Aktuell würden damit die Dossiers von mindestens 33 Tötungsdelikten von der Verjährung ausgenommen.
Veröffentlicht am 12. März 2025 - 18:32 Uhr,
aktualisiert vor 23 Stunden
Der Kristallhöhlenmord veranlasste den St. Galler SVP-Nationalrat Mike Egger zu einer Standesinitiative für die Unverjährbarkeit von Mord.
Wenn alle Hinweise geprüft, alle Zeugen befragt und alle Beweismittel ausgewertet sind, kommt der Punkt, an dem es keine sinnvolle Ermittlungshandlung mehr gibt. Die Spur ist kalt geworden. Der Fall wird zu einem ungelösten Tötungsdelikt, einem Cold Case.
In der Schweiz gibt es mindestens 33 Cold Cases, wie eine exklusive Umfrage des Beobachters bei den Kantonspolizeikorps ergab. Die Zahlen in den einzelnen Kantonen schwanken beträchtlich. Während es etwa in der Waadt aus der Zeit von 1995 bis 2015 gar keine unaufgeklärten Tötungsdelikte gibt, meldet der Nachbarkanton Genf deren fünf.
Sehr hohe Aufklärungsquote
Daraus Rückschlüsse auf die Kompetenz der einzelnen Polizeikorps zu ziehen, ist aber falsch. «Dazu sind die Zahlen viel zu klein», sagt die St. Galler Strafrechtsprofessorin Nora Markwalder. Sie stellt der Polizeiarbeit ein gutes Zeugnis aus. Die Schweiz habe eine sehr hohe Aufklärungsrate bei Tötungsdelikten. Diese sei seit den 1990er-Jahren stark gestiegen und habe in den letzten Jahren jeweils über 95 Prozent gelegen.
«In manchen Jahren wurden sogar sämtliche Tötungsdelikte aufgeklärt», erklärt Markwalder dem Beobachter. Das sind gemäss der Strafrechtsprofessorin im internationalen Vergleich Spitzenwerte. Die Aufklärungsrate liege deutlich höher als etwa in den Niederlanden, in Schweden, Italien oder Frankreich.
Wenige Tötungen im kriminellen Milieu
Die hohe Aufklärungsquote ist auch der Natur der Verbrechen geschuldet. Schwierig aufzuklären sind laut Markwalder Tötungsdelikte, bei denen sich Täter und Opfer nicht kennen und bei denen die Beweggründe für die Tat nicht einfach nachvollziehbar sind. Dazu gehörten Tötungen im kriminellen Milieu. Solche Taten hätten seit 1990 stark abgenommen. Damit verbleibe in der Schweiz ein sehr hoher Anteil familiärer Tötungsdelikte, die in der Regel schnell und einfach aufgeklärt werden könnten.
Unaufgeklärte Tötungsdelikte haben nicht nur gravierende psychologische und emotionale Auswirkungen auf die Angehörigen. Sie beeinträchtigen auch das Sicherheitsgefühl einer Gesellschaft, schreibt Markwalder im Buch «Tötungsdelikte in der Schweiz von 1990 bis 2014». Oft sind es brutale Taten, die nachhaltige Spuren in den Köpfen hinterlassen.
Für riesiges Aufsehen sorgte beispielsweise der Kristallhöhlenmord im St. Galler Rheintal, der inzwischen über 40 Jahre zurückliegt. Zwei Mädchen im Alter von 15 und 17 Jahren verschwanden im Juli 1982 während einer Velotour. Ihre Leichen wurden neun Wochen später in der Nähe der Kristallhöhle gefunden.
«Ein Täter darf sich bei einem Mord nie sicher vor Strafverfolgung fühlen.»
Mike Egger, Nationalrat SVP/SG
Der Fall ist bis heute ungeklärt – und hat Folgen bis in die unmittelbare Gegenwart. Der Ständerat debattiert am Donnerstag eine Standesinitiative des Kantons St. Gallen. Die Initiative möchte, dass schwere Straftaten wie Mord nicht mehr verjähren. Auf den Weg brachte die Initiative der St. Galler SVP-Nationalrat Mike Egger. «Für die Angehörigen eines Mordopfers ist die Ungewissheit unerträglich. Ein Täter darf sich bei einem Mord nie sicher vor Strafverfolgung fühlen», sagt Egger.
Bundesrat warnt vor falschen Hoffnungen
Heute verjähren Straftaten, die mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe bedroht sind, nach 30 Jahren. Würde die Standesinitiative angenommen, würden alle 33 aktuell unaufgeklärten Tötungsdelikte von der Verjährung ausgenommen.
Der Bundesrat will die Interessen der Hinterbliebenen ernst nehmen, warnt aber vor falschen Hoffnungen bei der Annahme der Initiative. Jahrzehnte nach einer Tat werde es immer schwieriger und unwahrscheinlicher, einen Täter überführen zu können. Aus Respekt vor den Opfern und der Sicht der Angehörigen stelle der Bundesrat aber keinen Antrag, sagte Bundesrat Beat Jans: «In der politischen Debatte hat in den letzten Jahren tatsächlich eine Akzentverschiebung zur Priorisierung von Opferinteressen im Strafrecht stattgefunden.»
«Das könnte auch das Risiko von Fehlurteilen erhöhen.»
Nora Markwalder, Strafrechtsprofessorin Universität St. Gallen
Skeptisch ist auch Nora Markwalder. Die Verjährung sei ein wichtiger Grundsatz unseres Strafrechts. Neben dem Argument des Bundesrats gelte es auch zu beachten, dass mit der langen Zeitdauer nicht nur belastende, sondern auch entlastende Beweismittel für eine beschuldigte Person verschwinden könnten. Markwalder: «Das könnte auch das Risiko von Fehlurteilen erhöhen.»
«Dieses Zeichen möchten wir nicht geben.»
Daniel Jositsch, Ständerat (SP, Zürich)
Solche Argumente drangen in der Debatte aber nicht durch. Der Zürcher SP-Ständerat Daniel Jositsch sagte, er habe mit vielen Opferangehörigen gesprochen. Das Schlimmste für die Hinterbliebenen sei es, wenn sich die Justiz nicht mehr für den Tod ihres Angehörigen interessiere. «Das bedeutet für die Angehörigen: Der Staat hat sie im Stich gelassen, der Tod ihres Angehörigen sei uns egal. Dieses Zeichen möchten wir nicht geben.»
In der Abstimmung gab es 34 Ja- und 5 Nein-Stimmen bei einer Enthaltung. Die Rechtskommission des Ständerats wird nun innert zwei Jahren einen Gesetzesentwurf ausarbeiten.
Hinweis: Dieser Text wurde am 13. März nach dem Entscheid des Ständerats aktualisiert.
- Simone Walser, Nora Markwalder, Martin Killias: Tötungsdelikte in der Schweiz von 1990 bis 2014, Sui Generis, Zürich
- Bundesparlament, Standesinitiative St. Gallen: Keine Verjährungsfristen für Schwerstverbrecher