Schweiz schützte Gewaltopfer ungenügend
Nicole Dill wurde 2007 Opfer einer schweren Gewalttat. Nun rügt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz: Die Frau hätte vor dem Täter gewarnt werden können.
Veröffentlicht am 4. April 2025 - 15:01 Uhr
«Ein Sieg der Frauen im Kampf gegen Femizide»: Nicole Dill
Der Beobachter berichtete zuerst über die Hintergründe einer Gewalttat, die die Schweiz erschütterte. Im Herbst 2007 brachte der Lebenspartner die damals 38-jährige Frau aus Luzern in seine Gewalt. Er vergewaltigte und folterte sie, fügte ihr mit Schüssen aus einer Armbrust lebensgefährliche Verletzungen zu. Erst nach stundenlanger Tortur konnte der Täter verhaftet werden. Er nahm sich daraufhin in Untersuchungshaft das Leben.
Später begann Nicole Dill, die Hintergründe des Gewaltakts zu recherchieren. Es zeigte sich: Die Tat war ein Lehrstück von verpasstem Opferschutz. Denn was Dill nicht wusste, war einem Netz von Mitwissern bekannt. Der Täter war ein verurteilter Mörder, von dem in Trennungssituationen eine grosse Rückfallgefahr ausging. Doch Polizei und Ärzte versteckten sich hinter Amtsgeheimnis und Datenschutz, statt die Frau zu warnen.
Rüge für die Schweiz
Vor diesem Hintergrund reichte das Gewaltopfer 2014 eine Staatshaftungsklage ein. Damit blitzte sie jedoch bei der Luzerner Justiz und 2018 auch beim Bundesgericht ab. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hingegen rügt nun in einem aktuellen Urteil die Schweiz und bestätigt Nicole Dills Sicht: Sie hätte vor dem Täter gewarnt werden können.
«Die verschiedenen beteiligten Behörden haben nicht alles getan, was vernünftigerweise von ihnen hätte erwartet werden können, um die unmittelbare Gefahr für das Leben der Klägerin abzuwenden», schreibt das Strassburger Gericht. Damit habe die Schweiz Artikel 2 der Menschenrechtskonvention verletzt. Dieser schützt das Recht auf Leben.
«Ein Sieg im Kampf gegen Femizide»
Nicole Dill zeigte sich gegenüber dem Beobachter «froh und dankbar», nach so langer Zeit von der höchsten Instanz endlich recht bekommen zu haben. «Dieses Urteil ist eine klare Botschaft an alle und ein Sieg der Frauen im Kampf gegen Femizide», sagt sie.
Nach der erlittenen Gewalttat machte sich die Luzernerin an verschiedenen Fronten für einen besseren Opferschutz stark. So veröffentlichte sie das Erlebte im viel beachteten Buch «Leben! Wie ich ermordet wurde» und trat wiederholt in Diskussionssendungen im Fernsehen auf. Auch hilft sie mit ihrem Betreuungsangebot «Sprungtuch» seit einigen Jahren anderen Gewaltopfern bei der Aufarbeitung. Für ihr Engagement wurde Dill 2011 ausserdem für den Prix Courage des Beobachters nominiert.
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil Nicole Dill gegen die Schweiz, 3. April 2025; nur französisch
- Schweizerisches Bundesgericht: Urteil 2C_816/2017, 8. Juni 2018
1 Kommentar
Zuerst ein herzlicher Dank an Nicole Dill, deren Anwälten für ihre Hartnäckigkeit. Leider arbeiten in der Schweiz Angestellte in Ämtern - auch in jenen Ämtern, die Frauen vor Gewalt ihrer PartnerInnen sowie weibliche Jugendliche vor der Gewalt und Menschenrechtsverletzungen ihrer Familien und sozialen Gruppen schützen müssten -, die Gewalt nicht nur dulden, sondern aktiv wie passiv Beihilfe leisten.
Dabei handelt es sich um verbale Äusserungen wie: man könne die Empflindlichkeit der Manns verstehen - nach Körperverletzung, Drohungen, Drittpersonenbedrohungen, Cyberstalking, Stalking auch am Arbeitsplatz, mit Unterstützung jener Personen, die Gewalt und Mord wegen angeblicher Verstösse gegen religiöse, traditionellle, kulturelle Normen befürworten. Ob dies Versklavungen mit Vergewaltigungen in von Familien & Drittpersonen organisierten Zwangsehen sind, deren Planung, Organisaton und Durchführung seit 28.07.1964 als Offizialdelikt unter harter Strafe stehen (müssten) oder von religiösen Extremisten mandatierte "Evangelikale Eheberater", die Geschiedenen nachstellen, um mitzuteilen, sie könnte wohl zivilrechtlich geschieden sein, im religiösen Sinn des von den Auftraggebenden vertretenen Dogmas könne eine Ehe/Partnerschaft nicht geschieden werden, da Frauen ein Stück=Sache=Leibeigene des Mannes würden und diese (Wilde) Ehe nur durch den Tod geschieden werden könnten. Behördenmitglieder, die den Schutz der Frauen gewähren müssten, befürworten Hausfriedensbruch, Cyberstalking, Nachstellung, Missbrauch von Fernmeldeanlagen nd Datenverarbeitungsanlagen, Drohungen, Angriffe mit Raub und Körperverletzung. Trotz bzw. auch nach in Kraft treten des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen und Häuslichen Gewalt im Jahr 2018. Bis dato weigern sich PolitikerInnen und Angestellte der Behörden, die als Signatarstaat eingegangenen Verpflichtungen umzusetzen. Im November 2024 wurde die Schweiz daher von der CEDAW und GREVIO erneut gerügt und mit Auflagen versehen. Der Unterlassung der Garantenpflichtigen gilt nach Art. 43 der Istanbul Konvention als Beihilfe, denn die passive Tat = verweigerter Schutz wird gleich gewichtet wie die aktive Tat. Danke für die Hartnäckigkeit.