Es ist kurz vor Weihnachten im Jahr 2017. Die Enkelin hat Geburtstag, die ganze Familie geht zusammen auf den Zürcher Weihnachtsmarkt auf dem Sechseläutenplatz, dann zum Abendessen ins Restaurant Mövenpick. Eltern, Freund und sogar die 86-jährige Grossmutter sind dabei. Gegen halb zwölf gehts über den Bürkliplatz auf den Heimweg.

«Wir kommen aus dem Aargau, wir sind uns Trams nicht gewöhnt», wird der Vater später zum Beobachter sagen, während er vor dem Bezirksgericht Zürich auf die Urteilseröffnung wartet. Das Verfahren dauert schon so lange, weil es der Staatsanwalt zweimal einstellen will, das Obergericht aber beide Male entscheidet, den Fall weiter zu untersuchen.

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«Die Leute sind fadengerade in das Tram reingerannt.»

Tramchauffeurin und Zeugin

Das ist passiert an jenem Abend in Zürich: Die Familie will von der Nationalbank zur Seepromenade und muss dazu zwei Tramgleise überqueren. Sie schauen nach links, da steht das Tram Nr. 8. Die Chauffeurin klingelt, um die Leute zu warnen, die Gruppe macht einen Schritt zurück. Doch dann muss sie mitansehen, wie die Gruppe doch weitergeht – obwohl von rechts das Tram Nr. 2 losfährt. «Die Leute sind fadengerade in das Tram reingerannt», wird die Chauffeurin des Trams Nr. 8 später zur Polizei sagen. Trotz Notbremsung kann das Tram Nr. 2 nicht mehr rechtzeitig anhalten.

Vater, Enkelin und Freund können sich retten, doch Mutter und Grossmutter werden vom Tram zu Boden geworfen. Die Mutter bricht sich den Schenkelhals, braucht später eine Hüftprothese. Die Grossmutter erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma, bricht sich die Schädeldecke, eine Rippe und den Beckenring.

«Warum hat der Tramchauffeur beschleunigt, statt zu bremsen? »

Anwalt der Geschädigten

Wie konnte es dazu kommen? In der Anklageschrift steht: Die Gruppe von Fussgängern will die Tramstrasse überqueren, dreht aber wieder um und geht zurück auf die Fussgängerinsel. Das sieht der 49-jährige Tramchauffeur von Nr. 2 und fährt los, als sein Signal auf Grün springt. Als die Gruppe wieder losgeht, klingelt der Tramchauffeur und beschleunigt auf 20 km/h, bevor er die Notbremse zieht. 

Verhalten der Familie falsch eingeschätzt

«Warum hat er beschleunigt, statt bei 14 km/h weiterzufahren oder zu bremsen? Das ist unverständlich», sagt der Anwalt von Mutter und Grossmutter vor Gericht. Der Beschuldigte habe das Verhalten der Familie falsch eingeschätzt, schreibt der Staatsanwalt, er hätte abbremsen müssen. Damit habe er seine Sorgfaltspflicht verletzt und sei wegen fahrlässiger Körperverletzung schuldig zu sprechen. 

Falsch, sagt die Verteidigerin. Der beschuldigte Tramchauffeur habe gesehen, dass die Gruppe wieder einen Schritt zurück gemacht habe. Die Fahrbahn sei also frei gewesen, darum habe er beschleunigt. 

«Entscheidend ist, was der Beschuldigte gesehen hat: Seine Fahrbahn ist frei, als er losfährt.»

Richterin Bezirksgericht Zürich

Die Bezirksrichterin erklärt den Tramfahrer für nicht schuldig – im Zweifel für den Beschuldigten. Sie vermutet, dass die Gruppe nur nach links, aber nicht nach rechts geschaut habe. Doch: «Entscheidend ist, was der Beschuldigte gesehen hat: Seine Fahrbahn ist frei, als er losfährt.» Die Gruppe habe einen Schritt zurück gemacht, er dürfe davon ausgehen, dass er seinen Vortritt bekomme – sonst müsste er täglich unzählige Male eine Notbremsung auslösen. Zudem hat der Chauffeur sehr schnell reagiert: Gemäss Fahrtenschreiber des Trams hat er geklingelt, und bereits vier Sekunden später stand es still.

Vortritt erzwingen verboten

Der Tramfahrer hat den sogenannten Vertrauensgrundsatz im Strassenverkehr also nicht verletzt. Diese gesetzliche Regel besagt, dass Verkehrsteilnehmer aufpassen müssen, wenn sich andere im Verkehr nicht korrekt verhalten. So ist es nicht erlaubt, auf seinem Vortrittsrecht zu beharren und so einen Unfall zu verursachen. 

Der Entscheid ist nicht rechtskräftig. Die Parteien haben zehn Tage Zeit, um Berufung anzumelden.

Quellen
  • Anklageschrift
  • Verhandlung vom 15. April 2025 am Bezirksgericht Zürich