Wie sinnvoll ist die Verjährung?
Der Pädagoge Jürg Jegge kann für seine sexuellen Übergriffe an Kindern nicht belangt werden – die Taten sind verjährt. Warum es die Verjährung trotzdem braucht.
Veröffentlicht am 3. November 2017 - 16:33 Uhr,
aktualisiert am 3. November 2017 - 15:57 Uhr
Ganze 24 Jahre lang hat ein Mann im deutschen Bundesland Schleswig-Holstein die Leiche seiner Frau in einem Fass in der Garage versteckt. Die Leiche war in einen Sack abgepackt, zugedeckt von Katzenstreu. Dann plötzlich schreibt er einen Brief an die Polizei und gesteht den Totschlag. Nur ist dieser gemäss deutschem Recht schon lange verjährt – deshalb wurde das Verfahren eingestellt. Wäre es Mord gewesen, dann müsste er ins Gefängnis. Das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» rollte den Fall kürzlich detailliert auf. Das Fazit des Berichts: «Niemand kann ihn widerlegen, nur er selbst. Deswegen ist er ein freier Mann.»
Auch in der Schweiz sorgte die Verjährung kürzlich für Diskussionen. Der bekannte Pädagoge Jürg Jegge hat in den 1970er- und 80er-Jahren mindestens drei Buben sexuell missbraucht. Jegge selber spricht davon, mit «weniger als zehn Jugendlichen» sexuellen Kontakt gehabt zu haben. «Ich wäre strafrechtlich schuldig, wenn das nicht verjährt wäre», gab er im April in einem Interview mit der NZZ unumwunden zu. Die Staatsanwaltschaft wird die Ermittlungen gegen ihn einstellen. Auch er ist ein freier Mann.
In der Schweiz beträgt die Verjährungsfrist für sexuelle Handlungen mit Kindern und Jugendlichen über 12 Jahren in der Regel 15 Jahre. Für Totschlag sind ebenfalls 15 Jahre vorgesehen, für Mord sind es 30. Grundsätzlich richtet sich die Verjährung an der für eine Tat möglichen Höchststrafe aus (siehe «Verjährung: Das gilt»). Nicht verjähren können – und das ist neu seit dem 1. Januar 2013 – sexuelle Handlungen mit Kindern unter 12 Jahren. Weil diese Unverjährbarkeit auch rückwirkend gilt, sind davon auch Taten betroffen, die zum Zeitpunkt des neuen Gesetzes noch nicht verjährt waren. Doch aus dieser Zeit sind keine Opfer von Jegge bekannt.
Diese Gesetzesänderung basierte auf einer angenommenen Volksinitiative aus dem Jahr 2008, die verlangte, dass «die Verfolgung sexueller Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Taten unverjährbar» sind. Wieso liegt die Grenze bei 12 Jahren, wo doch explizit von «vor der Pubertät» die Rede war?
Der Bundesrat, so in seiner Botschaft zum neuen Gesetz, erachtete es als unangemessen, das Schutzalter auf höher als 12 Jahre anzusetzen. Ab diesem Alter sei grundsätzlich davon auszugehen, dass sich Opfer über die Unrechtmässigkeit der an ihnen vorgenommenen Handlungen im Klaren seien und diese folglich auch zur Anzeige bringen könnten. Ausserdem wurden nur jene Straftaten für unverjährbar erklärt, die Kinder verletzen oder traumatisieren – also beispielsweise Vergewaltigung, nicht aber der Konsum von Kinderpornografie.
Besonders stossend an beiden Fällen, sowohl beim Totschlag in Deutschland wie auch dem Fall Jegge, scheint die Tatsache, dass selbst ein geständiger Täter nicht mehr belangt werden kann und von der Verjährung geschützt wird. «Trotzdem sprechen mehrere Gründe für die Verjährung», sagt Felix Bommer, Strafrechtsprofessor an der Universität Luzern. «Wichtig vorab zu wissen ist: Das Strafrecht dient nicht in erster Linie dazu, Opfern oder deren Angehörigen Genugtuung zu verschaffen. Es stellt stattdessen sicher, dass gewisse Verhaltensweisen, auf die sich eine Gesellschaft geeinigt hat, öffentlich getadelt und nicht toleriert werden sollten.»
Bommer nennt drei Gründe, warum eine Verjährung trotz aller Kritik sinnvoll ist:
- Der Gedanke einer sogenannten «heilenden Wirkung von Zeitablauf».
Wenn ein Geschehen mehr als zehn oder 15 Jahre zurückliegt, dann nimmt das Bedürfnis der Gesellschaft als Ganzes ab, diesen Vorfall strafrechtlich aufzuarbeiten. Die Erinnerung an die Tat und damit deren Relevanz verblassen mit der Zeit – sicher für die Gesamtgesellschaft, häufig auch für die Beteiligten. Denn insbesondere bei Ehrverletzungen oder kleineren Vermögensdelikten zum Beispiel will oft auch der Geschädigte nichts mehr damit zu tun haben.
- Der Täter kann sich verändert haben.
Dahinter steckt die Überlegung, dass ein Täter nicht mehr resozialisiert werden muss, wenn dieser nach der Tat während Jahren nicht mehr straffällig geworden ist.
- Die Beweisführung wird praktisch unmöglich.
Je mehr Zeit zwischen der eigentlichen Tat und dem Gerichtsprozess vergangen ist, desto schwieriger wird es, einen fairen und zuverlässigen Prozess zu garantieren. Ein Beispiel: Zeugenaussagen sind nur schon nach kurzer Zeit mit Vorsicht zu geniessen. Wenn eine Tat schon Jahre zurückliegt, dann werden Zeugenaussagen praktisch unbrauchbar.
Der Gesetzgeber nimmt mit der Verjährungsfrist also eine Interessenabwägung vor: «Einerseits mag es Opfer geben, die eine Tat auch nach 15 oder mehr Jahren noch verfolgt haben wollen», sagt Bommer. «Andererseits fragt es sich, warum diese Opfer so lange mit einer Anzeige zugewartet haben? Hier setzt die Verjährung Grenzen. Und sie setzt sie differenziert: Wo langes Zuwarten nachvollziehbar sein kann, zum Beispiel bei gewissen Sexualstraftaten, dauert die Verjährung länger als normal.»
«Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, einen fairen und zuverlässigen Prozess zu garantieren.»
Felix Bommer, Strafrechtsprofessor an der Universität Luzern
Beim Totschlag-Fall in Deutschland haben es Behörden und Angehörige tatsächlich jahrelang versäumt, aus dem Verschwinden der Frau die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Alle Beteiligten schienen sich damit abgefunden zu haben, dass sie verschwunden ist, und verpassten es, die entscheidenden Fragen zu stellen. Und auch die Opfer von Jegge hatten die realistische Chance, sich früher und damit rechtzeitig an die Justiz zu wenden.
Die Strafverfolgung verjährt (sogenannte Verfolgungsverjährung), wenn die für die Tat angedrohte Höchststrafe...
- lebenslängliche Freiheitsstrafe ist: nach 30 Jahren.
- eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren ist: nach 15 Jahren.
- eine Freiheitsstrafe von drei Jahren ist: nach 10 Jahren.
- eine andere Strafe ist: nach 7 Jahren.
- Bei Übertretungen wie bspw. Parkbussen: nach 3 Jahren.
- Bei sexuellen Handlungen mit Kindern und Abhängigen unter 16 Jahren dauert die Verfolgungsverjährung in jedem Fall bis zum vollendeten 25. Lebensjahr des Opfers.
Keine Verjährung tritt ein für...
- Völkermord
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit
- Kriegsverbrechen
- Verbrechen, die das Leben vieler Menschen in Gefahr brachten oder zu bringen drohten (bspw. Terrorismus)
- sexuelle Handlungen, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung oder Schändung, wenn Kinder unter 12 Jahren betroffen sind (seit 2013)