«Für uns ist das Thema mittlerweile gegessen»
Verschiedene Ernährungsformen an einem Familientisch zu vereinen, ist eine Herausforderung – aber nicht unmöglich.
Veröffentlicht am 9. April 2021 - 17:16 Uhr
«Am Anfang fand ich das eine Katastrophe», sagt Monika Hort. «Mit vegetarisch konnte ich mich arrangieren. Aber vegan? Viel zu kompliziert!» Auch die Begeisterung von Markus Hort, dem Vater der 17-jährigen Ilona, hielt sich in Grenzen: «Ich wusste nicht genau, was Veganismus ist, und machte mir Sorgen, ob das eine beginnende Magersucht sein könnte.»
Keine seltene Situation, bestätigt Annina Pauli, die als Ernährungsberaterin am Ernährungszentrum Zürich arbeitet. «Wenn Jugendliche anders essen wollen, birgt das Konfliktpotenzial.» Die Umstellung bedinge, dass sich die ganze Familie informiere und mit dem Thema auseinandersetze. Annina Pauli empfiehlt Eltern, die Wünsche des Nachwuchses ernst zu nehmen und nach Kompromissen zu suchen, die weiterhin gemeinsame Mahlzeiten ermöglichen.
Pickel wegen Milch
Vor drei Jahren hat Ilona Hort ihrer Familie eine vegetarische Fastenzeit vorgeschlagen. Während Mutter, Vater und Schwester danach wieder zum üblichen Speiseplan zurückkehrten, setzte sich die damals 14-Jährige vertieft mit der Lebensmittelproduktion auseinander. «Nachdem ich viel gelesen und gesehen hatte, war für mich klar, dass es in Bezug auf die Tierethik und unsere Umwelt nur einen Weg gibt: eine vegane Ernährung.»
Trotzdem drückte sich der Teenager erst davor, der Familie zu erzählen, Veganerin werden zu wollen. Stattdessen behauptete sie, sie bekäme von Milch Pickel oder hätte gerade keine Lust auf Poulet. «Eines Tages sagte meine Mutter: ‹Kind, du wirst nicht etwa vegan?›», erzählt Ilona Hort.
In der Schweiz ernähren sich rund fünf Prozent der Bevölkerung vegetarisch oder vegan. Gemäss Swiss Veg, der Interessenvertretung vegetarisch und vegan lebender Menschen in der Schweiz, sind die meisten davon zwischen 14 und 34 Jahre alt. Ein Trend, den auch Annina Pauli in ihrer Praxis erlebt: «Veganismus ist bei Jugendlichen ein populäres Thema.»
Dabei sei der Übergang von vegetarischer zu veganer Ernährung fliessend. «Es gibt Jugendliche, die genau wissen, welche Nahrungsmittel wo drinstecken. Und es gibt diejenigen, denen nicht klar ist, dass etwa in einem Zopf Ei und Butter verarbeitet wurden.»
«Ich hatte Angst, dass Ilona etwas fehlen würde.»
Monika Hort, Mutter von Ilona
Eine gesunde Auseinandersetzung mit der eigenen Ernährung hält die Ernährungsberaterin für sinnvoll. Wichtig sei dabei vor allem eins: «Man darf nicht nur Nahrungsmittel weglassen, sondern muss sich erkundigen, welche alternativen Produkte zu einer ausgewogenen Ernährung beitragen.»
Genau dieses Thema trieb Monika Hort um, als Tochter Ilona immer häufiger tierische Produkte verweigerte. «Man sagt, dass im Fleisch wichtige Nährstoffe für den Knochenaufbau stecken. Ich hatte Angst, dass Ilona etwas fehlen würde.»
Deshalb liess sich die Familie vom Hausarzt und zwei Ernährungsexpertinnen – eine vegan, eine nicht – beraten. Ilona Hort konsumiert heute vermehrt Hülsenfrüchte, Tofu, Haferflocken und Sojamilch. Zusätzlich gibts ein B12-Präparat, um einem möglichen Mangel vorzubeugen. Die Veganerin ist überzeugt: «Ich ernähre mich heute sehr viel gesünder als früher, probiere mehr aus, bin nicht mehr so heikel.»
Ihre Familie hat sich mit der Ernährungsumstellung mittlerweile abgefunden und kocht oft eine vegane Grundlage, die sie dann mit einem Stück Fleisch oder Tofu individuell ergänzen. Nur beim Fondue kommen zwei Caquelons auf den Tisch: eines mit geschmolzenem Käse und eines mit einer veganen Käsealternative. «Damit muss sie leben, dass wir ab und an Lust auf ein Käsefondue haben. Es braucht von beiden Seiten Verständnis und Kompromissbereitschaft», sagen die Eltern.
Dafür verzichtet Ilona Hort im Alltag darauf, ihre Eltern für ihren Fleischkonsum zu kritisieren. «Meine Eltern argumentieren, Fleisch aus der Schweiz sei ethisch vertretbar. Ich glaube, das sind faule Ausreden, weil sie nicht darauf verzichten wollen. Aber das muss ich ihnen ja nicht immer sagen.»
Immerhin: Seit die Tochter vegan isst, sei die ganze Familie aufmerksamer geworden und wähle öfter als früher eine fleischlose Variante, erzählt Vater Markus: «Mittlerweile haben wir als Familie einen guten Umgang damit gefunden. Für uns ist das Thema gegessen.»
Viele Teenager setzen sich heute mit Ernährung auseinander. Einschätzungen zu den wichtigsten Trends von Ernährungsberaterin Annina Pauli.
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Vegetarische/vegane Ernährung
Vegetarierinnen verzichten auf Produkte, für die ein Tier getötet wurde, Veganer zusätzlich auf sämtliche tierischen Produkte, also etwa auch auf Milch, Eier, Käse.
Einschätzung von Annina Pauli:
«Der grösste Vorteil besteht darin, dass Jugendliche mehr Gemüse und Früchte essen. Eine vegetarische Ernährung bei Jugendlichen wird als unbedenklich eingestuft, doch die Ernährungsgesellschaften im deutschsprachigen Raum raten davon ab, sich in diesem Alter vegan zu ernähren.
Aus meiner Sicht kommt es vor allem darauf an, wie gut sich die Teenager und deren Familien mit der Ernährung auseinandersetzen. Sie müssen lernen, welche Nährstoffe aus welchen Quellen bezogen werden können. So gibt es Kalzium, das für den Knochenaufbau wichtig ist, nicht nur in der Milch, sondern beispielsweise auch in mit Kalzium angereicherten veganen Joghurts oder Sojamilch.
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Clean Eating
Es wird auf industriell verarbeitete Produkte verzichtet. Dazu gehören Fertiggerichte, Fast Food oder Produkte mit raffiniertem Zucker.
Einschätzung von Annina Pauli:
«Gesundheitlich betrachtet gibt es nur Vorteile, wenn Jugendliche auf verarbeitete Produkte verzichten. Auch das Risiko für Übergewicht wird dadurch reduziert. Die Umsetzung ist allerdings eine Herausforderung. Der Einkauf und auch soziale Aktivitäten können zum Spiessrutenlauf werden. Dadurch kann eine ungesunde Fokussierung aufs Essen entstehen.»
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Proteinreiche/kohlenhydratarme Ernährung
Mahlzeiten werden so zusammengestellt, dass Kohlenhydratquellen wie Teigwaren, Reis oder Brot reduziert und der Anteil proteinreicher Nahrungsmittel wie Eier, Lachs oder Poulet erhöht werden.
Einschätzung von Annina Pauli:
«Dieser Ernährungstrend kommt aus der Fitnessbewegung und ist besonders bei männlichen Jugendlichen beliebt – wegen des Muskelaufbaus. Doch gerade im Wachstum sind Kohlenhydrate sehr wichtig. Zudem besteht die Gefahr, durch eine längerfristige Überversorgung mit Protein die Niere zu schädigen.»
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