Boosten ist längst nicht immer sinnvoll
Warum eine weitere Dosis zwar für Risikogruppen empfehlenswert ist, für die Allgemeinbevölkerung aber auch schädlich sein könnte.
Veröffentlicht am 9. September 2021 - 09:59 Uhr
Manche fordern derzeit halbjährliche Booster-Impfungen für alle, andere erschleichen sich die dritte Vakzindosis durch illegale Registrierung in einem anderen Kanton. Und das, obwohl die dritte Dosis in der Schweiz bislang nicht zugelassen und vom Bundesamt für Gesundheit auch nicht vorgesehen ist. Ob der erneute Boost überhaupt für alle notwendig wird, ist längst noch nicht klar. «Ich wäre zurückhaltend, was eine dritte Impfdosis angeht», sagt Andreas Radbruch von der Berliner Charité-Universitätsmedizin. «Man kann Impfstoffe nicht beliebig oft wie Gummibärchen einwerfen.»
Radbruch, Pionier bei der Erforschung des immunologischen Gedächtnisses, sagt: «Das Immunsystem weiss schon, warum es nicht von sich aus eine ständige Reaktion gegen einen Erreger bereitstellt. Quasi jede Autoimmunreaktion hat ihren Ursprung in einer fehlgeleiteten, chronischen Infektion – um die Gefahr dafür nicht unnötig zu erhöhen, würde ich davon abraten, ohne Datenbasis alle Menschen ständig zu boosten.»
Langfristige Abwehr
Radbruch will das keinesfalls als Argument gegen eine Impfung verstanden wissen. «Die mRNA-Impfstoffe sind sehr effektiv, kurzfristig Ansteckungen und langfristig schwere Covid-19-Verläufe zu verhindern», sagt er. «Vielleicht waren die vier Wochen Abstand zwischen den ersten beiden Impfungen, die wir anfangs eingehalten haben, nicht optimal für eine langfristige Immunität.»
Ein längerer Abstand sei besser, damit der Körper auch langfristig mehr Antikörper bilden könne. Da deren Menge im ersten halben Jahr abnimmt, gilt: Je höher der Ausgangswert, desto länger die Schutzwirkung . Deshalb bietet die Moderna-Impfung auch zunächst einen noch besseren Schutz als die von Biontech/Pfizer, wie zwei aktuelle Studien zeigen. Der Grund ist wohl, dass der Impfstoff von Moderna pro Dosis mehr als dreimal so viel mRNA enthält wie der von Biontech/Pfizer.
Normale Durchbrüche
Dennoch kommt es bei allen Corona-Impfstoffen irgendwann zu Durchbruchinfektionen. «Es ist ganz normal, dass nach einer Impfung oder Infektion die Antikörperkonzentration im Blut abfällt», sagt er. «Nach einem halben Jahr liegt diese dann meist nur noch bei 20 Prozent des Maximalwerts – aber etwa auf diesem Niveau bleibt sie dann auch für lange Zeit.» Andreas Radbruch entdeckte 1997 mit Kollegen die Zellen, die für diese Langzeitproduktion von Antikörpern verantwortlich sind. Sie nisten sich im Knochenmark ein.
Bei Covid-Genesenen wurden diese langlebigen Antikörperfabriken schon nachgewiesen. Und zwar in etwa gleicher Menge, wie sie auch nach Impfungen gegen Diphtherie und Tetanus dort vorliegen. Diesbezügliche Daten zur mRNA-Impfung gibt es noch nicht. «Aber ich gehe davon aus, dass es bei den Corona-Impfstoffen ähnlich sein wird», sagt Andreas Radbruch. «Ich erwarte durch die mRNA-Impfstoffe eine jahrzehntelang anhaltende Immunität.» Aber: «Wenn man eine hohe Dosis Virus abbekommt, kann man sich trotzdem infizieren», sagt Immunologe Radbruch. Tatsächlich haben die Durchbruchinfektionen erst mit der Delta-Variante zugenommen – sie ruft eine etwa 1000-fach höhere Viruslast hervor als vorherige Virusstämme.
«Speicherplatz» beschränkt
Allerdings sind diese Durchbrüche vom Körper quasi vorgesehen. «Das Immunsystem kann nicht gegen alle Erreger so hohe Antikörperkonzentrationen vorhalten, dass der Körper gegen jegliche Infektion komplett geschützt ist», sagt Radbruch. «Es muss ressourcenschonend arbeiten.» Der Körper setzt dafür auf sein immunologisches Gedächtnis. Gedächtniszellen erinnern sich bei Kontakt mit einem Erreger daran, dass sie diesen kennen – ob durch Impfung oder Infektion –, und werfen die Antikörperproduktion an. Diesen Prozess ruft das Boosten hervor. In der Regel ist danach – wie nach einer neuerlichen Infektion – die Antikörperkonzentration auch höher als nach dem ersten Kontakt. Wiederum bleiben davon langfristig 10 bis 20 Prozent im Blut, und dieser Prozess kann sich mehrfach wiederholen.
«Das Immunsystem passt sich immer an», sagt Andreas Radbruch. «Gegen einen Erreger, der ständig zirkuliert, kann auf diese Weise sogar ein so hoher Antikörperspiegel entstehen, dass er komplett vor einer erneuten Infektion schützt.» Doch der Platz für Plasmazellen im Knochenmark ist begrenzt. «Für jede neue Plasmazelle, die sich einnistet, verliert man im ungünstigsten Fall eine Zelle, die für die Bekämpfung eines anderen Erregers zuständig ist.»
Das bedeutet, Drittimpfungen gegen Corona könnten für andere Infekte anfälliger machen, ohne dass sie notwendig sein müssen. «Die Impfung schützt vor schweren Krankheitsverläufen, auch wenn es zu einer Durchbruchinfektion kommt», sagt Richard Neher, Professor für Virusevolution am Biozentrum Basel und Mitglied der Taskforce.
In Israel steigen die Fallzahlen trotz recht hoher Impfquote, aber der zwischenzeitlich berichtete stark nachlassende Schutz vor schweren Verläufen wird mittlerweile von Fachleuten vor allem als statistische Verzerrung interpretiert. «Unter den Älteren sind fast alle geimpft in Israel, aber in dieser Gruppe ist das Risiko, schwer zu erkranken, auch zigfach erhöht», sagt Neher. «Wenn man die Alten und die Jungen bei einer Analyse in einen Topf wirft, kommt Unsinn heraus – in allen Altersgruppen bleibt der Schutz vor Spitaleinweisung durch Impfung hoch.»
Alte ja, Junge nein
Ältere Menschen und Immunsupprimierte haben jedoch ein grösseres Risiko, mit einer Durchbruchinfektion ins Spital zu kommen. «Sie bilden von Anfang an oft wenig Antikörper als Reaktion auf die Impfung», erklärt Christian Münz, Immunbiologe an der Uni Zürich. Der Grund ist, dass sich die Antikörper produzierenden Zellen bei ihnen nicht mehr so gut stimulieren lassen.
Münz plädiert wie Radbruch für eine dritte Impfung der Risikogruppen noch vor dem Winter. Für den Rest der Bevölkerung vertrauen Immunologen auf das immunologische Gedächtnis von doppelt Geimpften. «Wir müssen da langsam umdenken – die milde Reinfektion ist etwas Gutes, weil sie die Immunität boostet», sagt Münz. Die Fachleute rechnen damit, dass Sars-CoV-2 ähnlich wie die anderen Coronaviren, die bei uns vorkommen, künftig regelmässig Erkältungen auch bei Geimpften hervorrufen wird und sich so eine Immunität in der Bevölkerung einstellt.
Effekt bei Long Covid
Die grosse Unbekannte ist derzeit noch Long Covid. «Mir fällt es schwer, die Zahlen zu Long Covid einzuordnen», sagt Taskforce-Mitglied Richard Neher. «Es ist extrem schwierig, die vielgestaltige Symptomatik zu beschreiben und eine Gruppe zu definieren, mit der man die Infizierten vergleichen kann.» Es besteht die Gefahr der Verzerrung etwa dadurch, dass Leute mit lang anhaltenden Symptomen häufiger auf Umfragen reagieren.
«Die gute Nachricht ist: Long Covid vergeht, nach allem, was wir wissen, meistens nach einiger Zeit», sagt Andreas Radbruch. Zwei aktuelle Studien zeigen, dass Geimpfte ein um 50 Prozent reduziertes Risiko hatten, Long Covid zu entwickeln. «Wir können mit der Impfung also etwas tun gegen sämtliche negativen Auswirkungen einer Sars-CoV-2-Infektion», sagt Richard Neher. «Das sollten wir wahrnehmen, denn mittelfristig sehe ich keine Möglichkeit, wie wir verhindern sollten, dass das Virus in der Bevölkerung zirkuliert.»
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12 Kommentare
Ich habe gestern Mi. 15.09.2021 dem BAG per Mail auf seiner Internetseite folgende Anfrage gesandt :
Sehr geehrte Damen und Herren
Ich möchte mich mit einem "normalen" Impfstoff, demjenigen von Janssen/Johnson & Johnson, hier in der Schweiz impfen lassen , und frage Sie deshalb an : Wo und ab welchem Datum ist das möglich ?
Zusätzlich habe ich dazu noch einige Erläuterungen angefügt . Die Antwort kam in Form von 2 automatisch generierten Mails , dreisprachig , mit vielen Links auf Meldungen , aber keiner konkreten Antwort auf meine Anfrage.
Meine Bitte an den Beobachter : Stellen Sie diese Frage an das BAG ebenfalls und machen Sie in dieser Sache Druck .
Freundliche Grüsse BZ und PS
Sehr geehrte User, besten Dank für Ihre Anfrage. Wir verfolgen das Thema mit den Impfstoffen eng, im Moment können wir Ihnen aber auch noch nicht mehr dazu sagen, ab wann und wo Sie sich mit dem Johnson & Johnson-Impfstoff werden impfen lassen können. Es braucht hier wohl noch ein wenig Geduld. Besten Dank für Ihr Vertrauen und Ihr Verständnis. Freundliche Grüsse, Ihre Beobachter-Redaktion
Vor über einem Jahr bin ich stark an Corona erkrankt. Im Juli diesen Jahres habe ich auf eigene Kosten einen Antikörpertest gemacht. Resultat ist, dass ich viele Antikörper habe und demzufolge immun bin. Trotzdem erhalte ich kein Zertifikat. Um ein Zertifikat zu bekommen, muss ich mich impfen lassen - unabhängig davon, ob ich schon immun bin oder nicht. Der Impfstoff wird tatsächlich abgegeben wie Gummibärchen - eine bestehende Immunität wird gar nicht in Erwägung gezogen. In meinen Augen sind viele Corona-Massnahmen wenig vertrauenswürdig, widersprüchlich und nicht sinnvoll.
Unsere Regierung hat bewiesen, dass sie trotz hochbezahlter Beamten und Spezialisten unfähig sind, mit dem Thema umzugehen. Um davon abzulenken, machen sie einfach irgend etwas und das möglichst autoritär.
Guten Tag
@dtfish :
Das BAG hat mir im Juli geschrieben, sie seien noch nicht so weit, mir ein Zertifikat auszustellen obwohl ich als Genesene einen Bluttest mit genügend Antikörper nachweisen kann. Ob sich in der Zwischenzeit etwas geändert hat?
Das "Team-Covid" des BAG hat mir vor zwei Wochen geschrieben: ".... Da das Schweizer Covid-Zertifikat (admin.ch) an die europäischen Zertifikate angeschlossen ist, um eine möglichst grosse Personenfreizügigkeit zu gewährleisten, müssen darum auch die Normen des europäischen Zertifikats als Grundlage gelten. Nach diesen Grundlagen wird ein Zertifikat für Genesene nur ausgestellt, wenn eine Infektion über ein positives PCR-Ergebnis nachgewiesen wurde, und die Genesung nicht länger als 6 Monate zurückliegt." Man macht es wie es die EU vorgibt - eine bestehende Immunität spielt überhaupt keine Rolle.
Warum hat Berset wohl 33 Mio Dosen für 2022 bestellt?
Würde man diese Dosen wirklich brauchen und das BAG (nicht Berset) hätte sie nicht vorbestellt, käme sofort der Vorwurf, man hätte es verschlammt.