Medizinische Hilfe um jeden Preis?
Das Coronavirus kann einen schwer krank und eine Beatmung notwendig machen. Doch nicht alle wollen intensivmedizinisch behandelt werden. Wie kann man vorsorgen, damit im Notfall der eigene Wille zählt?
Veröffentlicht am 25. März 2020 - 09:08 Uhr
Die Bilder aus Italien schockieren: Corona-Patienten, die auf dem Bauch liegend beatmet werden oder die mit einer Art Kanister über den Kopf gestülpt reglos in ihren Betten liegen. Die Angst, bald selbst in einer solchen Situation zu stecken, treibt viele um.
Und die Frage: möchte ich das überhaupt? Denn in der Schweiz hat jede und jeder die Möglichkeit, auf eine Behandlung zu verzichten – wenn sie oder er diesen Willen rechtzeitig festhält. Dies kann man in einer Patientenverfügung . Basierend auf einem Gespräch mit Ruth Baumann-Hölzle, Institutsleiterin der Stiftung Dialog Ethik, haben wir die wichtigsten Fragen und Antworten zur Patientenverfügung zusammengestellt.
- Jetzt ist oft von einer Patientenverfügung die Rede. Was ist das und was kann ich damit regeln?
- Brauche ich für die Patientenverfügung ein Formular?
- Was sind derzeit die wichtigsten Fragen, die man beantworten soll?
- Wo soll ich die Patientenverfügung aufbewahren?
- Wer entscheidet, wenn ich keine Patientenverfügung habe?
- Ich möchte, dass alle Massnahmen ausgeschöpft werden. Kann ich das so verfügen?
- Kann man eine Patientenverfügung nur für den Fall einer schweren Corona-Erkrankung aufsetzen?
- Kann ich eine Patientenverfügung, die ich jetzt ausfülle, später widerrufen?
- Ich habe keine Angehörigen hier in der Schweiz. Kann ich mit einer Patientenverfügung dafür sorgen, dass mich enge Freunde besuchen kommen können?
- Welche Dokumente brauche ich sonst noch, wenn ich wegen des Coronavirus ins Spital muss?
In einer Patientenverfügung hält man schriftlich fest, welche Therapien und Behandlungsmethoden man im Notfall möchte – und welche nicht. Sie können zum Beispiel festlegen, dass Sie bei einem Herzinfarkt wiederbelebt werden möchten, aber dass man Sie nicht künstlich beatmen soll, wenn Sie am Coronavirus erkranken. Zudem können Sie in einer Patientenverfügung eine Vertretungsperson einsetzen, die im Notfall weiss, wie Sie therapiert werden möchten, und welche Massnahmen Sie ablehnen. Das Behandlungsteam entscheidet in Absprache mit dieser Person, ob lebenserhaltende Massnahmen angewendet oder fortgeführt werden oder nicht. Damit diese Vertrauensperson im Notfall in Ihrem Sinn entscheiden kann, müssen Sie die festgehaltenen Punkte in der Patientenverfügung eingehend mit ihr besprechen. Im Moment sollten Sie dies am besten telefonisch tun.
Nein, es ist nicht zwingend notwendig, einen vorgefertigten Fragebogen auszufüllen. Die Patientenverfügung hat keine formalen Ansprüche, ausser dass sie datiert und unterschrieben sein muss. Wer dennoch anhand einer Struktur vorgehen möchte, findet im Beobachter-Buch «Ich bestimme. Mein komplettes Vorsorgedossier» ein Formular.
- Will ich reanimiert werden oder nicht?
- Will ich auf der Intensivstation behandelt werden?
- Wenn Intensivstation ja: will ich alle Massnahmen ausschöpfen?
- Wer soll mich stellvertreten, wenn ich nicht mehr urteilsfähig bin?
Wer die medizinischen Fragen nicht beantworten möchte, kann in der Patientenverfügung auch angeben, dass die Vertretungsperson über alle Fragen entscheidet. Beim Stellvertreter ist es wichtig, sich zu überlegen, wer emotional in der Lage sein wird, in der Ausnahmesituation weitreichende Entscheide zu fällen, etwa, ob die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt werden sollen. Dies muss nicht zwingend die Person sein, die uns emotional am nächsten steht. Wichtig ist, mit der Stellvertretung zu reden und ihr mitzuteilen, was man für sich als gutes Leben empfindet und was ein gutes Sterben.
Die Patientenverfügung sollten Sie zu Hause an einem leicht auffindbaren Ort aufbewahren und eine Karte gut sichtbar im Portemonnaie mitführen, auf der Sie vermerken, dass Sie eine Patientenverfügung haben und wo sie sich befindet. Zudem sollte man der stellvertretenden Person eine Kopie der Verfügung abgeben.
Wenn lebenserhaltende Therapien notwendig werden und keine Patientenverfügung vorhanden ist oder keine Person genannt ist, die stellvertretend entscheidet, kommt die sogenannte Kaskadenordnung zum Zug:
- Hat die Patientin keinen gesetzlichen Beistand für medizinische Angelegenheiten und ist sie verheiratet ist oder lebt in einer eingetragenen Partnerschaft, so entscheidet der (Ehe-)Partner.
- Lebte der urteilsunfähige Patient gemeinsam mit einer Partnerin in einem gemeinsamen Haushalt und steht diese ihm regelmässig und persönlich bei, so entscheidet sie.
- Hat die Patientin keinen Partner und lebt alleine, so entscheiden die Kinder, wenn sie der Patientin schon zuvor regelmässig und persönlich Beistand geleistet haben
- Trifft all das auf den Patienten nicht zu, so entscheiden die Eltern, wenn sie dem Patienten zuvor regelmässig Beistand geleistet haben.
- Können die Eltern keine Entscheide für den Patienten treffen, so entscheiden die Geschwister, sofern sie dem Patienten regelmässig Beistand geleistet haben.
- Hat eine Patientin oder ein Patient keine dieser Vertrauenspersonen oder können sich mehrere gleichberechtigte Vertreter nicht einigen (zum Beispiel mehrere Kinder), so muss die Kesb informiert werden.
Ja, man darf festlegen, dass man mit allen medizinisch möglichen und sinnvollen Therapiemöglichkeiten behandelt werden möchte. Nicht einfordern kann man aber unwirksame Massnahmen. Und man kann sich mit einer Patientenverfügung auch kein Recht auf Behandlung erzwingen. Dies gilt besonders, wenn die Intensivstationen der Spitäler voll sind. Hier greifen die Triage-Kriterien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).
Einerseits dürfen Corona-Patienten nicht anderen Patienten mit anderen Erkrankungen gegenüber bevorzugt werden. Und auch das Alter des Patienten darf nicht alleine entscheidend sein, ob er intensivmedizinisch betreut wird oder nicht, sondern nur dann, wenn es die Wirksamkeit von medizinischen Massnahmen beeinflusst. Hingegen werden Ärztinnen und Pfleger gezwungen sein, Patienten abzulehnen, wenn die Intensivstation voll ist. Dann würden die Patienten nur noch palliativ auf der Normalstation behandelt. So könnte einem Krebspatienten, bei dem die Krankheit schon weit fortgeschritten ist, die Behandlung auf der Intensivstation verweigert werden, ebenso einem Patienten mit Alzheimer im Endstadion. Zudem ruft die SAMW die Mediziner dazu auf, möglichst auf Behandlungen zu verzichten, bei denen mehrere Pfleger für einen einzelnen Patienten notwendig sind.
Ja, das kann man immer. Man kann sie entweder vernichten oder den Widerrufswillen datiert und unterschrieben in der Patientenverfügung hinterlegen. Es empfiehlt sich ohnehin, die Patientenverfügung zu überprüfen, ob der dort bekundete Wille noch den aktuellen Gegebenheiten entspricht, wenn sich die Lebensumstände ändern. Danach ist es wichtig, allfällige Änderungen oder die Bezeugung, dass die vorliegende Version noch dem aktuellen Willen entspricht, neu zu datieren und zu unterschrieben. Zwar ist auch eine vor 20 Jahren verfasste Patientenverfügung noch gültig, aber eine Aktualisierung erleichtert den Medizinern und der Stellvertretung die Behandlungsentscheidung.
Viele Spitäler haben jetzt die Besuchsrechte stark eingeschränkt, sodass nur noch engste Angehörige – wenn überhaupt – den Patienten besuchen können. Am Universitätsspital Zürich werden beispielsweise nur noch Besuche bei ausserordentlichen Situationen gestattet, etwa Eltern von hospitalisierten Kindern oder nahe Angehörige von sterbenden oder unterstützungsbedürftigen Patienten. Falls der Patient keine Patientenverfügung habe, werde der Patient nach Möglichkeit gefragt, wer die vertretungsberechtigte Person ist.
Zunehmend werden aber auch diese Besuche von Spitälern verweigert, weil das Ansteckungsrisiko zu hoch ist. Personen, die in der Schweiz keine Angehörigen haben, sollten aber unbedingt Namen und Kontaktdaten von Angehörigen oder engen Vertrauenspersonen im Ausland notieren und einen Hinweis im Portemonnaie deponieren, wo diese Kontaktdaten aufbewahrt sind. Das erleichtert dem ohnehin überlasteten medizinischen Personal die Arbeit. Denn wenn keine vertretungsberechtigte Person bekannt ist, versucht das Spital über die Polizei Angehörige zu finden, wenn der Patient verstirbt. Wenn auch dies nicht möglich ist, wird der Tod der Person den Zivilstandsamt der Wohngemeinde gemeldet.
- Einen umfassenden Überblick über das Thema Patientenverfügung, Vorsorgeauftrag, weitere Anordnungen für den Todesfall oder auch Organspenden liefert das Beobachter-Buch «Ich bestimme. Mein komplettes Vorsorgedossier» von Käthi Zeugin.
- Für Fragen zu Spital oder Heim, Unterstützung bei medizinischen und pflegerischen Entscheidungen und Beratung zu Patientenverfügung und Vorsorgedossier bietet die Stiftung Dialog Ethik ein Beratungstelefon an unter der Nummer 0900 418 814 (CHF 2.- ab Festnetz, füt Mitglieder der Stiftung auf Anfrage kostenlos). Zudem finden sich umfassende Dokumente auf der Webseite www.dialog-ethik.ch
«Ich bestimme. Mein komplettes Vorsorgedossier»
Welche lebensverlängernden Massnahmen möchte ich nach einem schweren Unfall? Wer tritt für meine Interessen ein, wenn ich urteilsunfähig werden sollte? Mit der Mustervorlage «Patientenverfügung» und «Vorsorgeauftrag» können Beobachter-Mitglieder heute schon entscheiden.
1 Kommentar
Gerade auch bei älteren, alten Menschen, ist eine entsprechende Verfügung unbedingt angezeigt. Alte Menschen um jeden Preis am Leben zu erhalten, ist abnormal, absurd und schlussendlich nicht der Sinn des Lebens!