«Demenz ist nicht einfach langsames Vergessen und Erlösung»
Demenz ist viel mehr als allmähliches Vergessen, warnt Psychiater Christoph Held. Angehörige sollten sich früher vom Wunsch befreien, möglichst lange zu Hause zu pflegen.
Veröffentlicht am 10. April 2018 - 16:42 Uhr,
aktualisiert am 12. April 2018 - 15:16 Uhr
Christoph Held, 67, war langjähriger Heimarzt und Gerontopsychiater in den Pflegezentren der Stadt Zürich. Auf Anfang 2018 hat er sein Pensum reduziert, unterrichtet aber weiter an der Uni Zürich und an Fachhochschulen zu Demenz. Held ist Autor von Fachbüchern und Erzählungen rund um das Thema. Sein neustes Buch «Bewohner» mit Lebensgeschichten von Alzheimerpatienten ist 2017 im Dörlemann-Verlag erschienen.
Beobachter: Es gibt Episoden mit Demenzbetroffenen, bei denen man unwillkürlich lachen muss – und dann ein schlechtes Gewissen hat. Demenz und Humor: Verträgt sich das?
Christoph Held: Das kann sich durchaus vertragen. Humor ist eine gute Möglichkeit, auf die erhaltenen geistigen Fähigkeiten von Erkrankten zuzugreifen.
Beobachter: Warum?
Held: Demenz hat mit der Veränderung des autobiografischen Gedächtnisses zu tun, letztlich mit dem «Wer bin ich?». Dazu gibt es aber auch Dinge, die wir nicht erlebt, sondern gelernt und geübt haben. Fakten, Sprachen, Religion, auch Lieder, Sprüche, Witze. Diese Gedächtnisform bleibt oft länger erhalten. Daher kann man eben auch Humoristisches nutzen im Umgang mit Demenzpatienten, um sie emotional zu erreichen – während sie gleichzeitig nicht mehr wissen, wie sie heissen.
Beobachter: Der erste Reflex auf Demenz ist aber Angst. Was macht diese Krankheit so unheimlich?
Held: Dass man sie medizinisch kaum beeinflussen kann. Es ist eine neurodegenerative Krankheit. Der Verlust von Nervenzellen im Gehirn schreitet fort und ist nicht aufzuhalten.
«Am Ende hat die Krankheit den Demenzkranken die Lebensgeschichte weggefressen.»
Christoph Held
Beobachter: Es gibt auch andere Krankheiten mit schlechter Prognose.
Held: Sicher, aber das Tragische an der Demenz ist, dass sie einhergeht mit einer Veränderung der Selbsterfahrung. Alles, was man im Leben einmal war, wird verändert und relativiert. Das führt dazu, dass Betroffene über ihr Kranksein oft nicht reflektieren und sich nur bruchstückhaft gegen aussen vermitteln können. So verlieren sie die Selbstbestimmung, nicht nur im Hinblick auf rechtliche und administrative Dinge, sondern oft auch über ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse.
Beobachter: Eine beklemmende Erfahrung. Wie merkt das die Umgebung?
Held: Indem die Symptome wahrgenommen werden, die wir aus der Psychiatrie kennen – Angst, Unruhe, Schlaflosigkeit
, Wahn,
Halluzinationen. Man muss der Meinung entgegentreten, Demenz sei einfach ein langsames Vergessen von allem und damit auch eine Erlösung von dem, was war – getreu dem Motto aus der «Fledermaus»: «Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.» Diese Krankheit geht für die Betroffenen einher mit innerer Zerrissenheit, Verlorenheit und verändertem Zeiterleben.
Beobachter: Was heisst das?
Held: Für demenzkranke Menschen kann die Zeit oft buchstäblich stillstehen, und dann überkommt sie mit grosser Heftigkeit Vergangenes, das sie eben gerade nicht vergessen können. Sie erleben dann oft die Vergangenheit als Realität, halten sich zum Beispiel für viel jünger, als sie sind. Am Ende hat die Krankheit ihre Lebensgeschichte weggefressen.
Beobachter: Und die Gegenwart ist gänzlich verschwunden?
Held: Nicht unbedingt. Demenz ist ein sehr wechselhaftes Zustandsbild. Es gibt immer wieder luzide Momente, in denen die Betroffenen ihre aktuelle Situation glasklar erkennen. Auf einer Visite habe ich eine Patientin erlebt, die lange kein Wort mehr geredet hat und dann plötzlich sagt: «Es tut mir leid, dass ich euch solche Schwierigkeiten mache.» Das sind existenzielle Momente.
«Oft beklagen Betroffene eine innere Verunsicherung: ‹Etwas stimmt nicht mehr mit mir.›»
Christoph Held
Beobachter: Demenzkranke wissen häufig nicht mehr, wie ganz alltägliche Verrichtungen funktionieren. Kann dieses Wissen ebenfalls wieder aufflackern?
Held: Nein. Diese Fähigkeiten verlieren Betroffene unwiderruflich – oft in der umgekehrten Reihenfolge, wie sie sie als Kind erlernt haben. Diese Rückwärtsentwicklung verläuft meist nicht linear, sondern in Abstufungen. So kann jemand sehr lange die Zähne selber putzen, und auf einmal, innerhalb weniger Tage, weiss er nicht mehr, wozu eine Zahnbürste überhaupt da ist. Das kommt auch durch Training nicht wieder zurück, es ist wie gelöscht – und Betroffene können sich das alles überhaupt nicht erklären. In solchen Phasen zeigen sie häufig ein unruhiges, mitunter aggressives Verhalten, wenn man sie mit gutgemeinten Hilfestellungen überfordert.
Beobachter: Für Aussenstehende sind solche Veränderungen schwer nachvollziehbar. Wie reagiert man am besten?
Held: Man muss einfach akzeptieren, dass die erkrankte Person dies und das jetzt nicht mehr kann. Nicht hilfreich ist, Druck zu machen im Sinn von: «Eben ist es doch noch gegangen. Wieso kannst du das jetzt nicht mehr?»
Beobachter: Eine verzweifelte Frage.
Held: Noch verzweifelter ist: «Was suchst du denn die ganze Zeit?», wenn ein Betroffener ziellos in der Wohnung umhergeht. Suchen und Finden ist ja genau das, was er nicht mehr kann. Das Verständnis der Umgebung macht extrem viel aus bei der Demenz, während Medikamente leider nur sehr wenig helfen.
Beobachter: Demenz schleicht sich schon Jahre vorher langsam an. Wie äussern sich die frühen Symptome?
Held: Das zeigt sich in individuellen Wesensveränderungen und Verhaltensauffälligkeiten, die vielfach mit bisherigen Gewohnheiten brechen. Ein geiziger Mann lädt im Restaurant alle ein, eine pingelige Frau lässt auf einmal alles durchgehen. Oft beklagen Betroffene eine innere Verunsicherung: «Etwas stimmt nicht mehr mit mir.» In den frühen Krankheitsphasen nehmen sie ihre Vergesslichkeit und Desorientiertheit durchaus wahr, und nicht selten versuchen sie, das zu überspielen. Oder sie ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück, aus Angst, sich blosszustellen. Oft ist es schwierig, diesen Zustand von einer Depression zu unterscheiden, die bei einer beginnenden Demenz auftreten kann.
Beobachter: Ist es sinnvoll, sich bei frühen Verdachtsmomenten medizinisch abklären zu lassen?
Held: Auf jeden Fall. Eine Frühdiagnose ist immer anzustreben. Denn es gilt ja, die behandelbaren Ursachen von Vergesslichkeit wie Depression oder Vitaminmangel auszuschliessen. Und natürlich geht es auch darum, beim Betroffenen und seinen Angehörigen das Bewusstsein für diese Krankheit zu schaffen – ein schwieriger Prozess. Denn der Erkrankte und sein Umfeld sollten sich möglichst schon früh Gedanken machen über die zukünftige Betreuung.
Beobachter: Dennoch: Die Diagnose ist ein Schock – die Krankheit ein Tabu. Auch deshalb versuchen Betroffene wohl, die Demenz zu überspielen.
Held: Manchmal füllen Demenzkranke tatsächlich ihre Gedächtnislücken einfach irgendwie aus. Man spricht in diesem Zusammenhang von Fassade. Ich habe diesen Begriff nicht gern, weil er bewusstes Täuschen unterstellt. Dabei ist es ein Nicht-mehr-Können. Genau darum geht es eben: diese Krankheit zu verstehen und sie dadurch zu enttabuisieren.
«Oft geraten auch sehr motivierte und psychisch stabile Angehörige in eine chronische Erschöpfung.»
Christoph Held
Beobachter: Bei der Demenzpflege gilt die Maxime: möglichst lange zu Hause bleiben. Wer wollte nicht bei seinen lieben und vertrauten Menschen bleiben, wenn er hilfsbedürftig ist?
Held: In späteren Phasen der Krankheit kann das allerdings schwierig werden
. Wenn jemand seine Angehörigen nicht mehr erkennt und sie fragt: «Wer sind Sie? Gehen Sie sofort aus meiner Wohnung!» Dann wird das Eigene auf einmal bedrohlich und fremd – selbst der Ort, der zuvor ein Leben lang Hort der Geborgenheit war. Die Gedanken, die dadurch ausgelöst werden, können bis zur Wahnhaftigkeit gehen. Die Betroffenen glauben, Fremde kämen in die Wohnung, um ihre Sachen zu stehlen. Spätestens hier muss man die Ideologie des «Möglichst lange zu Hause» hinterfragen.
Beobachter: Ab welchem Zeitpunkt ist es für einen Demenzerkrankten besser, in ein Pflegezentrum zu wechseln?
Held: Sobald man merkt, dass er das Eigene bei sich zu Hause gar nicht mehr geniessen kann, sich nicht mehr sicher fühlen kann. Wenn jemand dann in ein gutes Heim wechselt, erlebt er eine institutionelle Geborgenheit, die die Bedrohungsgefühle von ihm abfallen lässt. Man muss das so oft erlebt haben wie ich als Heimarzt, um diese Empfehlung vertreten zu können.
Beobachter: Darf man als pflegender Angehöriger sagen: «Ich kann nicht mehr»?
Held: Auf jeden Fall. Oft geraten auch sehr motivierte und psychisch stabile Angehörige in eine chronische Erschöpfung. Wenn die Pflegebedürftigkeit des Erkrankten zunimmt – typischerweise, wenn Urin- und Stuhlinkontinenz ins Spiel kommt –, treten bei vielen Angehörigen Gefühle der Verzweiflung, der Scham oder der Verlassenheit auf. Spätestens dann ist es Zeit, einen Heimeintritt anzustreben
.
Beobachter: Denken die Angehörigen zu spät an sich selber?
Held: Ja, das kommt vor, aus verschiedenen Gründen. Einige fühlen sich durch die Familie unter Druck gesetzt, den Demenzkranken zu Hause zu behalten. Andere wollen sich an ihr Eheversprechen halten. Sie glauben zu versagen, wenn sie nicht ein ganzes Leben lang für den Ehepartner sorgen und ihn stattdessen in ein Heim abgeben. Ausserdem hat der Heimaufenthalt für viele Angehörige auch finanzielle Probleme zur Folge. In allen Fällen können Informationen und Beratungen durch Organisationen wie Pro Senectute, Alzheimervereinigungen oder Memory-Kliniken sehr hilfreich sein. Denn viele betroffene Familien sind mangelhaft informiert über finanzielle Unterstützungen
wie zum Beispiel Ergänzungsleistungen.
Beobachter: Was würden Sie tun, falls Sie dement würden?
Held: Ich würde die Frühsymptome vielleicht noch erkennen. Und dann würde ich anstreben, sehr bald in ein Pflegezentrum der Stadt Zürich einzutreten. Ich kenne ja nun schon die meisten Pflegenden dort. (Lacht)
Verwirrt, verloren, aggressiv: Die Zahl der Demenzkranken steigt rasant. Höchste Zeit, das Thema zu enttabuisieren. Und zu lernen, mit Betroffenen umzugehen.
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