Leichtes Hüsteln, ein Kribbeln im Hals. Steigendes Fieber, schwindende Kraft. Es könnte eine Grippe sein – und dann ist es Corona. Regina Simeon ist nicht überrascht. Irgendwann trifft es jeden, «ja nu». Mangeht ja nicht gleich vom Schlimmsten aus. Als das Contact Tracing anruft, kämpft sie aber schon mit Atemnot. «Sie müssen keine Angst haben, es passiert nichts», sagt die Frau am Telefon.

Bald zwei Jahre ist das her. Passiert ist vieles: Spital, Sprechstunden, Reha. Ärzte, Therapeutinnen, Psychiater. Die Lunge ist okay, dem Herzen gehts gut. Und doch ist die 61-Jährige nicht gesund. «Mal geht es aufwärts, dann wieder abwärts. Ich habe gelernt, die Ansprüche an mich selbst herunterzuschrauben.» Sie dürfe nicht «zwängen» und müsse akzeptieren. Dass sie krank ist und nicht mehr alles machen kann.

Vor kurzem besuchte Simeon ein Chorkonzert ihres Mannes. Vor der Infektion hat sie selbst gesungen, jetzt kann sie kaum noch zuhören. Die Lautstärke strengt sie an. Die vielen Menschen, das lange Sitzen.

Wird es wieder wie früher? Wann wird es besser? Und wie?

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Zahlen? Fehlanzeige

Mit Regina Simeon warten Abertausende auf Antworten. Wie viele es sind, weiss niemand. Dafür bräuchte es ein Patientenregister, das die Schweiz nicht führt. Weshalb? Zu wenig Zeit und Ressourcen, unklare Zuständigkeiten.

Zahlen kursieren trotzdem. Mal sind es 73'000, dann 250'000 oder 500'000 Betroffene. Meist handelt es sich um ausländische Statistiken, die auf die Schweiz übertragen wurden. Ob die Rechnungen realistisch sind, will das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nicht beurteilen: «Die Datenlage lässt derzeit keine Aussagen zu Häufigkeit und Ausprägung der Langzeitfolgen zu.» Im Februar ging es davon aus, dass 25 Prozent der Infizierten nach sechs Monaten noch Beschwerden haben. Das wären eine Million Menschen in der Schweiz. Das Forschungsnetzwerk Immunitas kommt auf 20 Prozent.

Zahlen sind ein Problem in dieser Pandemie. Symptome, Schweregrad, Prognosen: Schulterzucken. An fehlender Forschung liegt das nicht. Fast täglich erscheinen weltweit Studien. Nur: Deren Designs unterscheiden sich stark. Der Überblick ist schwierig, die Verwirrung bei Laien nimmt zu.

«Long Covid ist ein Über­raschungspaket. Ohne Anleitung, ohne Garantie. Ich bin zur Managerin mei­ner Hoffnungen geworden.»

Regina Simeon, Long Covid-Patientin

«Ich lese nicht jede News und keine Erfolgsberichte. Das ändert nichts daran, wie es mir geht», sagt Regina Simeon. Corona sei ein Überraschungspaket. Bei jeder Person, an jedem Tag anders.

Wird es wieder wie früher? Wann wird es besser? Und wie?

Mehr als 200 Symptome

Georg Hafer hört viele Fragen, auf die er keine Antworten kennt. «Noch nicht», sagt der Oberarzt für Innere Medizin. Er leitet die Long-Covid-Sprechstunde am Kantonsspital St. Gallen. Jeden Monat melden sich 30 bis 40 neue Erkrankte. Personen, die nicht mehr weiterwissen. Deren Symptome sich nicht bessern oder stets zurückkehren.

Es gibt keinen spezifischen Marker, der Long Covid nachweist. Also wird befragt, getestet, untersucht. Über 200 Symptome sind bekannt. Die häufigsten: Belastungsintoleranz, Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Schränken sie den Alltag stark ein? Können sie durch keine andere Erkrankung erklärt werden? Trifft dies zu, diagnostiziert Georg Hafer Post Covid. Und damit fängt die Arbeit erst an.

«Es gibt zurzeit weder eine heilende Therapie noch schnelle Lösungen.» Oft hat der Arzt diesen Satz schon ausgesprochen. «Er ist wichtig, denn Long Covid braucht Zeit. Je schneller man gesund werden will, desto schwieriger wird es.» Das heisst aber nicht, dass Betroffene nichts tun können.

Long Covid bezeichnet Symptome nach einer Infektion, die mehr als einen und bis zu drei Monate anhalten.

Von Post Covid sprechen Mediziner, wenn die Symptome länger als drei Monate anhalten. In der Bevölkerung hat sich die Bezeichnung Long Covid für alle bleibenden Beschwerden etabliert. Sie wird auch in diesem Artikel verwendet.

Es gibt Wege, die Symptome zu lindern. Das macht den Alltag erträglicher und fördert den Heilungsprozess. Welche Massnahmen sinnvoll sind, ist von Person zu Person verschieden. Physiotherapie unterhalb der Belastungsgrenze, Ergotherapie, Psychotherapie, Atemtherapie – die Liste ist fast so lang wie die der Beschwerden.

Als sich Regina Simeon im November 2020 infiziert, gibt es noch keine Sprechstunden. Selbst von Long Covid redet niemand. Also hangelt sie sich durch. Ohne Angst, aber mit schlechtem Gewissen. «Ich war im Kopf ständig bei der Arbeit. Telefonierte mit Kolleginnen und plante meine Rückkehr.» Doch der Körper macht nicht mit. Im Sommer des Folgejahres verliert sie ihre Stelle. Mit 60, im gegenseitigen Einverständnis – zumindest offiziell.

Regina Simeon, 61, Buchhändlerin

Long Covid Geschichte Regina Simeon
Quelle: Joël Hunn

Im November 2020 verlässt Regina Simeon die Buchhandlung mit einem Kribbeln im Hals. Am nächsten Morgen hat sie Fieber, Husten, Kopfschmerzen. Bald folgen Brustschmerzen, Atemnot, Konzentrationsprobleme. Die Symptome bleiben, über Wochen hinweg. Simeon wird krankgeschrieben. Im März 2021 kehrt sie zur Arbeit zurück – und crasht erneut. Nach zwölf Jahren verliert sie ihren Job. Über Monate kombiniert sie Pacing und Physio, macht eine Reha im neuen Jahr. Doch auf jeden Fortschritt folgt ein Rückschritt. «Im Sommer war mir alles zu viel. Ich brauchte Unterstützung, und zwar schnell.» Ein Psychiater kann helfen, die Situation zu akzeptieren und geduldiger zu werden. Seit kurzem arbeitet sie wieder zwei Stunden pro Tag.

Nach dem Sport der Crash

Regina Simeon ist ein positiver Mensch. «Ich kann es ja nicht ändern», sagt sie oft. Ja nu. Auch eine Weiterbildung muss sie abbrechen, also meldet sie sich beim RAV an und sagt ihren Beschwerden den Kampf an. Spaziert täglich, macht Turnübungen, gräbt den Garten um – und hat schlimme Rückfälle. Diese bringen sie im Herbst 2021 in Georg Hafers Sprechstunde. Da stellt sich heraus: Mit Aktivierung und Sport hat sich Simeon keinen Gefallen getan. Zum ersten Mal hört sie von Crashs.

In der Fachsprache wird ein Crash – Absturz – auch Post-Exertional Malaise (PEM) genannt. Gemeint ist die Verschlimmerung der Symptome nach einer geistigen, emotionalen oder körperlichen Anstrengung. Ein Spaziergang oder Turnübungen können sich erst gut anfühlen. Ein paar Stunden später oder am Tag darauf folgt der Rückfall. Schwindel, Herzrasen, Schmerzen. Eine unbeschreibliche Erschöpfung, die über Wochen anhalten kann. Je häufiger die Crashs, desto schlimmer der Gesamtzustand.

Anders gesagt: Überlastung ist Gift für die Genesung.

Aber was ist zu viel? «Die meisten Menschen kennen ihre Grenzen schlecht. Sie sind sich das Überschreiten gewohnt», sagt Georg Hafer. Im Job, beim Sport, im Haushalt. Im Normalfall ist das kein Problem, der Körper erholt sich schnell. Nicht aber mit Long Covid. Die eigene Belastungsgrenze darf zu keinem Zeitpunkt überschritten werden.

Wie das geht? Eine Frage, auf die der Arzt eine Antwort kennt: Pacing.

«Man muss ständig verzichten. Das erfordert Stärke und Selbstdisziplin. In vielen Fällen ist deshalb eine begleitende Psychotherapie sinnvoll.»

Georg Hafer, Oberarzt für Innere Medizin

Die Methode kommt einem Zauberwort nahe. Übersetzt bedeutet «to pace» schreiten, das eigene Tempo angeben. Beim Pacing ermitteln Kranke ihre Belastungsgrenze im Alltag. Wie das funktioniert, lernen sie in der Physio- und Ergotherapie. Oft hilft ein Tagebuch: Was haben sie gemacht? Zu welcher Tageszeit und wie lange? Was hat zu einem Crash geführt? Mit der Zeit lassen sich Muster erkennen. Patienten prüfen das eigene Energielevel wie einen Tankstand und bestimmen selbst, wie weit sie gehen. Das kann ermächtigend sein. Aber auch mühsam, kompliziert und kräftezehrend.

Einige kommen in die Sprechstunde, weil sie am Pacing verzweifeln. Weil sie alles probieren und doch wieder scheitern. Long Covid ist zwar eine Erkrankung, die sich körperlich oder kognitiv äussert. Sie hat aber auch starke Auswirkungen auf die Psyche. «Man muss ständig verzichten. Das erfordert Stärke und Selbstdisziplin», so Georg Hafer. In vielen Fällen sei deshalb eine begleitende Psychotherapie sinnvoll. Sie könne Druck nehmen und Strategien für den Alltag Das kann der Seele guttun 10 Tipps für eine starke Psyche trotz Long Covid vermitteln. «Und manchmal muss man Leute aus ihrem Umfeld und ihrem Alltag herausholen. Viele erleben in der stationären Reha zumindest temporär eine Besserung.»

Andrina Fischer*, 53, Pflegefachfrau und Visagistin

Andrina Fischer (Name geändert) hat Long Covid
Quelle: Joël Hunn

Im April 2021 liegt Andrina Fischer* eine Woche im Spital, Ende Monat arbeitet sie wieder. «Viel zu früh», denn die Symptome bleiben. Im Herbst beginnt sie mit Pacing, Ergo- und Physiotherapie. Die erhoffte Besserung bleibt aus. Auf einen heftigen Crash folgt eine Reha. Da wird alles noch schlimmer. «Ich fühlte mich völlig verunsichert und alleingelassen.» Nach der Klinik benötigt sie einen Rollstuhl, im Spital wird das Chronische Erschöpfungssyndrom (ME/CFS) diagnostiziert. Fischer ist so schwach, dass es keinen geeigneten Therapieort gibt. Also verbringt sie zwei Monate in der Psychiatrie. Im Herbst kommt eine neue Diagnose hinzu: Nebenniereninsuffizienz. Seither nimmt sie Cortisol, macht Fortschritte mit Pacing. «Auf sehr tiefem Niveau, aber das macht mir Hoffnung.»

*Name geändert

Nach der Reha in den Rollstuhl

Andrina Fischer (Name geändert) gehört nicht zu ihnen. Acht Wochen soll sie sich Anfang 2022 in den Bergen erholen. Doch Reha heisst nicht Ruhe. Die Krankenkasse definiert eine gewisse Anzahl Stunden, die Fischer besuchen muss. Bewegung, Atmung, Entspannung, Gruppentherapie. Die Rückschläge lassen nicht lange auf sich warten. Immer wieder wird die 53-Jährige aktiviert und angespornt. «Probieren Sie es doch. Das tut Ihnen sicher gut», heisst es.

Andrina Fischers Zustand verschlechtert sich so stark, dass sie nach der Long-Covid-Reha ins Spital muss. Im Rollstuhl, weil sie kaum noch gehen kann. Diagnose: ME/CFS. Das Chronische Erschöpfungssyndrom. Zurück zu Hause kann die Thurgauerin ihren Alltag kaum bestreiten. Die Kinder kochen, eine Spitex hilft beim Duschen. Alles tut weh: jede Berührung, jedes Geräusch. Im Sommer wird sie erneut hospitalisiert. Mit starkem Schwindel, Übelkeit, Wortfindungsstörungen. «Einmal konnte ich nur noch stottern und weinen. Mein Geist war wach, aber der Körper … Das war über der Grenze des Erträglichen. Da dachte ich zum ersten Mal: Jetzt wärs egal, wenn ich einschlafe.»

«Long Covid ist wie Gehen auf Eis. Alles ist glatt, rutschig, unsicher. Immer wieder knackt es, mal sumpfe ich ein, dann breche ich durch. Ohne Vorwarnung.»

Andrina Fischer, Long Covid-Patientin

Andrina Fischer hat einen aussergewöhnlich schweren Verlauf. Immer wieder blickt sie in ratlose Gesichter, überall ist sie am falschen Ort – in der Pflege, Reha, Psychiatrie. Nach einer halben Stunde spricht sie nur noch langsam, sucht nach Wörtern. Nach einer Stunde muss sie sich hinlegen; völlig erschöpft, mit Schwindel. «Der allergrösste Teil der Betroffenen erholt sich nach spätestens zwölf Monaten», schreibt das BAG. Das bestätigen Ärztinnen und Forscher. Bei Andrina Fischer ist das anders. Sie ist seit April 2021 krank – und hat inzwischen auch ME/CFS.

Fachleute werden ignoriert

In der Schweiz sind 16'000 bis 24'000 Menschen von der neuroimmunologischen Erkrankung betroffen. Ein Viertel von ihnen wird dauerhaft bettlägerig, nur zwei von fünf können weiterarbeiten. Schwerste Fälle müssen künstlich ernährt werden. Wie oft sich Long Covid zu ME/CFS entwickelt, ist unklar. Statistiken schwanken zwischen 2 und 10 Prozent.

Schuld am Schweregrad ist meist eine falsche Behandlung: Aktivierung, Belastung, Druck. «Fachleute in grossen Spitälern sind zwar mittlerweile besser informiert, doch noch immer ist die Überforderung gross», heisst es bei der Schweizerischen Gesellschaft für ME & CFS. Vor allem bei Hausärzten oder in Rehakliniken.

Dabei wird seit Jahrzehnten zum Chronischen Erschöpfungssyndrom geforscht. Auch Pacing wurde so entwickelt – und das bereits in den 1980er-Jahren. Nur: ohne Pandemie kein Druck. Betroffene wurden belächelt, Fachleute ignoriert. Vielfach ist das heute nicht anders. Die Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS wies schon zu Beginn der Pandemie auf Parallelen der Erkrankungen hin und warnte vor Überlastung. Interessiert hat das kaum jemanden. Schulterzucken.

«Faul oder verrückt»

In der Fachwelt ist die Botschaft nun angekommen: Pacing ist unerlässlich. In der Bevölkerung sieht es schlecht aus, sagt Chantal Britt, Präsidentin der Patientenorganisation Long Covid Schweiz. «Viele gehen davon aus, dass wir lazy oder crazy sind – faul oder verrückt. Die Erkrankung wird banalisiert und psychologisiert.» Vor ihrer Infektion lief die 54-Jährige Marathon, heute opfert sie jede freie Minute für den Betroffenenverein. «Wir informieren, sensibilisieren und schicken Warnungen raus. Das wäre eigentlich der Job des BAG.»

Bei Britt melden sich Menschen, die durch Belastungsintoleranz und Leistungseinbussen eingeschränkt sind. Sie sind die Spitze des Eisbergs. Die schwer Erkrankten, die in der Gesellschaft oft unsichtbar bleiben. Menschen mit ME/CFS, die im Rollstuhl sitzen oder das Bett kaum verlassen können. Besorgte Eltern oder Angehörige. Seit kurzem mehr jüngere Betroffene. «Manche hatten schon zweimal Corona mit schwachen Symptomen. Erst die dritte Ansteckung führte zu Long Covid. Die Grundimmunität, von der alle sprechen, ist ein Mythos», sagt Britt. Mit jeder Reinfektion steige das Risiko für einen schweren Verlauf und Long Covid.

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In den Facebook-Gruppen der Organisation tauschen Betroffene Tipps für den Alltag aus. «Die Ratschläge sind extrem ermächtigend. Sie zeigen: Es gibt Dinge, die wir selbst in die Hand nehmen können», sagt Britt. Betroffene müssen ihre Rechte einfordern, ihre Energie effizient einsetzen und sich gegenseitig inspirieren – egal, wie eingeschränkt sie sind. «Ich erinnere mich an einen Mann, der alle ermunterte, auf den Pausenknopf zu drücken. Für ein paar Wochen oder Monate. Das half ihm mehr als jede Reha.»

Der Mann heisst Freddy Coniglione. Der 46-Jährige arbeitet gern als Versicherungsberater. Er kann gut schwatzen, ist ein kumpelhafter Typ. Still sitzen? Nur wenns unbedingt sein muss.

Freddy Coniglione, 46, Versicherungsberater

Long Covid Geschichte Freddy Coniglione
Quelle: Joël Hunn

Im November 2020 sind die Intensivstationen voll. Freddy Coniglione muss zu Hause bleiben, weil er keine Atemnot hat, nur Atemmühe. Mit 41 Grad Fieber, Übelkeit, Sehstörungen. Nach Weihnachten zwingt er sich zurück zur Arbeit. Er bekommt Gürtelrose im Gesicht, hat wieder Fieber und Schmerzen. Nach einer Reha geht es ihm besser, aber nicht gut genug für den Job. «Ich machte mir extrem Druck und realisierte: So werde ich nie gesund.» Im Januar 2022 kündigt er. Für sechs Monate Erholung – in den Bergen, auf einer Kreuzfahrt, in Thailand. «Die Auszeit hat mich gerettet. Ein Privileg, das ist mir bewusst.» Heute hat Coniglione nur noch leichte Symptome und arbeitet wieder Vollzeit.

Die Infektion im November 2020 bremst ihn aus. Pflichtbewusst kämpft er sich weiter ins Büro. Schwankt Gänge runter, kann kaum multitasken. Eine Reha soll helfen, aber der Alte ist er danach nicht. «Alle kannten mich als Freddy, der sogar mit Fieber zur Arbeit kommt. Und plötzlich fehlte ich ständig und sah nicht einmal krank aus», erinnert er sich. Eine Weile ist das in Ordnung, die Mitarbeitenden haben Verständnis. Doch die Geduld währt nicht ewig. «Ich spürte Misstrauen, das setzte mir zu.»

«Long Covid ist ein Wasserfall. Ich stürze in die Tiefe, tauche unter, schlage meinen Kopf an Steine. Mir fehlt die Luft.»

Freddy Coniglione, Long Covid-Patient

Die ständige Müdigkeit und das Scheitern an den eigenen Ansprüchen zermürben ihn. Irgendwann sieht der St. Galler nur noch einen Ausweg: Die Kündigung, das nimmt den Druck weg. Ins Jahr 2022 startet er mit einer einzigen Frage: «Was tut mir gut?» Dann fährt er in die Berge, bucht eine Kreuzfahrt, erholt sich in Thailand. Mit Erfolg. Das Pacing hilft, Atem- und Kraftübungen, vor allem aber schmerzhafte Zwischenrippenmassagen. Zurück in der Schweiz findet Coniglione sofort eine Stelle und findet langsam zurück ins Arbeitsleben. Bis er wieder der Alte ist.

Zumindest fast. Teigwaren und Kaffee schmecken nicht mehr. Liegt er auf dem Rücken, spürt er Druck auf der Brust. Beim Sport fehlt ihm der «Schnuuf», zurück in der dritten Liga ist der Goalie nicht. «Alles zu seiner Zeit», sagt Coniglione. Long Covid habe ihn nachsichtiger gemacht – mit sich selbst und anderen. «Gibt es einen Fussballmatch, den ich im Stadion sehen will? Los! Drängelt einer auf der Autobahn? Was solls.» Sein Leben laufe nun langsamer – das ist gut so.

Die Entdeckung der Langsamkeit

In einer griechischen Fabel veranstalten Hase und Schildkröte ein Rennen. Schnell hoppelt der Hase seinem Konkurrenten davon. Auf halber Strecke ist er müde und siegessicher. Also macht er ein Nickerchen. Als er aufwacht, trottet die Schildkröte ins Ziel. Langsam, aber stetig. Freddy Coniglione ist vom Hasen zur Schildkröte geworden. Das Ziel ist noch nicht erreicht, aber in Sichtweite.

Wird es wieder wie früher? Wann wird es besser? Und wie?

Georg Hafer macht nicht gern Prognosen. Zu individuell die Fälle, zu gross die mögliche Frustration. Aber eines hat sich gezeigt: Freddy Coniglione ist kein Einzelfall, eher die Regel. «Irgendwann kommt Besserung. Die allerwenigsten sind nach einem Jahr noch auf demselben Level wie am Anfang. Wer Pacing konsequent umsetzt, wird meist belohnt», sagt Hafer. Das heisst: Durchhalten. So gut es geht, so lange wie nötig. «Immer wieder höre ich von Patienten, die aus der schweren Zeit auch etwas mitnehmen konnten. Sie wollen ihr Leben nun umkrempeln.»

Long Covid verändert Menschen. Aber verändert es auch die Gesellschaft?

«Ein ­Paradigmenwechsel hat eingesetzt. Wir ­bewegen uns in Richtung Slow Medicine.»

Chantal Britt, Präsidentin Long Covid Schweiz

«Es wird», sagt Chantal Britt. Aber noch stehen wir am Anfang. Erst langsam sickert durch: Schneller ist nicht immer besser. Gewisse Krankheiten brauchen Ruhe und Zeit. Das müssen auch Arbeitgeber und Sozialversicherungen lernen.

Im letzten Jahr haben sich rund 1800 Betroffene bei der IV angemeldet. 38 Prozent wurden unterstützt, etwa bei der Wiedereingliederung, eine Rente erhielten aber nur 59 Betroffene. 62 Prozent gingen leer aus. Viele Krankenkassen zahlen nur erprobte Therapien – die gibt es für Long Covid noch nicht. Wie es weitergeht, wird sich zeigen.

Britt ist trotzdem zuversichtlich: «Ein Paradigmenwechsel hat eingesetzt. Wir bewegen uns in Richtung Slow Medicine.» Diese Entwicklung komme nicht nur Menschen mit Long Covid zugute, sondern auch solchen mit anderen chronischen Krankheiten, Krebs, Autoimmunerkrankungen oder Burn-outs. Der Blick ins Ausland mache Hoffnung. «In Norwegen gibt es eine Klinik, die ME/CFS-Betroffene palliativ therapiert. Da tut man teilweise gar nichts. Keine Reize, keine Steigerungen, keine Zwänge. Man kümmert sich um Kranke, das ist alles. Und wissen Sie was? Es hilft.»

Hier finden Sie Unterstützung

Medizinische Hilfe

  • Hausarzt: Erste Anlaufstelle, da er Ihre Krankengeschichte kennt und Sie notfalls an eine Spezialistin verweisen kann.

  • Long-Covid-Sprechstunden: Angebot für Patientinnen mit anhaltenden oder neuen Beschwerden. Die Anmeldung erfolgt über den Hausarzt.

Information und Austausch

  • Long Covid Schweiz: Verein mit Informationen, Tipps und Links. Auf der Facebook-Seite tauschen sich Betroffene aus.
    long-covid-info.ch
  • Plattform Altea Network: Community für Betroffene, Angehörige und Fachpersonen. Mit News-Blog und Veranstaltungsverzeichnis.
    altea-network.com
  • Rafael: Französischsprachige Plattform. Ein Chatbot beantwortet Fragen.
    rafael-postcovid.ch
  • Long Covid Kids Schweiz: Patientenorganisation für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern.
    longcovidkids.ch

  • ME/CFS: Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS
    sgme.ch
    Verein ME/CFS Schweiz
    mecfs.ch

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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