«Manchmal denke ich, ich werde wahnsinnig»
Ein unerträgliches Jucken und Brennen, Wunden und Entzündungen. Nach unzähligen Jahren und dutzenden Arztbesuchen hörte Nathalie Gerber* zum ersten Mal den Namen ihrer Krankheit: Lichen Sclerosus.
aktualisiert am 17. August 2020 - 10:37 Uhr
«Manchmal denke ich, ich werde wahnsinnig. Wenn es brennt und juckt, als ob ich mich in Brennnesseln gelegt hätte. Wenn ich versuche, den Juckreiz zu ignorieren und doch wieder schwach werde. Und kratze, kratze, kratze – in der Hoffnung auf etwas Linderung, die nicht eintritt. Je stärker ich kratze, desto schlimmer wird es. Irgendwann reisst die Haut auf, blutet und wirft Blasen. Aber wie soll man aufhören? An etwas anderes denken?»
Natürlich gab es auch mal ein Leben ganz ohne Jucken und Brennen, doch daran erinnert sich Nathalie Gerber* schon fast nicht mehr. Schon als 20-Jährige hatte sie mit starken Entzündungen zu kämpfen. Vor allem nach dem Geschlechtsverkehr. Doch die Beschwerden vergingen, meist nach ein paar Tagen. Sie gab dem Chlorwasser die Schuld , wollte aufs Schwimmen aber nicht verzichten.
Dass ihre Krankheit einen Namen hat, wusste Nathalie Gerber damals noch nicht. Erst Jahrzehnte später sollte sie zum ersten Mal von der Hauterkrankung «Lichen Sclerosus» (LS, siehe Infobox unten) hören.
Dass Nathalie Gerber trotz Beschwerden lange keine richtige Diagnose bei Arztbesuchen erhielt, ist nicht ungewöhnlich. Lichen Sclerosus ist eine langsam voranschreitende Krankheit, im Frühstadium sind die Anzeichen noch gering. Mit der Zeit wird die Haut jedoch immer verletzlicher, reisst durch das Kratzen ein, blutet und entzündet sich.
Mit dem Einsetzen der Wechseljahre wurden die Symptome bei der damals 45-Jährigen immer schlimmer. Hautveränderungen beschränkten sich nicht nur auf den Genitalbereich, sondern traten auch auf Armen und Rücken auf. Die Frauenarztpraxis verliess sie ernüchtert – mit der Diagnose «Hautpilz» und einer Menge Medikamente.
«Es gab keine Phasen mehr, in denen ich nichts spürte, weg war das Brennen nie. Das Schlimmste war die Ungewissheit darüber, ob es je wieder aufhören würde und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Ich kam mir saumässig doof vor.»
Die Pilzdiagnose wurde in den folgenden Jahren stets von Neuem gestellt – von Frauen-, Haut- und Allgemeinärzten. Und doch waren sie ratlos: Ein Pilz hätte durch die Behandlung abklingen müssen.
Nach weiteren zwölf Jahren wurden die Symptome von einer jungen Frauenärztin erstmals richtig interpretiert. Sie verwies Nathalie Gerber an Andreas Günthert, damals Chefarzt in der Frauenklinik Luzern, der die richtige Diagnose stellte – Lichen Sclerosus.
«Es war einerseits eine Erleichterung, aber auch ein Schock. Eine Erleichterung, weil ich jemanden gefunden hatte, der sich auskannte. Ein Schock, weil LS nicht heilbar ist.»
Die bisherige Behandlung mit diversen Pilzsalben und Antibiotika musste die inzwischen 62-Jährige sofort stoppen – sie war vergebens gewesen. Einzig mit starkem Cortison und guter Fettpflege kann man Lichen Sclerosus behandeln. Hätte man den LS früher erkannt, wäre Nathalie Gerber vermutlich viel psychisches und physisches Leid erspart geblieben. Die Entzündungen bleiben zwar chronisch, dank gezielter Behandlung (Erhaltungstherapie) und halbjährlicher Kontrolle hält sich das Ausmass jedoch in Grenzen.
Trotz allem macht die Betroffene ihren früheren Ärzten keinen Vorwurf. Auch Günthert bestätigt, dass der LS im Frühstadium leicht mit einem Hautpilz verwechselt werden kann: «Das Bewusstsein für die Erkrankung fehlt vielfach. Auch in der Ausbildung junger Ärzte besteht Nachholbedarf was Vulva-Erkrankungen betrifft.»
Glücklicherweise habe sich in den letzten Jahren bereits viel verändert – in Holland werde die Diagnose mittlerweile doppelt so häufig gestellt wie noch vor 15 Jahren. «Frauen sollten durchaus auch in Erwägung ziehen, eine Zweitmeinung in einer spezialisierten Vulvasprechstunde einzuholen.»
«Manchmal wünsche ich mir Ferien von der Krankheit. Nur ein paar Tage. Man muss lernen, trotz LS im Alltag zu funktionieren. Arbeiten gehen, Bekannte treffen, die Familie. Seit vier Jahren salbe ich konstant, jedes Mal, wenn ich aufs WC gehe. Wenn ein Schub kommt, brauche ich Cortison- und Fettsalben, sofort. Ich bin nun soweit, dass die Krankheit nicht mehr ständig präsent ist. Aber sie verändert einen als Mensch. Man macht das Beste daraus oder geht unter – eine andere Möglichkeit gibt es nicht.»
Bei einem Treffen mit anderen Betroffenen entstand schliesslich im Jahr 2013 die Idee eines Vereins, der mittlerweile schon über 4300 Mitglieder zählt. «Jeden Tag kommen ein bis zwei neue Mitglieder hinzu. Meist suchten die Betroffenen jahrelang nach Hilfe – viele gelangen erst über den Verein zur effektiven Diagnose und adäquaten Therapie», so Bettina Fischer vom Vereinsvorstand.
Mitglieder haben Zugang zu einem passwortgeschützten Forum, um intime Dinge diskutieren zu können. Ziel des Vereins sei es, Betroffenen eine direkte und diskrete Anlaufstelle zu bieten und die Öffentlichkeit für die Krankheit und deren Symptome zu sensibilisieren. Denn je früher die richtige Diagnose gestellt wird, desto effektiver können Betroffene behandelt werden.
*Name geändert
- Verein Lichen Sclerosus: www.lichensclerosus.ch
- Informationsseite des Vereins Lichen Sclerosus: www.juckenundbrennen.ch
- Vulvasprechstunde am Universitätsspital Zürich: www.gynaekologie.usz.ch
- Vulvasprechstunde am Luzerner Kantonsspital: www.luks.ch
- Vulvasprechstunde im Dermatologischen Ambulatorium der Zürcher Stadtspitäler Waid und Triemli: www.stadt-zuerich.ch/triemli
Bei Lichen Sclerosus handelt es sich um eine chronische, entzündliche und nicht übertragbare Hautkrankheit. Betroffen sind schätzungsweise vier Prozent der Frauen jeden Alters, etwas weniger häufig auch Männer und Kinder – die Dunkelziffer ist vermutlich gross. Der LS tritt meist an den äusseren Geschlechtsteilen auf, kann in seltenen Fällen aber auch an anderen Stellen auftreten. Die Ursachen der Krankheit sind weitgehend unklar. Es wird eine Prädisposition vermutet.
Brennen, Juckreiz, Entzündungen und Wundgefühl im Intimbereich. Auch Schmerzen ähnlich einer Blasenentzündung können auftreten, allerdings ohne Bakteriennachweis. Bei Frauen können durch die entstehenden Vernarbungen Hautbereiche schrumpfen, wodurch sich die Schamlippen zurückbilden und «verwachsen». Bei Männern ist Juckreiz seltener. Die zunehmende Vorhautverengung führt zu Schmerzen, Einreissen der Vorhaut und Erektionsstörungen.
Lichen Sclerosus tritt in Schüben auf, zwischen denen wenige Tage, aber auch symptomfreie Jahre liegen können. Wird die Krankheit nicht adäquat behandelt, kann es zu Hauterosionen, Blutungen und Vernarbungen kommen.
Lichen Sclerosus ist nicht ganz einfach zu diagnostizieren, da die Hautveränderungen im Frühstadium kaum zu erkennen sind. Weissliche Hautveränderungen weisen in Kombination mit Rötungen, starkem Juckreiz und Brennen auf LS hin. Ist das klinische Bild unklar, wird eine Hautbiopsie durchgeführt.
Akute Behandlung mittels Cortison-Salben der Klasse III über circa drei Monate, danach lebenslange Erhaltungstherapie gemäss den offiziellen Behandlungsrichtlinien. Bei langer Nichtbehandlung oder Falschbehandlung können bereits entstandene Hautschäden chirurgisch wiederhergestellt werden. Die Krankheit ist nicht heilbar, aber behandelbar.
10 Kommentare
4% der Frauen jeden Alters seien an LS erkrankt und mehrere Ärzte inkl. Gynäkologen*innen erkannten die Krankheit im geschilderten Fall nicht. Selbst dann nicht, wenn Pilzmittel und Antibiotika nicht wirkten. Das ist extrem erstaunlich, denn es handelt sich offensichtlich um eine recht häufige Erkrankung besonders bei Frauen.
Dazu gibt es verschiedene Gründe. Man redet nicht drüber oder eben verwechselt die Krankheit mit einer anderen und kommt nicht vorwärts. Die Zahlen varieren je nach Quelle, bei Männern spricht man von 0.07-0.3 %, bei Frauen ist 4% die Grössenordnung.
Als selbst Betroffener und leidenschaftlicher Naturwissenschafter muss ich doch noch zu einem Kommentar hier etwas bemerken. Der Lichen Sklerosus ist eine Autoimmunkrankheit mit noch nicht so ganz klarem Hintergrund. Ein ausblansierter Lebenswandel kann eventuell helfen sich ins Lot zu bringen. Aber ätherische Oele sind aus meiner Erfahrung genau das Falsche! Neben den ärztlich verschriebenen Medikamenten halfen rückfettende Salben mit möglichst keinen Duftstoffen oder anderen Zusätzen! ätherische Oele, auch natürliche, können reizen und waren gar nicht hilfreich!!! Auch mit Seifen sehr vorsichtig sein, die konnten bei mir zeitweise einen Rückfall auslösen. Also lasst Euch durch einen erwiesenen Fachmann beraten und probiert nicht einfach!
Ich kenne diese Krankheit als Mann zu Genüge. 15 Jahre lang wurde ich auf alle möglichen Krankheiten behandelt, von mehrwöchigen Antibiotikabehandlungen, Antipilzkuren, Elektrobehandlung bis zum Rausschmiss aus einer Praxis als Lügner und Abartiger habe ich alles erlebt. Männer erkranken weniger häufig als Frauen und gerade darum wird es oft nicht erkannt. Gefühlte 30 Aerzte inkl. Unikliniken habe ich konsultitiert, bis einer auf die Idee kam eine Biopsie zu machen und sein Verdacht bestätigt wurde.
Wichtig ist die richtige Diagnose und dann konsequent die medizinische Behandlung durchzuführen. Es gibt verschiedene Ansätze, aber sie müssen fundiert sein. Leider hat auch der Verein mir nicht geholfen, die Antwort von dort auf mein Hilferuf war vernichtend. Der Druck durch eine dauernd falsch diagnostizierte Krankheit an einem sensilen Ort war 15 Jahre lang sehr stark und niemand konnte mir helfen.