Nur vergesslich – oder schon dement?
Wenn im Alter das Erinnerungsvermögen abnimmt, fürchten viele eine beginnende Demenz. Die Angst ist jedoch meist unberechtigt.
Veröffentlicht am 29. März 2022 - 13:56 Uhr
Den Einkaufszettel zu Hause liegen gelassen? Das Bügeleisen nicht ausgesteckt? Wo ist das Handy, wo die Brille? Wie lautet noch mal die PIN für die Kreditkarte? Was, der Termin war eine Stunde früher? Solche Aussetzer kennt fast jeder und jede. Manchmal lässt uns das Gedächtnis einfach im Stich, egal, ob man alt oder jung ist.
«Mir passiert es immer mal wieder, dass ich etwas vergesse oder verlege. Das ist normal und gehört zum Leben», sagt die Psychologin und Gerontologin Stefanie Becker, Geschäftsleiterin von Alzheimer Schweiz. Schon ab dem mittleren Alter beginne das Gehirn zu schwächeln. Ob man sich etwas merkt oder nicht, sei aber auch abhängig von der momentanen seelischen und geistigen Belastung, der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit, von Stress oder Müdigkeit.
«Wenn Sie ein Streit innerlich aufgewühlt hat, vergessen Sie durchaus mal die PIN der Kreditkarte. Oder Sie sind in Gedanken einfach woanders und achten nicht auf das, was sie eben gemacht oder gehört haben.» Davon betroffen seien vor allem alltäglich wiederkehrende Handlungen, die man quasi automatisch erledige.
Da könne es passieren, dass man sich am Mittagstisch plötzlich frage, ob man das täglich einzunehmende Medikament schon geschluckt hat oder nicht. Diese Form der Gedächtnisschwäche, die überwiegend das Kurzzeitgedächtnis betreffe, sei meist nur vorübergehend.
«Vergessen ist ein wichtiger Vorgang unseres Gehirns. Damit schützt es sich vor Überlastung.»
Stefanie Becker, Psychologin und Gerontologin
Man muss also nicht gleich zum Neurologen rennen, nur weil man mal die Haustür zugeschlagen und den Schlüssel innen stecken gelassen hat. Oder Namen vergisst.
Wenn die Aussetzer nur gelegentlich auftreten, kann Vergesslichkeit sogar ein Zeichen von Intelligenz
sein, sagen kanadische Forscher der University of Toronto. Denn Menschen können sich schneller an neue Situationen anpassen und Herausforderungen meistern, wenn sie belanglose Dinge aus der Erinnerung löschen und nebensächliche Details gedanklich schnell wieder loswerden. Das bestätigt auch Stefanie Becker: «Vergessen ist ein wichtiger Vorgang unseres Gehirns.» Ältere Informationen würden ständig durch neue, wichtigere Eindrücke überschrieben. «Damit schützt sich unser Gehirn vor Überlastung.»
Auf die leichte Schulter nehmen solle man Gedächtnisstörungen aber dennoch nicht. Denn hinter der Schusseligkeit könnten auch gut behandelbare Krankheiten stecken, wie Depressionen oder Stoffwechselerkrankungen; ausserdem komme es vor, dass Medikamente oder Schlafapnoe vorübergehende Gedächtnisstörungen auslösten. «Oft führt bei älteren Personen auch Flüssigkeits- oder Vitaminmangel zu akuter Verwirrtheit.»
Doch ab wann ist Vergessen eine Krankheit? Besonders im Anfangsstadium sei es schwierig, eine sogenannt normale Vergesslichkeit von einer Demenz
abzugrenzen. Zumal viele Betroffene ihre Probleme zu überspielen versuchten oder sich zurückzögen.
Doch es gebe Warnsignale: «Wenn die Vergesslichkeit über einen Zeitraum von einem halben Jahr stetig zunimmt und alltägliche Verrichtungen, die bis dato mit links erledigt worden sind, plötzlich Probleme bereiten», sagt Becker.
Wenn man die Brille zum x-ten Mal sucht, sei das nicht zwingend ein Hinweis auf eine beginnende Demenz. «Ein gesundes Gehirn ist meist in der Lage, sich daran zu erinnern, wann man die Brille das letzte Mal in der Hand gehalten hat. Das geht bei Demenz nicht mehr.»
Ein Indiz für die Erkrankung seien zudem häufig ganz eigene Geschichten darüber, wie die Brille verloren gegangen sei. Etwa dass der Partner die Brille verlegt habe, weil dieser so ordentlich sei und immer alles beseitige. Die Betroffenen könnten auch Dinge an völlig ungeeigneten Plätzen versorgen: etwa die Brille in den Kühlschrank legen. Auch die Fähigkeit zur Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten und -strategien für Probleme gehe allmählich verloren.
«Wenn mehrere und zunehmend stärker ausgeprägte Symptome auftreten, sollte man eine Abklärung durch den Arzt vornehmen lassen», betont Stefanie Becker. Ihr ist bewusst, dass die Schwelle, zum Arzt zu gehen, hoch sei.
«Demenzkrank zu sein, ist leider noch immer mit Scham verbunden – selbst bei den Angehörigen. Aber je früher man zum Arzt geht, desto besser. Man kann den Verlauf einer Demenz nämlich positiv beeinflussen und dann die Zukunft planen. Auch als demenzkranker Mensch kann man ein gutes Leben führen.» Ausserdem sei es wichtig, dass der Arzt als Erstes abklärt, ob eine andere, behandelbare Erkrankung für die Gedächtnisstörung verantwortlich sein könnte.
«Unwürdiges Altern gibt es nicht»
Kann möglicherweise auch ein Selbsttest, den man im Internet macht, Gewissheit schaffen, bevor man zum Arzt geht? Die Psychologin rät ab: «Ein Selbsttest ersetzt keine Fachdiagnose! Er kann auch zu falschen Rückschlüssen führen und Panik verursachen.»
Und wie sieht es mit der Prävention einer Demenzerkrankung aus? Dazu gebe es viele Mythen. «Was immer richtig ist, sind eine gesunde, ausgewogene Ernährung und tägliche Bewegung – am besten in Gesellschaft. Denn das Gehirn leidet stark unter Einsamkeit und Isolation.» Ein gezieltes Gedächtnistraining helfe den grauen Zellen oft auf die Sprünge: Weiterbildung, Spiele machen, Rätsel lösen, Sprachen lernen, ein Musikinstrument spielen. «Dabei ist die Vielfalt wichtig. Immer nur Kreuzworträtsel lösen fordert das Gehirn auf Dauer zu wenig heraus. Beim Muskeltraining im Fitnesscenter trainiert man auch nicht nur einen Arm, sondern den ganzen Körper», sagt Becker.
Schutz vor Krankheit sei damit aber nicht garantiert. «Die Ursachen der häufigsten Demenzerkrankungen sind noch nicht völlig geklärt. Es gibt Patienten, die immer gesund gelebt haben und dennoch demenzkrank wurden. Sie fragen sich dann, was sie falsch gemacht haben.» Die Antwort sei einfach: «Nichts!»
Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die meist im höheren Lebensalter auftritt, fortschreitend ist und zu einer Abnahme aller Hirnfunktionen führt, insbesondere des Gedächtnisses. Aber auch die Fähigkeit, Handlungsabläufe zu steuern, sich zu orientieren oder sich ein Urteil zu bilden, ist beeinträchtigt.
Hinter dem Begriff Demenz können verschiedene Erkrankungen stecken. Alzheimer ist mit etwa 70 Prozent die bekannteste und häufigste Demenzform. An zweiter Stelle folgt die vaskuläre, also gefässbedingte Demenz.
Typisch für die Alzheimer-Demenz: Das Kurzzeitgedächtnis geht verloren. Der Mensch lebt in seinen Erinnerungen. Alzheimer-Demenz verläuft eher kontinuierlich mit schleichendem Beginn. Eine vaskuläre Demenz hingegen verläuft typischerweise schubartig. Zwischen den Schüben kann es zu einer leichten Verbesserung der Symptome kommen. Bei den 60- bis 70-Jährigen entwickeln rund fünf Prozent, bei den 70- bis 80-Jährigen bis zu zwölf Prozent und bei den 80- bis 90-Jährigen ein Viertel eine Demenz. Ab 90 Jahren ist die Hälfte betroffen.
Alzheimer Beratungstelefon: 058 058 80 00
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