«Mein Bruder stirbt nicht schnell genug»
Die Palliativabteilung in einem Spital ist der Ort, wo man bis zum Lebensende bleiben kann – meinen viele. Ein Irrtum.
aktualisiert am 9. April 2019 - 11:20 Uhr
Seine zwei letzten Lebensjahre sind ein einziges Hin und Her. Erst ist der schwer kranke Felix Moser* im Spital, dann im Heim, in einem anderen Spital, kurz zu Hause, wieder im ersten Spital und zuletzt auf der Palliativstation im Spital Zofingen. Als er dorthin verlegt wird, meint Moser, er habe endlich den Ort zum Sterben gefunden.
Der gelernte Maler erkrankte mit knapp 30 Jahren an einer Thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura, kurz TTP, einer seltenen, schweren Durchblutungsstörung, die zu gravierenden Organschäden führt. Im Verlauf der Jahre muss Felix Moser Dutzende Operationen über sich ergehen lassen, weil immer wieder Blutgefässe verstopfen. Später müssen dann beide Beine amputiert, am Schluss auch noch die Gesässmuskeln entfernt werden, weil auch sie nicht richtig durchblutet sind. Die Verbände zu wechseln , ist jedes Mal eine Tortur.
Trotz alledem schaffte es der «Chrampfer» – so bezeichnet ihn seine jüngere Schwester und engste Vertrauensperson –, mit Prothesen und Krücken zu stehen und ein paar Schritte zu gehen.
Auf der Palliativstation des Spitals Zofingen wird er gut betreut. Der 55-Jährige fühlt sich hier wohl, auch wenn er weiss, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Wichtig ist ihm und seinen Angehörigen, dass man würdevoll mit ihm umgeht und ihm Zeit zum Sterben lässt. Doch dann der Schock.
Nach einer Woche ordnet das Spital ein «Familiengespräch» an. Felix Moser und seiner Schwester wird mitgeteilt, dass die Aufenthaltsdauer auf der Palliativstation begrenzt sei und man eine Anschlusslösung finden müsse. Mosers Schwester ist noch immer geschockt: «Bei mir kam nur an: Mein Bruder stirbt nicht schnell genug. Makaber war das, richtig schlimm.» Ihr Bruder sei sehr verzweifelt gewesen.
Stefan Obrist kennt solche Situationen. «Die Gespräche mit Angehörigen über die Aufenthaltsdauer auf der Palliativstation sind auch für uns sehr belastend», sagt der ärztliche Leiter des Kompetenzzentrums Palliative Care am Unispital Zürich. «Ich muss sie fast wöchentlich führen. Leider.»
Es sei tatsächlich so, dass man nur für eine begrenzte Zeit in einem Akutspital bleiben könne – auch auf der Palliativstation. Als Arzt müsse er darauf achten, dass die Patientinnen und Patienten im Schnitt nicht länger als zwei Wochen bleiben. «Wir suchen aber immer eine gute Anschlusslösung in einem Heim oder einem Hospiz, wenn die Pflege zu Hause nicht möglich ist.»
Felix Moser kann nicht zurück nach Hause. Nur Fachleute können die speziellen Vakuumverbände für die offenen Wunden wechseln, unter vollkommen sterilen Bedingungen. Wegen der grossen Schmerzen geht das bloss mit einer kurzen Vollnarkose. Das ist nur im Spital möglich, Heime und Hospize sind dafür nicht ausgerüstet. Deshalb kann Moser schliesslich auf der Palliativstation bleiben – aber nur, weil das Pflegeheim die Aufnahme aus medizinischen Gründen ablehnt. Ein schaler Nachgeschmack bleibt.
«Es wird regelmässig angezweifelt, dass die Patienten spitalbedürftig sind», sagt Palliativmediziner Roland Kunz vom Stadtzürcher Waidspital. «Die Krankenkassen sind oft nur bereit, den günstigeren Pflegetarif zu zahlen.» Lieber sähen sie diese Patienten in ein Pflegeheim verlegt.
Patienten, die trotzdem auf der Palliativstation im Spital bleiben, müssen deshalb die Zusatzkosten von mehreren Hundert Franken pro Tag selber zahlen, oder die Spitäler bleiben auf den Kosten sitzen, sagt Kunz. Oder die Patienten werden kurz vor dem Tod nochmals verlegt.
Die Palliative Care ist im heutigen System nicht kostendeckend, weder in den Spitälern noch in Pflegeheimen und Hospizen. Ein Problem ist, dass seit 2012 nach dem starren Fallpauschalensystem Swiss DRG abgerechnet wird. Es basiert auf dem deutschen System, das wiederum von Australien übernommen wurde. Pro «Patientenfall» erhalten die Spitäler einen bestimmten Fixbetrag, was bei einem Beinbruch oder einer Knieprothese durchaus Sinn ergibt.
«Die Schweiz hinkt mit dem Fallpauschalensystem hinterher.»
Stefan Obrist, ärztlicher Leiter Palliative Care am Universitätsspital Zürich
«Die individuelle Pflege am Lebensende lässt sich aber nicht in eine Pauschale pressen», kritisiert Mediziner Stefan Obrist vom Zürcher Unispital. «Das ist einfach absurd.» In Australien sei deshalb die Palliativmedizin aus dem Fallpauschalensystem herausgenommen worden. «Das sollte uns zu denken geben. Die Schweiz hinkt hinterher.»
Im heutigen System sind die Spitäler gezwungen, die Patienten nach einer bestimmten Zeit in eine Langzeitpflege zu überführen, wenn die Pauschale aufgebraucht ist. Denn dort ist die Finanzierung anders geregelt. Es zahlen nicht nur Krankenkasse und Wohngemeinde, auch die Patienten müssen einen Teil übernehmen.
«Das ist ein Systemfehler», sagt Palliativmediziner Stefan Obrist. Er fordert ein eigenes Palliativgesetz, wie es etwa Deutschland seit 2015 kennt. Es legt fest, dass die Palliativmedizin zur Grundversorgung gehört und von den Kassen zu übernehmen ist.
In der Schweiz wurde die Palliativpflege 2010 gesetzlich verankert . Der Bund erarbeitete damals eine nationale Strategie, um das Pflegekonzept der breiten Bevölkerung bekannt zu machen. Darin heisst es, dass jeder in der Schweiz Zugang zu Palliativpflege haben soll. Das Nachfolgeprojekt, die Plattform Palliative Care, widmet sich demselben Ziel.
Die Palliativpflege geniesst in der Bevölkerung eine hohe Akzeptanz, ergab eine breit abgestützte Umfrage. 83 Prozent finden, sie müsse allen schwer kranken und sterbenden Menschen in der Schweiz zur Verfügung stehen. Die vor kurzem abgeschlossene Nationalfondsstudie «Lebensende» bestätigt dieses Ergebnis. Jeder soll in Würde und selbstbestimmt die letzte Lebenszeit verbringen können.
Im Parlament in Bern stösst das Anliegen auf offene Ohren. Letztes Jahr unterstützte die ständerätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit ein Postulat, das eine bessere Betreuung am Lebensende verlangt.
Kommissionspräsident Joachim Eder sagt: «Wir müssen hierfür die Rahmenbedingungen verbessern.» Die Verwaltung werde ihren Bericht bis Ende der Legislatur vorlegen und darin aufzeigen, was auf gesetzgeberischer Ebene getan werden muss. Die eigentlichen Entscheidungen werden erst fallen, wenn der Bericht vorliegt.
Palliative Care, englisch für «lindernde Betreuung», umfasst die Beratung, Begleitung und Pflege von Menschen jeden Alters, die an einer unheilbaren lebensbedrohlichen Krankheit leiden.
Im Zentrum steht der kranke Mensch mit allen seinen körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Bedürfnissen. Deshalb steht nicht der Kampf gegen die Krankheit im Vordergrund, sondern die Erhaltung von Lebensqualität, Würde und Selbstbestimmung . Auch die Sorgen der Angehörigen werden einbezogen.
Wird eine Person urteilsunfähig, empfiehlt es sich, vorher einen Vorsorgeauftrag sowie eine Patientenverfügung zu erstellen. Beobachter-Mitgliedern steht hierzu nicht nur eine praktische Vorlage zur Verfügung, sondern sie erfahren auch, welche Pflichten vorsorgebeauftragte Personen haben.