Wenn Stehen, Gehen und Sitzen schmerzt
Zu krank für den Arbeitsmarkt, zu gesund für die IV: wie Rückenweh das Leben eines Lagerarbeiters aus der Bahn geworfen hat.
Veröffentlicht am 12. September 2018 - 14:54 Uhr,
aktualisiert am 13. September 2018 - 14:41 Uhr
Es begann im Sommer vor zwei Jahren. Weil Theo Hodel etwas spät dran war, wollte er zur Busstation in der Nähe seines Hauses in Fällanden ZH rennen. Doch es ging nicht. Als der damals 24-Jährige zu schnell einen Fuss vor den andern setzen wollte, spürte er eine Blockade. «Ich erinnere mich an einen Druck in Beinen und Rücken. Es war nicht wirklich schmerzhaft, aber es ging einfach nichts mehr», so Hodel. Nach einigen Untersuchen stellte sich heraus: Die Blockade wurde durch einen Tumor um die Brustwirbelsäule ausgelöst, der auf das Rückenmark drückte.
Wenige Wochen nach dem Befund folgte die Operation. Der Tumor wurde entfernt. Was blieb, waren Schmerzen und zusätzlich die Sorge um seinen Job als Lagermitarbeiter. Obschon Hodels Arzt empfahl, frühestens im April – also sieben Monate nach der Rückenoperation – wieder zu arbeiten, wollte er seine Kollegen nicht noch länger im Stich lassen. Also kehrte er schon im März mit einem 50-Prozent-Pensum zurück in seinen Job. «Ich hatte dank Physiotherapie , Training und Massagen sehr grosse Fortschritte erzielt. Es ging mir sehr schnell sehr viel besser», so Hodel.
Ein ambitionierter Entscheid, der nicht in jedem Fall empfehlenswert ist. Doris Aebi, Leiterin Kommunikation der IV-Stelle des Kantons Bern, warnt: «Wer die Arbeit zu früh wieder aufnimmt, riskiert dadurch, die erfolgreiche Reintegration zu gefährden.» Allerdings: Verschiedene Studien würden jedoch auch zeigen, dass es für den Arbeitnehmer sogar besser ist, so rasch als gesundheitlich möglich wieder in das Arbeitsleben einzusteigen. «Wer länger vom Arbeitsplatz weg ist, hat grössere Schwierigkeiten, wieder Fuss zu fassen», so Aebi weiter.
Nach seiner Rückkehr ins Unternehmen arbeitete Hodel anfänglich nur morgens. Nachmittags trainierte er oder ruhte sich aus. Bereits wenige Wochen später steigerte er sein Pensum auf 70 Prozent. Heute sagt er über diese Zeit: «Ich habe mich wohl selbst unter Druck gesetzt, hatte Angst, dass ich bei einer zu langen Absenz meinen Job verlieren könnte.»
Keine gänzlich unbegründete Angst, denn der Kündigungsschutz bei Absenzen wegen Krankheit oder Unfall endet, abhängig von den Dienstjahren, nach 30 bis 180 Tagen. Aber statt sich im schlimmsten Fall zu früh wieder zur Arbeit zu schleppen, rät Doris Aebi von der IV Bern, sich mit den Eingliederungsspezialisten der zuständigen IV-Stelle in Verbindung zu setzen. Im Rahmen der Früherfassung ist eine Anmeldung zur Abklärung für Frühinterventionen schon nach mindestens 30 Tagen ununterbrochener Arbeitsunfähigkeit oder bei wiederholten Kurzabsenzen innerhalb eines Jahres möglich.
«Unsere Spezialisten haben eine vermittelnde Rolle, kennen die medizinische Situation, die Sicht der versicherten Person und des Arbeitgebers und können etwa bei Round-Table-Gesprächen mit allen Beteiligten Lösungen suchen und so zur Klärung des weiteren Vorgehens beitragen.» Sie bedauere es jeweils sehr, wenn die Anmeldung erst dann erfolge , wenn die Kündigung bereits ausgesprochen sei. «Oftmals hätten wir sicher zu einer besseren Lösung beitragen können», so Aebi.
Bevor die Versicherung eine IV-Rente ausspricht, überprüft sie, ob die betroffene Person nicht wieder in irgendeiner Form in die Berufswelt eingegliedert werden kann. Beobachter-Mitglieder erfahren nicht nur, wie diese Massnahmen aussehen können, sondern auch auf welche Art die Unterstützung der Wiedereingliederung erfolgen kann, sei es durch eine fundierte Aus- oder Weiterbildung oder mithilfe eines Startkapitals, um einen eigenständigen Erwerb zu fördern.
- 1Von der IV-Anmeldung zur Eingliederung
- 2Früherfassung und Frühintervention der IV
- 3Medizinische Massnahmen über die Invalidenversicherung
- 4Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung
- 5Umschulung durch die Invalidenversicherung
- 6Was alles gehört zu den beruflichen Eingliederungsmassnahmen der IV?
Ob es nun an der frühen Rückkehr in den Job oder schlicht an der gesundheitlichen Konstitution lag – klar ist, dass in Hodels Fall die Trainingserfolge schon bald bescheidener, die Fortschritte kleiner wurden. Wenn er heute zu lange sitzt, zu lange geht, zu lange steht, hilft nur noch eines: hinlegen und entspannen. Manchmal reichen zehn Minuten, manchmal braucht es eine Stunde oder länger, bis er wieder einsatzfähig ist.
Und auch beruflich hat sich das Engagement nicht ausgezahlt. Schon kurz nach dem reduzierten Einstieg kam es zu Unstimmigkeiten mit dem Chef. Hodel sollte Schichten abtauschen und am Nachmittag statt wie vereinbart am Morgen arbeiten. «Ich regte mich etwas darüber auf. Schliesslich gab es einen Grund, weshalb ich am Morgen zur Arbeit kam. Zu dieser Tageszeit hatte ich am meisten Kraft und am wenigsten Schmerzen.» Doch der Vorgesetzte liess nicht locker. Wenige Wochen später erhielt Hodel die Kündigung. Offiziell wegen Unfreundlichkeit und Illoyalität gegenüber dem Unternehmen und den Kollegen.
Mittlerweile ist ein Jahr vergangen. Zwei Monate nach der Kündigung lief der Anspruch auf Krankentaggeld aus. Weil Hodel sein Pensum kurz vor der Kündigung wieder auf 70 Prozent hatte steigern können, ergab sich auch kein Rentenanspruch bei der Invalidenversicherung. Das regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) stufte eine angepasste Tätigkeit als zumutbar ein. «Das stimmt grundsätzlich. Aber wer stellt schon einen ein, der nicht zu lange stehen, sitzen oder gehen kann und sich nach drei bis vier Arbeitsstunden hinlegen muss?» Das fragte Hodel auch seine RAV-Beraterin.
Prinzipiell ein anspruchsvolles, aber kein unmögliches Unterfangen, wie Beat Wolf von «Berner Wirtschaft» erklärt. So kämen bei Stellensuchenden mit gravierenden und längerfristigen gesundheitlichen Einschränkungen jeweils Spezialberatende zum Einsatz. «Sie kennen die Krankheitsbilder und sind sich möglicher Einschränkungen dieser Stellensuchenden auf dem Arbeitsmarkt bewusst», sagt Wolf.
Neben der fachlichen Unterstützung können allerdings auch Einarbeitungszuschüsse der Arbeitslosenversicherung bei Stellensuchenden mit gesundheitlichen Einschränkungen die Jobchancen erhöhen. «Die Kundinnen und Kunden profitieren von einer Festanstellung in einem neuen Berufsfeld, während sich der Arbeitgeber verpflichtet, die neuen Mitarbeitenden gründlich einzuarbeiten.»
Theo Hodel hat sich indes für einen anderen Weg entschieden: «Ich muss meine Schmerzen so bald wie möglich loswerden.» Bis dahin lebt er von seinen Ersparnissen und wird zusätzlich von seinem Partner finanziell unterstützt. Eine belastende Situation – auch psychisch. «Ich habe mittlerweile riesige Panik davor, dass meine Gesundheit mich beruflich langfristig einschränken könnte.»
Nur eines helfe ihm dabei, den Alltag zu bewältigen: «Tag für Tag zu leben und die Sorgen und schlechten Gedanken weit von mir wegzuschieben.»