Oft wird zu schnell operiert
Bei Rückenschmerzen haben viele Patienten die Hoffnung, dass eine Operation die Schmerzen schnell beseitigt. Doch in vielen Fällen ist das ein Irrglaube.
Veröffentlicht am 13. September 2018 - 16:55 Uhr
Rund 90 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben im Lauf ihres Lebens mindestens einmal, oft aber wiederholt Rückenschmerzen. Wenn das Brennen und Ziehen ein paar Tage anhält, läuten bei vielen schon die Alarmglocken. Was schmerzt, ist mangelhaft und muss geflickt werden. Am besten sofort.
«Gesundheit ist nicht nur ein Gut, sondern wird zur Selbstverständlichkeit. Menschen wollen auch im hohen Alter noch fit sein», sagt Stefan Schären, Chefarzt spinale Chirurgie am Universitätsspital Basel. Neben hohen Erwartungen bringen Patienten auch immer weniger Geduld mit in die erste Sprechstunde.
Eine Operation am Rücken ist verlockend, weil sie im Gegensatz zur Physiotherapie verspricht, die Schmerzen auf einen Schlag zu beseitigen. So erhöht sich die Zahl der Eingriffe seit einigen Jahren stetig, zeigen Untersuchungen des Krankenkassenverbands Santésuisse.
«In den letzten 30 Jahren wurden auf dem Gebiet der Wirbelsäulenchirurgie enorme technische Fortschritte erzielt. Dadurch entsteht der Eindruck, chirurgisch sei fast alles machbar», erklärt Chefarzt Schären. «Vielleicht wird heute manchmal zu schnell operiert – nur weil es möglich ist.»
1,5 Millionen Erwachsene in der Schweiz lassen sich wegen Rückenschmerzen behandeln.
Dabei sollte ein Eingriff nur dann stattfinden, wenn die konservative Therapie ausgeschöpft und die Schmerzursache klar ist. Ein konkreter Auslöser lässt sich aber nur in zirka 15 Prozent der Fälle finden. Sogenannte spezifische Schmerzen hängen meist mit Verformungen oder Erkrankungen der Wirbelsäule, des Muskel- oder des Bindegewebes zusammen. 85 Prozent der Geplagten hingegen haben unspezifische Rückenschmerzen.
Die Ursachen sind vielfältig; so können Verspannungen zum Beispiel aus Überanstrengung, Fehlbelastung oder einer schlechten Haltung resultieren. Daneben wirken sich auch Verletzungen und psychische Probleme wie Stress negativ auf den Körper aus.
Vielen Betroffenen fehlt der Mut, sich trotz Schmerzen zu bewegen. Doch zu viel Schonung verändert die Muskulatur . Im Idealfall sollten Patienten sich genauso verhalten, wie sie es normalerweise tun. «Allerdings langsam und ohne sich zu überfordern, denn Schmerz ist noch immer ein Warnsignal», sagt Stefan Schären. Unspezifische Rückenschmerzen verschwinden im Normalfall nach einigen Wochen von selbst. «Ich erlebe immer wieder, dass Patienten bereits keine Beschwerden mehr haben, wenn sie nach vier bis fünf Wochen Wartezeit in meiner Praxis erscheinen.»
Wenn die Schmerzen allerdings durch eine körperliche Ursache oder Fehlbelastung im Alltag ausgelöst wurden, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie auch wieder auftauchen. Wer eine Operation als Lösung aller Rückenprobleme sieht, vergisst, dass Eingriffe beträchtliche Risiken haben und nicht in jedem Fall zu positiven Resultaten führen.
«Die meisten unspezifischen Rückenschmerzen sind eine Folge von Abnutzungserscheinungen, weil wir älter werden», erklärt Schären. «So kann es gut sein, dass ein paar Jahre nach der Operation ein neuer Schmerz an einer anderen Stelle entsteht.»
Andere Operationen werden schlichtweg zu früh durchgeführt, findet Hannu Luomajoki, Professor für Physiotherapie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Der Hauptgrund dafür ist, dass Patienten zu oft und zu schnell in die Röhre geschickt werden.» Das, obwohl medizinische Leitlinien in den ersten drei Monaten nach Auftreten unspezifischer Rückenschmerzen von bildgebenden Verfahren abraten.
Bei der Suche nach der Schmerzursache sind bildgebende Verfahren auch nur bedingt sinnvoll, denn Röntgenbilder von Gesunden unterscheiden sich in manchen Fällen kaum von denen von Patienten mit Rückenproblemen: Bandscheibenschäden sind auch bei Personen ohne Schmerzen zu erkennen, Abnutzungserscheinungen an der Wirbelsäule sieht man auf jedem zweiten Röntgenbild.
Zudem zeigen bildgebende Verfahren zwar Verkrümmungen in der Wirbelsäule, nicht aber, ob der Schmerz von der Muskulatur oder von den Nerven kommt. Wenn der Ursprung des Schmerzes nicht eindeutig feststeht, lindert eine Operation den Schmerz im schlimmsten Fall nur kurzfristig oder gar nicht.
Patienten wollen das nicht immer sehen. Wenn Arzt A vom Röntgenbild abrät, suchen sie eben Arzt B auf. 60 Prozent der Patienten erwarten beim ersten Arztbesuch bereits bildgebende Untersuchungen, 70 Prozent sind überzeugt davon, dass diese dem Arzt helfen, die Schmerzursache zu finden.
In vier von fünf Fällen ist es aber ohnehin der Arzt, der auf bildgebende Verfahren pocht, wie eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Hannu Luomajoki hat die Erfahrung gemacht, dass sich Patienten beinahe schon gegen bildgebende Verfahren und Operationen wehren müssen.
«Ärzte pochen nicht grundlos auf Röntgenbilder», wehrt sich Chefarzt Schären. «Sie dürfen auch nichts übersehen.» Ausserdem ist die Interpretation von medizinischen Daten keine exakte Wissenschaft – gerade bildgebende Verfahren seien häufig diskutierbar. Deshalb werde im Zweifelsfall lieber ein Röntgenbild zu viel als eines zu wenig gemacht.
Beide Experten sind sich einig, dass Patienten schnell der Technik vertrauen, ihren eigenen Einfluss auf die Schmerzentwicklung aber unterschätzen. Es braucht nicht immer Spritzen oder Operationen – in vielen Fällen hilft auch eine konservative Behandlungsmethode wie Physiotherapie. Diese ist jedoch nicht immer beliebt, da sie ein hohes Mass an Selbstbetätigung erfordert: Betroffene müssen sich Zeit für Sitzungen nehmen, Übungen machen und trotz Schmerzen weiterhin arbeiten.
Hannu Luomajoki stört sich daran, dass die Sitzungen von einem Arzt verschrieben werden müssen: «Im Vergleich zum Ausland baut die Schweiz eine unnötige Hürde ein», findet er. «Eigentlich sollte es umgekehrt sein: Physiotherapeuten könnten eine erste Einschätzung machen und schwerwiegende Fälle an einen Arzt weiterleiten.» Dadurch würden Patienten vor unnötigen Operationen geschützt, und man könnte gleichzeitig Gesundheitskosten sparen.
Der Physiotherapeut verweist auf eine amerikanische Studie, die den entscheidenden Einfluss eines medizinischen Erstkontakts auf den weiteren Behandlungsverlauf aufzeigt: Keiner der Patienten, die zuerst einen Physiotherapeuten aufsuchten, unterzog sich später einer Operation, auffällig wenige benötigten ein Röntgenbild. Die Therapeuten sahen ihre Patienten öfter und über einen längeren Zeitraum hinweg, konnten sich also ein genaues Bild des Schmerzes machen. Wenn der Erstkontakt mit einem Mediziner stattfand, beispielsweise dem Hausarzt, folgten oft bildgebende Verfahren, Spritzen oder Operationen.
Dass Ärzte oft zu wenig Zeit für ihre Patienten haben, findet auch Schären. Das sei allerdings zum Teil auf das geltende ambulante Tarifsystem zurückzuführen: «Die Konsultationszeit der Ärzte wird weniger gut vergütet als die apparativen Leistungen. Deshalb hören sie Patienten meist nur kurz an und schicken sie danach weiter zum Röntgen.»
Für das Gesundheitssystem ist das langfristig teurer: Eine Magnetresonanztomografie (MRT) kostet rund 1000 Franken, eine Rückenoperation sogar bis zu 20'000 Franken. Physiotherapie wird meist in Blöcken mit neun Sitzungen à 30 Minuten verordnet. Das kostet insgesamt 450 Franken. «Kosten-Nutzen-Analysen zeigen ganz klar auf, dass die Physiotherapie überlegen ist», so Luomajoki.
Stefan Schären plädiert trotzdem dafür, dass ein Patient mit seinen Schmerzen zuerst zum Arzt geht. Nur so könne verhindert werden, dass schwerwiegende medizinische Probleme übersehen werden. Als besonders effektiv habe sich eine neue interdisziplinäre Abklärungsmethode erwiesen: «Verschiedene Fachpersonen diskutieren die Untersuchungsbefunde und suchen gemeinsam in einem multimodalen Therapieansatz nach einer schonenden und nachhaltigen Lösung: Rheumatologen, Physiotherapeuten, Schmerztherapeuten, Psychologen und Wirbelsäulenchirurgen.»
Das Wirbelsäulenzentrum des Universitätsspitals Basel macht dies bisher vor allem bei schweren Fällen, da die Methode zeitaufwendig und teuer ist. «Noch ist der Ansatz im Tarifsystem nicht genügend abgebildet», kritisiert Schären. «Besprechungen im Team machen wir deshalb gratis.» Da die Methode unnötige Operationen verhindern will, seien die Kostenträger aber interessiert daran.
Egal, wer den Patienten untersucht: Im Idealfall kann man eruieren, wie der Schmerz entstanden ist, und eine zielgerichtete Therapie daraus ableiten. Dass Schmerz entsteht, kann aber noch keiner verhindern. Das Zusammenspiel von Genetik, Neurologie, Psyche und Lebensweise ist komplex. «Wir befassen uns in der Forschung intensiv mit den Mechanismen, die zu Abnutzungserscheinungen und Schmerzen führen, um in Zukunft möglichst frühzeitig eingreifen zu können», sagt Chefarzt Schären.
Wenn die Schmerzen
- anhaltend stark sind und wiederkehren;
- Taubheit, Kribbeln oder Kraftverlust in Armen und Beinen auslösen;
- die Beweglichkeit stark einschränken;
- mit Blasen- oder Darmstörungen, unerklärlichem Gewichtsverlust oder Fieber einhergehen.
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Bitte klicken Sie die Zahlen im Bild an, um mehr über Schmerzen in den einzelnen Wirbelsäulenbereichen zu erfahren.
Wie kann ich verhindern, dass ich unnötig operiert werde?
Der beste Weg, einen unnötigen Eingriff zu vermeiden, ist, eine Zweitmeinung einzuholen.
In welchen Fällen soll ich eine Zweitmeinung einholen?
Wenn Sie unsicher sind, ob der geplante Eingriff wirklich notwendig ist, oder wenn Sie sich über alternative Behandlungsmöglichkeiten aufklären lassen möchten.
Bei welchen Eingriffen muss ich mir für die Entscheidung besonders viel Zeit nehmen?
Vor allem bei orthopädischen Operationen wie etwa einem Bandscheibenvorfall ist Vorsicht geboten. Viele dieser Eingriffe stehen im Verdacht, gegenüber einer physiotherapeutischen Behandlung keinen Mehrnutzen zu haben.
Wie komme ich zu einer Zweitmeinung?
Wenden Sie sich an Ihre Krankenkasse. Weiterhelfen kann auch die Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz. Achten Sie darauf, dass der Arzt, der die Zweitmeinung äussert, möglichst nicht im gleichen Kanton arbeitet und keine finanziellen Interessen an der vorgeschlagenen Behandlung hat. So haben Sie eher Gewähr, dass die Zweitmeinung objektiv ausfällt.
Wann ist eine Zweitmeinung nicht sinnvoll?
Wenn es sich um einen Notfall handelt oder wenn Sie sich ganz sicher sind, dass die Entscheidung für den Eingriff richtig ist.
Welche Fragen soll ich dem Arzt stellen?
Die wichtigsten drei Fragen sind: Was sind die Risiken? Was sind die Alternativen? Was passiert, wenn ich nichts mache? Eine gute Vorbereitung hilft Ihnen bei der Entscheidung. Versuchen Sie sich darüber klarzuwerden, was Ihnen wichtig ist: Sport, Arbeitsfähigkeit, Ästhetik, Sexualität, Biorhythmus.
Was soll ich tun, wenn der zweite Arzt zu einem völlig anderen Schluss kommt als der erste?
Besprechen Sie die Einschätzung mit dem ersten Arzt. Nicht immer ist eindeutig, ob eine Operation oder eine alternative Therapie die bessere Wahl ist. Meist haben beide Vorgehensweisen Vor- und Nachteile. Überlegen Sie sich, was Ihnen wichtig ist.
Übernimmt meine Krankenkasse die Kosten für die Zweitmeinung?
Die Zweitmeinung ist grundsätzlich keine kassenpflichtige Leistung, ausser wenn es sich um einen sehr schweren, risikobehafteten Eingriff handelt. Manche Krankenversicherer übernehmen die Kosten trotzdem in der Grundversicherung. In den allgemeinen Versicherungsbedingungen steht, ob das bei Ihrer Versicherung der Fall ist.
Wer hilft mir weiter, wenn etwas schiefgelaufen ist?
Die beste Anlaufstelle ist die Schweizerische Stiftung SPO Patientenschutz.
2 Kommentare
Ich habe mich 1996, mit 36 Jahren bei einem sechswöchigen Spitalaufenthalt nach einer Diskushernie (L3/4, S5 mit Lähmungserscheinungen im linken Fuss, konnte nicht mehr sitzen) erfolgreich gegen eine Operation gewehrt. Vollgepumpt mit Medikamenten auf dem Rücken liegend, musste ich vom Chirurgen an meinem Bett, der extra vom Unispital vorbeigekommen war, folgende Worte anhören als ich seine Operation ablehnte: Wenn ich mich jetzt nicht operieren lasse, würde ich es später bitter bereuen. Es käme zu Vernarbungen, war seine Begründung. Ein Highlight war die Pysiotherapeutin, die mich in meinem Entschluss bestätigte und mich in den täglich unterstützte. Nach sechs Monaten konnte ich wieder mehr als zwei Stunden am Tag sitzen und auch der angeblich untergegangene Reflex im Fuss erlebte ein Revival. Dank Osteopathie und regelmässigem Krafttraining, kombiniert mit Yoga/Pilates konnte ich ein Jahr nach dem Bandscheibenvorfall wieder einen Kopfsprung vom Einmeterbrett wagen. Ich habe meinen Entschluss, trotz Rückfällen, nicht sehr häufig, ca. vier, aber schmerzhaft, nie bereut. Seit 12 Jahren jogge ich mehrmals pro Woche. Im 2016 lief ich meinen ersten Halbmarathon. Meine Lebensqualität ist um einiges besser als bei operierten Bekannten. Ich bin bald 60 Jahre alt und noch immer sehr beweglich. Weder Gartenarbeit noch stundenlanges Arbeiten am PC sind ein Problem, solange ich mich entsprechend verhalte. Ich freue mich, nach coronabedingter Abwesenheit, 2 Monate, wieder auf mein Krafttraining im Fitnesscenter, da ich einfach häufiger und länger gelaufen bin, statt etwas für die Rücken- und Baumuskulatur zu tun. Wie auch immer, die Beschwerden halten sich in Grenzen.