«Wie können wir unsere Situation verbessern?»
Nicht nur für Betroffene ist Long Covid zermürbend, sondern auch für pflegende Eheleute und Angehörige. Was beide Seiten tun können, um den Alltag erträglich zu gestalten.
Veröffentlicht am 21. September 2022 - 16:27 Uhr
Frage eines Lesers: «Meine Frau leidet seit Monaten an Long Covid. Wir sind total erschöpft. Was können wir tun?»
Für Erkrankte und ihre Familien ist es schwer auszuhalten, dass die Long-Covid-Prognose noch immer unklar ist. Darüber hinaus werden die langsamen Fortschritte bei der Genesung häufig von sogenannten Crashs (Abstürzen) unterbrochen. Das sind Rückschläge, die auftreten, wenn die Belastungsgrenze überschritten wird. Man nennt dieses Phänomen PEM (Post-Exertional Malaise). Jede Anstrengung zu viel wird spätestens am nächsten Tag bestraft: Die Symptome nehmen erneut zu, wie zum Beispiel eine massive Erschöpfung oder Herzrasen. Darum ist ein wichtiges Element der Genesung das Pacing, also das richtige Tempo, das die Belastungsgrenze unbedingt respektiert.
Man kann diese Krankheit nicht durch klassisches Training überwinden. Die individuelle Belastungsgrenze bei Long Covid ist oft unklar. Das verlangt von den Betroffenen, aber auch von den Angehörigen einen äusserst achtsamen Umgang mit den körperlichen, seelischen und geistigen Ressourcen.
Aktiv für sich selbst sorgen
Genesene berichten, dass Selbstfürsorge sehr wichtig ist – für sie wie auch für das nähere Umfeld. Selbstfürsorge hilft, auch in einer schwierigen Situation etwas für das eigene Wohlbefinden zu tun. Sie bedeutet, Bedürfnisse wahrzunehmen und ernst zu nehmen und immer dafür zu sorgen, dass der Akku ausreichend gefüllt ist. Gut für sich sorgen kann man auf mehreren Ebenen:
- Körperliche Selbstfürsorge
Den Körper bewusst wahrnehmen. Auf Schmerzen und Verspannungen achten. Erschöpfung ernst nehmen. Für ausreichend Bewegung und Ruhe sorgen. Regelmässig und gut essen und trinken, Entspannungsmomente (ein Bad nehmen, Yoga et cetera) einplanen.
- Selbstfürsorge im Alltag
Den Tag proaktiv strukturieren, nicht nur das abarbeiten, was aktuell notwendig ist. Wohlfühlmomente planen (Begegnungen, Musik, Abwechslung, Auszeiten ). Achtung vor Reizüberflutung. Medien achtsam gebrauchen.
- Gedankliche und emotionale Selbstfürsorge
Gedanken und Gefühle achtsam wahrnehmen, ohne sie zu bewerten. Gefühle weisen oft auf unbefriedigte Bedürfnisse hin. Verständnisvoll und freundlich zu sich selbst sein. Die innere Perfektionistin und den inneren Kritiker in die Schranken weisen. Lächeln und lachen . Dankbarkeit pflegen.
- Selbstfürsorge in sozialen Beziehungen
Kontakt zu Menschen suchen, bei denen man sich sicher, lebendig und aufgehoben fühlt. Aktiv auf Menschen zugehen, die einem guttun, und sich von denen abgrenzen, die einen auslaugen und Kraft kosten. Eigene Bedürfnisse offen kommunizieren.
Grenzen von Angehörigen bei der Pflege
Wenn wir die Betreuung oder Pflege eines Angehörigen auf unbestimmte Dauer übernehmen, ändert sich unser Alltag deutlich. Es ist natürlich wertvoll, hier dem Herzen zu folgen und Hilfe anzubieten. Aber ebenso wichtig ist es, möglichst bewusst eine solche Rolle einzunehmen und die eigenen Grenzen und Möglichkeiten ehrlich und transparent mitzuteilen.
Es geht darum, nicht nur auf die Bedürftigkeit des Kranken einzugehen, sondern das gesamte Familien- oder Beziehungsgefüge im Auge zu behalten. Wer kann etwas beitragen? Wer gerät an seine Grenzen? Wie könnte man die «B-Mannschaft» bestücken?
«Kranke und Pflegende müssen immer wieder etwas fürs eigene Wohlbefinden tun.»
Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin
Es braucht Kraft und Ausdauer, nicht nur mit dem körperlichen Leid der kranken Person gut umzugehen, sondern auch mit den Ängsten und Frustrationen. Hier ist es wichtig, zu beachten, dass auch sehr kranke Menschen nicht nur auf Fürsorge angewiesen sind, sondern zugleich ein erhebliches Bedürfnis nach Würde und Autonomie haben. Auch hier hilft Reden. Man darf immer wieder zurückfragen, ob die kranke Person etwas selbst versuchen möchte oder ob es okay ist, wenn man übernimmt.
Rituale in den Alltag einbauen
Manche Kranke sind phasenweise so schwach, dass die Lebenswelt auf ein Zimmer oder ein Bett zusammenschrumpft. Hier können Rituale und sich wiederholende Abläufe etwas Lebendigkeit erzeugen. Eine Handmassage nach dem Frühstück, vor der Medikamentengabe etwas Kleines vorlesen, jeden Morgen ein neues Bild auf den Nachttisch stellen, zu bestimmten Zeiten das Fenster weit öffnen: Solche kleinen Gesten können wohltuende und Sicherheit spendende Marker während der Krankheit werden.
Auf diese Weise kann ein entlastendes Gefühl von Berechenbarkeit entstehen – inmitten der beunruhigenden Unsicherheit, die Long Covid immer noch prägt.
Wird die Pflege eines Ehepartners übernommen, ist am Anfang oftmals unklar, was das alles bedeutet. Beobachter-Mitglieder erfahren in der Checkliste «Pflege durch Angehörige», auf welche physischen und psychischen Signale sie achten sollten, um sich nicht selbst zu übernehmen und was Entlastung bieten kann.
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Betreuung & Erwerbstätigkeit
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