Wir denken uns krank
Die Angst, krank zu sein, macht krank. Diese Angst entsteht durch unnötige Röntgenbilder, nutzlose Gentests und unpräzise Beipackzettel.
aktualisiert am 28. März 2014 - 14:47 Uhr
Derek Adams schluckte 29 Pillen gegen Depressionen. Seine Freundin hatte ihn verlassen, er wollte nie mehr aufwachen. Jetzt lag der 26-Jährige in kritischem Zustand auf der Notfallstation, doch die Ärzte konnten ihn nicht stabilisieren. Adams hatte die Antidepressiva als Teilnehmer einer Medikamentenstudie erhalten. Was er nicht wusste: Seine Antidepressiva enthielten keinen Wirkstoff. Er gehörte zu jenen Versuchspersonen, die nur ein Scheinmedikament erhalten hatten, ein Placebo. Dennoch zeigten sich jetzt die typischen Symptome einer Überdosierung. Als man Adams in der Klinik über die Scheinpräparate aufklärte, verschwanden seine Beschwerden in kurzer Zeit.
Der 2007 veröffentlichte Fall gilt als Klassiker in der sogenannten Nocebo-Forschung. Nocebo (lateinisch für «Ich werde schaden») ist der unheimliche Zwilling des Placebos («Ich werde gefallen»). In beiden Fällen geht es um weit mehr als Tabletten. Es geht um Erwartungshaltungen von Patienten, um Ängste und Hoffnungen, die der Arzt wesentlich mitprägt.
Die Magie der Voodoo-Religion hat den Neurologen Magnus Heier nicht losgelassen, seit er aus Afrika zurückkehrte: Dort und in Teilen Amerikas hat der Kult bis heute einen starken Einfluss. Voodoo-Priester können Menschen mit einem Zauber verhexen oder gar sterben lassen. «Für uns Europäer ist das eine absurde Nummer, weil wir nicht daran glauben. Ich habe mich aber gefragt, ob wir Ärzte nicht Ähnliches bewirken, in einem anderen Kontext und mit anderen Mitteln. Ich brauche keine Trommel und kein Rauchwerk, aber ich habe einen Kernspintomographen und einen weissen Kittel.»
Heier, der im Ruhrgebiet eine neurologische Praxis führt, hat die wissenschaftliche Literatur zur Beeinflussung von Patienten durch Ärzte, Medien und Pharma durchforstet. Seine Erkenntnisse hat er im Buch «Nocebo: Wers glaubt, wird krank» versammelt. Fazit: «Wir betreiben Voodoo – aus Versehen oder aus Unwissenheit. Und das macht viele erst richtig krank.»
Einen verheerenden Nocebo-Effekt hat Heier in seinem eigenen Fachgebiet ausfindig gemacht, in der Volkskrankheit Rückenschmerzen. «Man muss wissen, dass in den allermeisten Fällen keine klare Ursache gefunden wird. Es gibt dann aber nur vier Gründe, einen Rücken mit bildgebenden Verfahren weiter zu untersuchen: Taubheitsgefühle oder Lähmungen an den Extremitäten, plötzliche Blasen- oder Darmprobleme. In diesen Fällen könnte tatsächlich ein Nerv zerstört werden.» Die Praxis sieht anders aus: Es wird fast standardmässig geröntgt und in Röhren geschoben, um Bilder zu produzieren. «Die Apparate stehen eben da und wollen genutzt werden», sagt Heier. Das ist zwar teuer, aber etwas Schlimmeres kommt hinzu. «Diese Bilder machen krank.»
Menschen können mit einer aus radiologischer Sicht kaputten Wirbelsäule völlig schmerzfrei durchs Leben gehen, andere leiden mit einem jungfräulichen Rücken Höllenqualen. Weil man das mit einfachen Rückenbildern nicht erklären könne, würden einfach immer aufwendigere produziert, so Heier. «Die meisten Menschen haben Anomalien an ihrer Wirbelsäule, die aber nichts bedeuten müssen. Auf den Bildern werden diese dann aber plötzlich zur möglichen Ursache für die ominösen Schmerzen. Wer die Anomalien seines Rückens einmal gesehen hat, wird sich von seinen Schmerzen möglicherweise nie mehr erholen. Die Bilder bekommt er kaum mehr aus dem Kopf, der Schmerz wird chronisch.»
Peter Krummenacher hat Menschen Schmerz zugefügt. Und er hat sie angelogen. Nicht weil er ein Sadist wäre, sondern weil er als Neuropsychologe in Experimenten erforscht hat, wie sich das Schmerzempfinden durch psychologische Faktoren reduzieren lässt. Seinen Probanden erzählte er, es gebe ein neuartiges Gerät zur Reduktion der Schmerzwahrnehmung. Eine schwarze Spule, die man an der Stirn befestigt. Dann mussten die Probanden die Hitze eines Metallplättchens aushalten, das ihnen an den Unterarm geschnallt wurde. Der zu erwartende Placebo-Effekt stellte sich ein. Krummenacher: «Kaum wurde das Gerät angeblich eingeschaltet, verringerte sich durch die Erwartung einer schmerzlindernden Behandlung die Schmerzwahrnehmung deutlich.»
In einem zweiten Versuch schalteten die Forscher das schwarze Gerät tatsächlich ein. Es lindert aber nicht den Schmerz, sondern hemmt über elektromagnetische Strahlen einen Bereich im Frontallappen des Hirns. «Wir gehen davon aus, dass in diesem Bereich positive Erwartungen vermittelt werden und körpereigene Schmerzhemmsysteme beeinflusst werden.» Die Probanden dachten, das Gerät würde ihre Schmerzempfindung lindern, doch die Strahlung hob den Placebo-Effekt auf, die Probanden empfanden den Schmerz wieder viel stärker.
Experimente von anderen Forschern haben gezeigt, dass allein der Hinweis, es seien stärkere Schmerzen zu erwarten, dieses Empfinden auch auslöst und über längere Zeit aufrechterhalten kann. «Heute wissen wir, dass eine starke Erwartungshaltung die Gehirnchemie verändert und im Körper häufig genau die gewünschten Wirkungen auslöst.» Das Frontalhirn spielt dabei eine zentrale Rolle. Für diese wichtige Erkenntnis erhielt Krummenacher 2010 den deutschen Förderpreis für Schmerzforschung.
Die Erkenntnisse zu Nocebo-Effekten fristen in der Wissenschaft und in Arztpraxen noch ein Mauerblümchendasein. Die medizinische Datenbank PubMed zeigt zum Begriff Placebo über 150'000 Einträge, Nocebo erscheint aktuell nur 229-mal. Für Magnus Heier das Ergebnis einer verheerenden Verdrängungspolitik: «Es entspricht nicht dem Selbstverständnis von Ärzten, dass sie – wenn auch unbewusst – krank machen können.» Darum fliesse auch viel weniger Geld in diese Forschung.
Auch die Beipackzettel zu Medikamenten können krank machen – durch die aufgeführten Nebenwirkungen. Wer Packungsbeilagen durchliest, nimmt ein erhöhtes Risiko in Kauf, tatsächlich an einer Nebenwirkung zu erkranken. Das haben Experimente gezeigt, bei denen nur ein Teil der Probanden über eine bestimmte Nebenwirkung informiert wurde. Dieser Teil litt sechsmal häufiger daran als die Kontrollgruppe, der sie verschwiegen worden war. Sogar bei Placebo-Pillen entwickelten Versuchspersonen Symptome von Nebenwirkungen, sofern sie von ihnen wussten.
Heier will deshalb zusätzliche Beipackzettel, die klar über die Wahrscheinlichkeiten von Nebenwirkungen aufklären. «Begriffe wie ‹oft›, ‹selten› oder ‹gelegentlich› werden von Patienten oft falsch interpretiert. ‹Gelegentliche Nebenwirkungen› etwa betreffen weniger als einen von 100.»
In der Schweiz sind Patienten- und Fachinformationen zwar im Internet aufrufbar, doch bei vielen Arzneien wird die Häufigkeit der Nebenwirkungen erst gar nicht angegeben, nur ihre Reihenfolge ist ein Hinweis darauf. Laut der Heilmittelkontrolle Swissmedic handelt es sich bei den meisten Daten um Meldungen von Ärzten. «Diese erlauben keine seriöse Berechnung von Häufigkeiten, da weder die Anzahl der behandelten Patienten bekannt ist noch die Zahl der effektiven Ereignisse», sagt Swissmedic-Sprecher Daniel Lüthi. Internationale Erhebungen würden darauf hinweisen, dass nur 10 bis 20 Prozent der aufgetretenen Nebenwirkungen gemeldet werden.
Roland Schlumpf, vom Branchenverbands Interpharma, betont, dass die Art der Deklarationen von der Swissmedic sehr detailliert vorgeschrieben werde. Die Angabe der Nebenwirkungen habe auch nicht nur die Patientenaufklärung zum Ziel: «Es geht auch um juristische Haftungsfragen, die dazu führen, dass mitunter ganz seltene Wirkungen erwähnt werden, für die das Medikament auch nicht zweifelsfrei als Ursache nachgewiesen werden konnte.»
Für Schlumpf gibt es einen weiteren Effekt, der es schwierig macht, die Häufigkeiten von Nebenwirkungen zu erfassen: «Viele Patienten nehmen die Medikamente nicht wie empfohlen ein, was zu Nebenwirkungen führen kann. Oder sie nehmen die verordneten Medikamente erst gar nicht ein.» Studien in den USA zeigen, dass rund 40 Prozent dieser Arzneien im Abfall landen, aus Angst vor Nebenwirkungen oder weil sie bei der ersten Besserung abgesetzt werden. Ein ökonomischer Unsinn. Und ein gesundheitliches Risiko, falls dies gegenüber dem Arzt verschwiegen wird.
Wer sich krank fühlt, sucht heute zuerst Dr. Google auf. Und produziert damit einen Nocebo-Effekt. Die Suchergebnisse werden im Netz ja nicht nach Häufigkeit von möglichen Erkrankungen aufgelistet, sondern nach den populärsten und nach bezahlten Beiträgen. Symptome harmloser Beschwerden können so schnell zu tödlichen Krankheiten im Endstadium leiten. Je mehr man nach medizinischen Beiträgen im Internet sucht, desto schwerwiegender erscheinen einem auch die eigenen Krankheiten – sofern man überhaupt welche hat. Das hat eine Langzeitstudie von Microsoft mit über 500 Personen gezeigt.
Einen ähnlichen Effekt erzielen Medienberichte, insbesondere Gesundheitssendungen im Fernsehen. «Wenn am Bildschirm Hodenkrebs diskutiert wird, haben die Urologen am folgenden Tag volle Wartezimmer», sagt Neurologe Heier. Und er warnt auch vor einer grassierenden Check-up-Industrie: «Solche Untersuchungen enden oft mit dem Satz: ‹Das sollten wir im Auge behalten.›» Der Arzt hat zwar nichts Besorgniserregendes gefunden. Der Patient aber wird den Satz nicht vergessen. «In einem halben Jahr steht er wieder in der Praxis», so Heier. Der Nocebo-Effekt hat zugeschlagen.
Doch das ist erst der Anfang: Gentests, wie sie der ehemalige ETH-Präsident Ernst Hafen «gratis und für alle» forderte, werden diesen Bürgern das Leben kaum erleichtern, sie werden sie viel eher krank machen. Magnus Heier: «Wie lebt es sich mit dem Gefühl einer Zeitbombe in den Zellen, die vielleicht gar nie explodiert? Sie haben zum Beispiel ein 20 Prozent höheres Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Dagegen können Sie in der Regel nichts tun.» Die Erkenntnis werde aber etwas mit der getesteten Person machen.
Ginge es bloss um Hirngespinste ängstlicher Menschen, wäre alles halb so schlimm, ein klassisches Geschäft halt mit der Angst. Doch die Schmerzen und Krankheiten, unter denen Betroffene leiden, sind real.
Ängste haben einen zentralen Einfluss auf den Nocebo-Effekt. Wer Angst hat, erwartet zum Beispiel eher eine Verschlimmerung der Schmerzen. Und wird mehr Mittel dagegen nehmen. Wissenschaftler wie Peter Krummenacher gehen davon aus, dass die Schmerzempfindung durch chemische Botenstoffe wie Cholecystokinin beeinflusst wird. Der Stoff wird bei Angst aktiviert und verstärkt das Schmerzempfinden. Der zusätzlich durch die Angst provozierte Stress wirkt sich nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf den Körper aus. «Kurzfristiger Stress ist durchaus gesund, stärkt sogar das Immunsystem. Dauert der Stress aber an, geschieht das Gegenteil: Das Immunsystem wird geschwächt, und es können Herz-Kreislauf-Probleme auftreten», sagt Neuropsychologe Peter Krummenacher.
Der Körper kann zudem mit unnatürlichen Muskelanspannungen reagieren, eine ideale Voraussetzung für Rückenschmerzen. Angst und Stress setzen die Hormone Adrenalin und Cortisol frei. Bleibt der Cortisol-Level über längere Zeit hoch, schwächt er das Immunsystem, eine Einladung für jeden Krankheitserreger.
Gary Bruno Schmid, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Frage, warum Menschen durch psychische Beeinflussung krank werden, sterben oder geheilt werden. «Eines ist heute erwiesen: Unsere Ängste und Erwartungen beeinflussen diese Prozesse ganz entscheidend», sagt der Psychologe. Für sein Buch «Tod durch Vorstellungskraft» hat er Todesfälle erforscht, die nicht auf körperliche Beschwerden zurückzuführen sind: den Heimwehtod, der durch Söldner und Auswanderer gut dokumentiert ist, den Seelentod, etwa kurz nach dem Tod eines Partners, und den Voodoo- und Tabu-Tod. Hier kann die Begegnung mit einer starken Autoritätsperson oder die Konfrontation mit einer unausweichlichen Diagnose die Ursache sein.
Ein Gesundheitssystem, das Ängste produziert, macht Patienten erst richtig krank. «Wollen wir dem entgegenwirken, müssen sich Ärzte vor allem wieder mehr Zeit nehmen, um sich mit dem Patienten auseinanderzusetzen. Leider ist es heute aber lukrativer, weitere Untersuchungen anzuordnen», beklagt Neurologe Heier.
In Deutschland dauert ein durchschnittlicher Arzttermin noch etwa sieben Minuten. Eine Untersuchung von 127 Konsultationen bei Schweizer Hausärzten kommt auf immerhin 12,5 Minuten. Oft zu wenig, um Situation und Erwartungen eines Patienten zu erfassen, was den Nocebo-Effekt reduzieren könnte. In dieser Zeit werden nämlich durchschnittlich vier Themen besprochen, davon drei medizinische.
Was den Verlauf einer Krankheit beeinflusst, ist für den Psychologen Gary Bruno Schmid letztlich eine Frage des ärztlichen Einfühlungsvermögens. «Worte können töten oder heilen. Ganz nüchtern und wissenschaftlich betrachtet.»