Sechs Antworten gegen das Halbwissen
Cannabis mache dumm, lethargisch und misstrauisch: Über die Droge gibt es viele Mythen. Doch wie gefährlich ist Marihuana wirklich?
aktualisiert am 18. April 2019 - 09:10 Uhr
Cannabis wirkt sehr individuell. Die meisten bleiben nicht nur frei von unerwünschten Nebenwirkungen, sondern erleben das Kiffen als überaus angenehm. Unbestritten ist auch der medizinische Nutzen : Cannabis lindert zum Beispiel chronische Schmerzen sehr wirkungsvoll.
Aber es gebe eben auch diesen Link zwischen Cannabis und Paranoia. Der britische Psychologieprofessor Daniel Freeman hat im Juli 2014 dazu die bisher umfangreichste Studie vorgelegt. Darin zeigt er, dass der Cannabis-Wirkstoff THC eine Kurzzeit-Paranoia auslösen kann.
Bei verletzlichen Menschen kann die Droge auch psychotische Symptome hervorrufen. Dieses Risiko ist zwar vergleichsweise klein, aber: Unter Dauerkiffern ist der Anteil Schizophrener mit 2 Prozent doppelt so hoch als der Durchschnitt. Psychosen treten ebenfalls viel häufiger auf. Das Problem ist: «Wir können nicht vorhersagen, ob ein Mensch für Psychosen anfällig ist oder nicht – ausser wenn die Eltern bereits einmal eine Psychose hatten», sagt der Zürcher Psychiatrieprofessor Wulf Rössler.
Cannabis-Konsumenten sind tatsächlich misstrauischer als andere Menschen. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass die Droge nach wie vor illegal ist. Der britische Psychologe Daniel Freeman verabreichte 121 Freiwilligen entweder THC oder ein Placebo. Bei der Placebogruppe berichteten 30 Prozent, sie hätten paranoide Gedanken, bei der THC-Versuchsgruppe waren es 50 Prozent. Der Grund dafür sei, dass THC auf die Stimmung und das Selbstwertgefühl drückt und die Wahrnehmung verändert.
Aber: Paranoide Gedanken sind aber viel normaler, als man lange Zeit glaubte. Jeder Zweite hat gelegentlich unbegründet oder übertrieben Angst, dass ihm andere Menschen Schaden zufügen. Gemäss der Freeman-Studie befallen solche Gedanken Cannabis-Konsumenten aber dreimal häufiger als Nicht-Kiffer. Dass andere Menschen versuchten, einen ernsthaft zu verletzen, glauben sie sogar fünfmal häufiger.
«Viele Kiffer sind auf feindselige Gedanken besonders anfällig», sagt auch der Zürcher Pharmakopsychologe Boris Quednow. Unter Cannabis-Konsumenten ist die Neigung zu Weltverschwörungstheorien deutlich erhöht. Der Zusammenhang sei extrem naheliegend. Aber es gebe dazu praktisch keine Untersuchungen. Wissenschaftliche Untersuchungen seien schwierig, da Menschen, die paranoide Gedanken haben, bei Befragungen schnell misstrauisch werden und sie dann nicht mehr preisgeben.
THC wirkt auf verschiedene Teile im Gehirn. Vereinfacht gesagt so: Im Kleinhirn und in den Basalganglien beeinflusst es die Motorik, in der Gehirnrinde verändert es Zeitgefühl und Konzentrationsfähigkeit, im Hippokampus schläfert es das Kurzzeitgedächtnis ein. Im Mandelkern, der sogenannten Amygdala, verändert es den Gefühlshaushalt: Zunächst löst es ein Gefühl entspannten Wohlseins aus, in höherer Dosis dann aber bei vielen Angst und Anzeichen von Verfolgungswahn.
Das THC dämpfe die Kontrollwirkung des Frontallappens im Gehirn. Dadurch kommen kreative Impulse ungehindert hoch, aber auch alte Ängste. Denn der Realitätscheck entfällt weitgehend. Und fremde Gedanken nehmen plötzlich Gestalt an.
Nicht so sehr die Dosis THC ist entscheidend, sondern das Verhältnis von THC zu seinem Gegenspieler Cannabidiol. Bei hochgezüchteten Sorten ist dieses Verhältnis nicht mehr im Gleichgewicht. Die beiden Faustregeln sind: Je höher der THC-Gehalt, desto paranoider die Gedanken. Und: Je höher der Cannabidiol-Gehalt, desto intakter das Gedächtnis.
Erfahrene Kiffer wissen mehr oder weniger intuitiv um diesen Zusammenhang. Um die paranoiden Gedanken zu verscheuchen, steigen sie von Indoor-Hanf, der oft mit genverändertem Saatgut gezüchtet wird, auf weniger starkes Eigengewächs um. Die dunkeln Gedanken verschwinden dann bei den meisten wie von Geisterhand.
Allerdings dauert das seine Zeit. Denn das THC berauscht nicht nur unmittelbar. Der Wirkstoff lagert sich im Fettgewebe ein und baut sich dort nur sehr langsam ab. Es ist deshalb bis zu zwei Wochen lang im Blut nachweisbar – und mit ihm die irrationalen Ängste. Das ist auch der Grund, warum regelmässige Kiffer nicht unter Entzugserscheinungen leiden. Sie treten nach 10 bis 14 Tagen auf. Man spürt erst dann das unstillbare Verlangen nach der Droge (Craving).
Jugendliche Kiffer sind tatsächlich ungleich stärker gefährdet. Es kann die Hirnentwicklung beeinflussen. Je früher man mit Kiffen beginnt, desto höher ist das Risiko, eine Psychose zu entwickeln. Die neuste Studie dazu stammt vom Forscher Edmond Silins, der die Daten von 4000 unter 17-Jährigen aus Australien und Neuseeland untersuchte. Sie zeigen, wie tägliches Kiffen die Jugendlichen beeinflusst: Dreimal mehr flogen von der Highschool, siebenmal mehr unternahmen einen Selbstmordversuch, und sie konsumierten achtmal häufiger andere illegale Drogen. Auch mit 25 sind die Folgen noch spürbar: Unter den Kiffern hatten 38 Prozent weniger einen Highschool-Abschluss, gab es zweieinhalbmal mehr Selbstmordversuche, und dreimal mehr konsumierten andere illegale Drogen.
Man könne bei jugendlichen Dauerkiffern tatsächlich minimale hirnorganische Veränderungen feststellen. Sie seien jedoch nur geringfügig, sagt Michael Schaub, wissenschaftlicher Direktor am Zürcher Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung. Schlimmer sei, dass viele jugendliche Dauerkiffer antriebslos werden. Viele brechen die Lehre ab oder verlassen das Gymnasium. «Das hat auf eine Biographie weitaus grössere Auswirkungen als die Veränderungen der Gehirnstruktur.»
Eine aktuelle neuseeländische Studie zeigt, dass jene, die mit 15 kiffen, ein dreifach erhöhtes Risiko haben, in den folgenden zehn Jahren eine Psychose zu entwickeln. Der Gebrauch anderer Drogen korrelierte nicht. Deshalb rät der Winterthurer Jugendpsychiater und Suchtexperte Oliver Bilke-Hentsch Jugendlichen dringend: «Wartet wenigstens, bis ihr erwachsen seid. Das Zeugs gibt es auch dann noch.»
Wer sollte ja nicht kiffen?
- Wenn Eltern oder auch nahe Verwandte eine Vorgeschichte mit Schizophrenie oder Psychosen hatten, dann gibt es nur eins: kein Cannabis.
- Wer psychoseähnliche Vorzeichen bei sich entdeckt, wie: das unbestimmte Gefühl, dass etwas Merkwürdiges mit einem passiert; das Gefühl, verfolgt zu werden; die Erfahrung, dass die Gedanken rasen und man sie nicht stoppen kann. Auch grundlos ungewöhnliche Dinge sehen, hören, riechen oder schmecken, kann auf eine Psychose hinweisen.
- Personen mit psychischen Beschwerden sollten auf Cannabis verzichten. Bei ihnen kann es die Symptome verstärken und Rückfälle auslösen. Hören sie mit dem Kiffen auf, verringert sich das Rückfallrisiko, und die Prognose, wieder gesund zu werden, ist deutlich besser.
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