Macht uns die Arbeit krank?
Der Arbeitsalltag vieler Leute bedeutet Anforderungen ohne Unterlass. Das bleibt oft nicht ohne Folgen. Trotzdem wird der Einfluss der Arbeit auf die psychische Gesundheit überschätzt.
Veröffentlicht am 10. Mai 2022 - 09:53 Uhr
Das Dienstleistungs- und Informationszeitalter stellt besondere Anforderungen an die psychische Gesundheit. Fragt man Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, was sich sonst noch verändert hat, nennen sie Stichworte wie Transparenz, Optimierung, Dichte, Mobilität, Komplexität und einen grösseren Wahlspielraum. Alle diese Faktoren haben eine positive Seite, aber auch eine schwierige.
Wie weiss man, ob der Arbeitsplatz der Auslöser für eine psychische Erkrankung ist?
Die meisten psychischen Erkrankungen sind multifaktoriell. Das heisst, es braucht eine Kombination verschiedener Belastungsfaktoren, damit eine psychische Erkrankung entsteht. Manche davon können dem Arbeitsbereich entstammen, zum Beispiel eine hohe Arbeitsbelastung, ein angstgeprägtes Betriebsklima, Arbeitslosigkeit , Angst vor Stellenverlust.
Wenn jemand psychisch erkrankt, findet sich häufig eine Kombination von Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz und im privaten Bereich. Die meisten von uns können mit einer einzelnen hohen Belastung relativ gut umgehen, vor allem wenn sie zeitlich begrenzt ist. Schwierig ist eine Kombination von mehreren Belastungsfaktoren. Mit zwei Bällen jonglieren können die meisten von uns, mit drei vielleicht auch noch. Aber mit fünf?
Besonders schwierig ist eine Kombination von chronischen Faktoren und einem zusätzlichen akuten Faktor. Also eine Stunde lang mit vier Bällen jonglieren, dann noch gleichzeitig den Hut aufsetzen. Der akute Auslöser kann relativ harmlos sein, aber da das Fass schon fast voll war, läuft es nun eben über.
Die Wechselwirkung von arbeitsbezogenen und privaten Faktoren ist auch für die Arbeitgeber nicht ganz einfach. Arbeitnehmende haben ein Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre. Und gleichwohl spielt die private Belastung eben eine Rolle in Bezug auf die Leistung am Arbeitsplatz, und sie erhöht durch den zusätzlichen Stress die Gefährdung für die psychische Gesundheit.
Mit zwei Bällen jonglieren können die meisten von uns. Aber mit fünf?
Thomas Ihde, FACHARZT FÜR PSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE FMH
Das Dilemma: Einerseits leisten Betriebe in der Schweiz tatsächlich noch nicht genug, um die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeitenden besser zu schützen. Burn-out und Erschöpfungsdepressionen, bei denen Faktoren am Arbeitsplatz wichtig waren, sind häufig. Die durchschnittliche Stressbelastung ist unbestrittenermassen hoch.
Gleichzeitig hat die Arbeitswelt in der Schweiz häufig die Rolle des schwarzen Peters. Es ist hierzulande viel besser akzeptiert, wenn jemand aufgrund einer hohen Arbeitsbelastung oder eines schwierigen Arbeitsverhältnisses psychisch unter Druck steht oder gar erkrankt, als aus allen anderen Gründen. Dies «verführt» Betroffene dazu, die Belastungsgründe primär im Arbeitsbereich zu suchen und zu sehen. Auch wenn dies nicht vollumfänglich zutrifft, wie sich dann oft im Verlauf zeigt. Hier besteht auf allen Seiten noch ein gewaltiger Differenzierungsbedarf.
Unsere Gesellschaft steht dem Phänomen Stress widersprüchlich gegenüber. Meist hat das Wort «Stress» einen negativen Beigeschmack, «gestresst sein» ist aber auch ein Statussymbol und zeugt von Bedeutung und Wichtigkeit. Dabei ist Stress an sich weder negativ noch positiv; erst unsere Bewertung qualifiziert ihn.
Generell wird unterschieden zwischen positiv empfundenem Stress (Eustress) und negativ empfundenem Stress (Disstress). Bei Disstress werden vor allem die Mandelkerne des Gehirns aktiviert, diese sind zuständig für potenzielle Gefahren . Bei Eustress wird das Belohnungszentrum mitaktiviert.
Hinweis: Es ist ein Mythos, dass Disstress per se ungesund ist. Unser Körper ist darauf vorbereitet und kann mit einem gewissen Mass an Disstress umgehen. Dies macht durchaus Sinn, weil es auch schon in der Steinzeit oder im Mittelalter viele Stressfaktoren gab.
Für uns Menschen scheinen vor allem drei Arten von Stress potenziell gesundheitsschädigend zu sein:
- Stress in der frühen Kindheit
- Stress durch traumatische Erlebnisse im Erwachsenenalter
- Chronischer Stress
Den Stresspegel wieder ins Lot bringen
Entspannung ist unsere effektivste Waffe gegen Stress. Methoden gibt es Hunderte: Man kann Musik hören, malen, Zeit mit Freunden verbringen, fernsehen, gamen, basteln, einen Kulturanlass besuchen oder reisen. Viele von uns treiben Sport, im Verein oder allein. Wie wir relaxen, ist sehr individuell . Es gibt Menschen, die erleben Fernsehen oder Gamen als entspannend, andere lenken sich damit ab und sind anschliessend müder als vorher.
Lassen Sie sich hier nicht zu sehr von Normvorstellungen leiten. Yoga etwa ist für die meisten Menschen wohltuend, für Sie aber vielleicht eine reine Qual. Gamen hat einen schlechten Ruf, ist für Sie aber vielleicht eine gute Art, «herunterzufahren». Sind Sie hyperaktiv und leiden an einem AD(H)S, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich beim Gamen erholen, sogar recht hoch, während Sie beim Yoga wohl eher kribbelig werden würden. Hilfreich ist es, wenn Sie verschiedene Möglichkeiten zum Relaxen kennen.
Jugendliche in der Schweiz geben in aktuellen Umfragen besonders oft an, unter psychischen Beeinträchtigungen – vor allem Depressionen – zu leiden. Schwierigkeiten in der Berufsausbildung oder ein Abbruch der Lehre können die Folgen sein.
Im Praxis-Webinar für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner vermitteln Mental-Health-Experte Roger Staub und Instruktorin Bianca Indino von Pro Mente Sana, wie der offene, achtsame Umgang mit psychischen Schwierigkeiten im Lehrbetrieb gelingt und wie Lehrabbrüchen vorgebeugt werden kann.
Das Webinar findet statt am Montag, 16.05.2022 von 16 bis 17 Uhr via Zoom. Die Teilnahme ist kostenlos. Anmelden kann man sich auf www.gryps.ch.
Das Programm beinhaltet unter anderem einen Blick auf die Auswirkungen der Pandemie, Informationen zum frühzeitigen Erkennen psychischer Probleme und eine Anleitung zur ersten Hilfe.
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