Warum die zweitbeste Lösung manchmal die richtige ist
Für alle Probleme gibt es mehrere Lösungen. Daraus die richtige zu wählen, blockiert uns jedoch mehr, als wir meinen, so Beobachter-Kolumnistin Caroline Fux.
Veröffentlicht am 27. Januar 2023 - 15:13 Uhr
Ich bewundere das neue Jahr. Es schafft das Kunststück, frisch, unzerknittert und mit grossen, glänzenden Augen so zu tun, als würde jetzt alles besser. Ein bisschen wie ein frisch gewaschenes, herrlich duftendes Bett, das einem in Aussicht stellt, dass selbst über viele Jahre hart antrainierte Schlafprobleme mit dem letzten Waschgang weggespült wurden. Dieses Mal klappt es. Jetzt geht der Knoten auf. Es gibt für alles eine Lösung.
Wobei: Stimmt das überhaupt? Gibt es wirklich für alles eine Lösung? Ist das ein Grundprinzip, auf das man zählen darf? Ich finde: durchaus. Die Welt ist voller Lösungen. Daran liegt es nicht.
Die wahren Bedürfnisse
Dein Job macht dich nicht glücklich? Kündige. Deine Beziehung tut dir nicht gut? Mach Schluss. Du hast zu viele Verpflichtungen? Reduziere sie . Du isst, trinkst, kaufst oder rauchst zu viel? Hör auf. Fall erledigt. Problem ad acta gelegt.
Aber wenn die Welt voller guter Lösungen ist, warum schliessen wir diese Lösungen nicht beherzter in die Arme? Warum handeln wir nicht, wenn der Weg angeblich ach so klar ist? Die hier aufgezählten Interventionen sind alles wunderbare Lösungen. Sie sind sinnvoll, wirken gesund, und ihre Erfolgsaussichten können wir als recht gut einschätzen. Schade nur, dass sie vermutlich alle am Gleichen kranken: Sie beziehen nicht mit ein, ob eine Lösung überhaupt eine Option ist. Genau das wäre aber wichtig.
Denn: Was tut man, wenn man im Job nicht glücklich ist, aber eine Kündigung nicht in Frage kommt? Was tut man, wenn eine Beziehung schlecht läuft, aber man nicht ohne das Gegenüber sein möchte? Was tut man, wenn die Belastung zwar zu gross ist, aber das Loslassen noch viel mehr stresst als die Verausgabung? Und was gilt, wenn man gar nicht bereit ist, sich seinen wahren Bedürfnissen zu stellen, weil diese vielleicht derart schwer zu stillen sind, dass man die Schlacht von vornherein verloren glaubt?
Ein weiser Witz
Wenn Sie in diesem Jahr an Lösungen oder Lösungsvorschlägen herumstudieren, dann stellen Sie sich bitte vorher unbedingt folgende Frage: Kommt der eine oder andere Weg für mich überhaupt in Frage? Oder anders gesagt: Ist das Finden einer Lösung eine Option? Denn solange wir auch nur einen Funken freie Wahl haben, bedeutet das auch, dass wir etwas anderes wählen können als das, was klug, richtig, einfach, aufrecht, logisch, menschlich, klar oder was auch immer wäre.
Mein Vater macht diesen wunderbaren Witz, den ich immer wieder gern höre: Fragt man ihn, was er gern trinken möchte, antwortet er keck und mit einem milden Lächeln: «Wasser wäre das Beste», um nach einer Kunstpause zu erklären, dass man im Leben nicht immer das Beste haben müsse und er jetzt deshalb ein Bier nähme.
In diesem Witz steckt grosse Weisheit, finde ich. Weil er einem unter die Nase reibt, dass die beste Wahl längst nicht immer die richtige ist. Oder die richtige nicht immer die beste. Drehen Sie es, wie Sie wollen. Wenn Sie also wie ich aus dem letzten Jahr ein paar zuckersüsse, schwer lösbare Probleme mitgenommen haben, dann gehen Sie die Frage nach möglichen nächsten Schritten doch mal ein bisschen weniger systematisch an, sondern schon fast provokativ lust-, also wollensbetont. Nicht weil irgendeinem von uns ein lästiges Problem Spass bereiten müsste, sondern weil wir uns manchmal explizit daran erinnern müssen, dass wir immer noch am Wollen und Wählen sind.
Einfach mal machen
Ein Klient hat kürzlich bei mir in der Praxis geseufzt und gesagt: «Ich habe ja wohl keine andere Wahl.» Ich habe ihn dann – bei ihm darf ich das – mit einem breiten Grinsen angestrahlt und gesagt: «Das ist doch grossartig!» Denn wenn er tatsächlich keine Wahl habe, könne er sich die ganze Grübelei getrost schenken. Dann sei der Mist geführt, und er könne die verbleibende Energie getrost ins Machen stecken, bis sich irgendwann wieder neue Erkenntnisse und Möglichkeiten auftun. Und sollte ihm in seiner Situation doch noch ein Stück Wahl bleiben, dann sei das die Erinnerung daran, dass es theoretisch auch anders ginge – wenn man denn wirklich wolle.
Deshalb nochmals in aller Klarheit: Wir bleiben in schwierigen Situationen, obwohl bleiben nicht toll ist, aber offenbar besser als gehen. Wir machen weiter wie bisher, obwohl es nicht ideal ist, aber anscheinend weniger kostet, als aufzuhören. In der Fähigkeit, das zu sehen und zu spüren, liegt eine unterschätzte Kraft. In verfahrenen Situationen kann sie die Welt bedeuten.
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