Heiler zaubert Geld weg
Eine verzweifelte IV-Bezügerin sucht Rat bei einem Hellseher. Am Ende ist sie 40'000 Franken los und noch tiefer im Elend.
Veröffentlicht am 25. Oktober 2018 - 19:32 Uhr,
aktualisiert am 25. Oktober 2018 - 18:25 Uhr
Er nennt sich «Lothar», sein Unternehmen heisst «Parapsychologie und Zukunftsberatung». Das Angebot: Fernbehandlungen, Analysen, Hellsehen, Auflösung schwarzer Magie. Hokuspokus also. Wo Lothar sein Büro hat, will er nicht sagen, wie er richtig heisst, auch nicht. Wer sich behandeln lassen will, wählt eine 0901-Nummer oder ruft direkt auf Lothars Handy an – und bezahlt zwischen CHF 3.10 und CHF 4.23 pro Minute.
Jacqueline B.* ist eine seiner Kundinnen. Drei Jahre lang überweist sie Lothar Geld, Monat für Monat. Manchmal sind es 200 Franken, dann 600, bisweilen sogar über 1000. Insgesamt landen etwa 40'000 Franken auf dem Konto des Fernheilers. Für Jacqueline B. sehr viel Geld.
Die 36-Jährige lebt mit ihrem Mann Beat* und der kleinen Tochter Alessia* in einem bescheidenen Heimetli in einem abgelegenen Emmentaler Weiler. Das Haus steht auf einem der unzähligen Hügel. Die Zufahrtsstrasse mäandriert durch Weiden, vorbei an Bauernhäusern, die an Gotthelfs Zeiten erinnern.
Hier hat Jacqueline jene Ruhe gefunden, die sie wegen einer psychischen Beeinträchtigung benötigt. Sie braucht viel Freiheit, Zwang treibt sie zur Weissglut. Fachleute nennen es «organische Persönlichkeitsstörung». Noch keine 20, kannte sie schon über ein Dutzend Kinder- und Jugendheime von innen. Weil sie auf Mitbewohner oder das Personal losging, wurde sie jeweils an die nächste Institution weitergereicht. Später landete sie in einer psychiatrischen Einrichtung, wurde bevormundet, lebte mal hier, mal da.
Vor zehn Jahren kam ein Gutachten zum Schluss, dass sie «jede Institution überfordert». Ein autonomes Wohnen sei unumgänglich und könne sogar erfolgreich sein. Dazu solle sie sich in der Landwirtschaft betätigen und «engmaschig» psychotherapeutisch begleitet werden.
Bei ihrem heutigen Mann Beat ist sie sich selbst ein Stück näher gekommen. Allerdings plagen die beiden bittere Alltagssorgen. Der Hof, den sie von Beats Vater pachten, gibt viel zu tun und bringt wenig ein. Um über die Runden zu kommen, arbeitet Beat zusätzlich für die Gemeinde, schneidet Hecken, mäht an Strassenrändern, hilft bei der Abfuhr. Jacquelines IV-Rente trägt nur wenig zu den Finanzen bei. Aber die Arbeit mit den Kühen tut ihr gut.
Doch da sind auch innerfamiliäre Konflikte. Kaum ein Tag vergeht ohne dicke Luft. Der eine nörgelt, die andere tobt. Jacquelines Verhältnis zu ihren Eltern ist seit Jahren angespannt. Zum Glück hat die Bauernfamilie zwei, drei gute Bekannte, die immer wieder helfen. Mal mit gutem Rat, mal mit Hütedienst für die kleine Alessia. Und immer wieder begleichen sie eine unbezahlte Rechnung.
Dass Jacqueline sich Hilfe von einem Geistheiler erhofft, weiss lange Zeit niemand. Im Magazin «Tierwelt» ist sie auf Lothars Inserat gestossen. Jahre davor hatte sie sich schon mal an eine Geistheilerin gewandt – und schlechte Erfahrungen gemacht. Sie konnte damals die «Dienstleistungen» nicht mehr bezahlen, die Schulden häuften sich. Die Heilerin bedrängte Jacqueline und beschimpfte sie über Wochen.
Trotzdem kontaktiert sie Lothar. Bald ruft sie ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit an und klagt ihr Leid.
Lothar hört zu – und schreibt Rechnungen. Dann schickt er ihr Steine, die er zuvor «beschworen» hat. Jacqueline soll sie in der Wohnung aufstellen. Eine «Abschirmung» gegen den schwierigen Schwiegervater. Heute lacht sie darüber. Damals glaubt sie daran. Und bezahlt 2000 Franken dafür.
Die Rechnungen häufen sich, das Geld im Haushalt wird noch knapper. Ihr Mann fragt immer wieder: «Wofür sind diese Rechnungen?»
Im Juni 2017 fährt die Familie in ihrem Subaru über die engen Emmentaler Strassen, das Baby auf dem Rücksitz. In einer Kurve verliert Beat die Kontrolle über das Fahrzeug. Wie durch ein Wunder wird niemand verletzt. Für Lothar ist klar: Das frühere Medium, das Jacqueline vor ihm konsultiert hatte, ist schuld am Unfall. Schwarze Magie. Davon werde er sie befreien. Das kostet natürlich. «Ich hatte Angst, dass alles noch viel schlimmer wird, wenn ich nicht zahle», sagt Jacqueline. Heute weiss sie: «Ich war gutgläubig und wurde manipuliert.»
Doch nicht nur wegen Lothar schwindet das Geld. Der Hofbesitzer hatte es verpasst, die Ställe den neuen Tierschutzvorschriften anzupassen. Nach zahlreichen Ermahnungen werden den Kleinbauern die Direktzahlungen gestrichen. Ein grosser Teil der Einnahmen bricht weg. Und immer wieder kommen Rechnungen von Lothar.
Bauer Beat stellt seine Frau zur Rede, eine Freundin der Familie wird eingeweiht. Sie haut auf den Putz: «Da ist etwas faul.» Sie weist Jacqueline an, kein Geld mehr zu überweisen. Sie macht Lothar klar, dass er die Finger von ihr lassen soll.
«Ich hatte Angst, dass alles noch viel schlimmer wird, wenn ich nicht bezahle.»
Jacqueline B.*, Kleinbäuerin
Doch der Fernheiler weiss mit Zweiflern umzugehen. Als Jacqueline mitteilt, sie könne nicht mehr zahlen, schickt er ihr einen «Kurzbrief» und zeigt sich generös. «Ausnahmsweise» werde er sie drei Monate kostenlos weiterbehandeln. «Angesichts der schwierigen Lage mit Ihrem Schwiegervater Hans* wäre es notwendig, die Fernbehandlung fortzuführen.» Er macht ihr das «kostenlose» Angebot – und unterbreitet ihr zugleich eine Einverständniserklärung, dass sie künftig die aufgelaufenen Rechnungen mit monatlich 965 Franken abzahle. Wörtlich heisst es: «Der Auftraggeber verpflichtet sich, alle […] in Rechnung gestellten Dienste und Waren anstandslos und unwiderruflich nach Erhalt der Rechnung zu bezahlen.»
Lothar ist durchtrieben: kollegial, freundschaftlich und zuvorkommend auf der einen, rücksichtslos und drohend auf der anderen Seite. So präsentiert sich Lothar* auch dem Beobachter.
Beobachter: Wie gehen Sie mit Ratsuchenden um – entsteht da nicht ein Abhängigkeitsverhältnis?
Lothar: Wenn es Leute sind, die finanzielle Probleme haben, dann bremse ich. Neulich hatte ich eine Frau, die bezieht Ergänzungsleistungen. Der habe ich gesagt, sie solle weniger oft anrufen.
Wie war es im Fall von Jacqueline B.? Offensichtlich war auch sie in ihrer Not von Ihnen abhängig.
Ich sah, dass sie finanzielle Probleme hat. Deshalb habe ich auf 14'000 Franken verzichtet. Nur aus Rücksichtnahme auf ihre schwierige Situation habe ich auf eine Betreibung verzichtet.
Immerhin haben Sie gut an ihr verdient: etwa 40'000 Franken in drei Jahren.
Aber ich hatte auch viel Stress ihretwegen. Sie hatte eine schwere Zeit, ich habe die ganze Familie beraten. Einmal habe ich das Telefon sogar mit in die Ferien genommen, damit sie mir SMS schreiben konnte. Die Roaminggebühren für Telefongespräche wollte ich natürlich nicht auch noch übernehmen.
Sie wussten, dass die Familie sehr knapp bei Kasse ist.
Schauen Sie, 90 Prozent der Leute sagen, sie hätten kein Geld. Am Schluss bezahlen sie trotzdem. Ich habe ihr sogar meine Hilfe angeboten, damit die Direktzahlungen nicht gestrichen werden. Jacqueline B. und ich hatten es am Telefon auch lustig. Sie ist eine gmögige Frau. Sie wollte immer gern noch etwas weiterplaudern.
Auch Lothar hat eine «gmögige» Seite. Er habe Kriminologie studiert und trage einen Ehrendoktortitel, behauptet er. Wann, wo und von wem dieser verliehen wurde, will er nicht sagen. Viel lieber erzählt er von seinen mühsamen Kundinnen. Seit 25 Jahren sei er im Geschäft. «Ich habe schon viel erlebt.»
Von Transparenz hält er wenig, geschickt versucht er, die Verbindungen zwischen «Lothar» und seinem bürgerlichen Namen zu verwischen. Auch Jacqueline B. kennt seinen richtigen Namen nicht. Auf seinem Briefpapier erscheinen nur Lothar, seine Firma und eine Postfachadresse. Im elektronischen Telefonbuch hat er sich als Lothar Nidezki eingetragen, ein Fantasiename. «Mike Shiva macht das auch so.» Er müsse sich eben schützen, sagt er. Immer wieder werde er von Klienten bedrängt.
Der Verband für natürliches Heilen, in dem sich von Parapsychologen bis Geistheilern alle versammeln, sieht das anders. Er empfiehlt in seinen ethischen Vorgaben eine klare Kommunikation, die Identifizierbarkeit gehöre dazu. Er sei nicht Mitglied dieses Verbands, sagt Lothar. «Eigentlich habe ich es mit Leuten zu tun, die zum Psychiater müssten, aber nicht zu einem gehen wollen. Sie kommen dann halt zu mir. Vielleicht höre ich einfach besser zu.»
Jacqueline B. brauchte ein offenes Ohr. Aber keinen Lothar, der aus ihren Sorgen ein Geschäft macht. Inzwischen hat sie ihre Handynummer geändert, immer wieder erhielt sie unerwünschte Anrufe – wohl von Lothar. Sie weiss, sie muss sich schützen. Auch vor einem Rückfall.
* Name der Redaktion bekannt