Seit 1950 sind 112716 psychologische Fachartikel über Angst oder Furcht Panikanfälle Ein dunkles Leben mit der Angst im Nacken erschienen. Und nur gerade 773 über Mut oder Tapferkeit. Eine riesige Diskrepanz – die jedoch gar nicht so erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass Psychologen über das schreiben, womit sie sich beschäftigen: Krankheiten und deren Heilung. Aber es zeigt auch: Die Psychologie widmet sich beinahe ausschliesslich psychischen Defiziten und der Frage, wie man diese behebt.

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Das findet Willibald Ruch schade. Der Humorforscher und Gründer der Schweizerischen Gesellschaft für positive Psychologie nimmt halb liegend auf seinem Bürostuhl Platz. Er könne die Lehne nicht mehr arretieren, meint er entschuldigend und scherzt über das freie Assoziieren, das im Liegen ja sowieso besser funktionieren solle.

Wie steigert man Lebenszufriedenheit

«Eine ausgewachsene Angststörung müssen nur relativ wenige Menschen therapieren. Die meisten wollen nicht wissen, wie sie auf der Skala von minus fünf auf null kommen, sondern wie sie von null auf fünf kommen», sagt Ruch. Diesen 70 Prozent, die nicht krank seien, aber ihre Lebenszufriedenheit steigern wollten, habe die Psychologie bislang nur wenig bieten können.

Doch Zufriedenheit sei lernbar, ist Ruch überzeugt. Denn jeder könne bis zu einem gewissen Grad selbst definieren, was für ein Mensch er sein wolle. Will ich mich von meinen Ängsten leiten lassen? Oder optimistisch Koni Rohner zu Selbsthilfe-Bestseller «Sie nervt mit positivem Denken» in die Zukunft schauen? Das sei auch eine Frage der persönlichen Entscheidung. Fasziniert erzählt Ruch, wie der amerikanische Fernsehsender Fox die Ängste seiner Zuschauer schüre. «Offenbar gibt es in den USA zahlreiche ängstliche Menschen, die sich von diesem Programm angezogen fühlen, weil sie sich in ihren Ängsten bestätigen lassen wollen.»

Was bleibt, wenn die Angst weg ist?

Willibald Ruch sucht nach einer Antwort auf die Frage, wie die positive Psychologie diesen Menschen helfen könnte. Er wählt seine Sätze mit Bedacht, nimmt sich Zeit, um zu überlegen, bevor er antwortet. «Die positive Psychologie ist kein Pflaster gegen negative Eigenschaften», sagt er schliesslich. «In einem klassischen Angstbewältigungstraining setzt sich der Patient mit seiner Angst auseinander. Wir hingegen gehen gar nicht erst darauf ein.»

«Wir vertreiben die Angst indirekt.»

Willibald Ruch, Psychologe

 

Die entscheidende Frage sei doch: Was bleibt, wenn die Angst wegtherapiert ist? Bin ich dann bereits glücklich und zufrieden mit meinem Leben? Man darf das bezweifeln. Zufrieden ist der Mensch erst, wenn er positive Emotionen erlebt, wenn er Sinn in seinem Leben sieht, wenn er in seiner Arbeit aufgeht, etwas erreicht. Angst könne all das zwar «torpedieren», aber das blosse Fehlen der Angst bringe diese Glücklichmacher noch lange nicht hervor.

Anstatt die Angst wegzudoktern, trainiert Ruch deshalb die Stärken eines Menschen. Wenn Ressourcen aufgebaut werden, kann die Angst ganz einfach weniger Raum einnehmen. Wird das Positive mehr, wird das Negative automatisch weniger. Je aktiver man ist, je mehr man auf die Dinge zugeht und Initiative ergreift, desto weniger anfällig ist man für Ängste. «So lässt sich die Angst indirekt vertreiben.»

Hemmungen im Seminarraum

In der noch jungen Wissenschaft der positiven Psychologie Positive Psychologie Warum man Glücksmomente intensiv geniessen sollte werden insgesamt sechs Tugenden beschrieben, die den Menschen erblühen lassen. Mut ist eine davon. Die anderen heissen Weisheit und Wissen, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mässigung sowie Transzendenz.

«Wir müssen manchmal über uns hinauswachsen, um das zu erreichen, was uns zufrieden macht.»

Willibald Ruch

 

Warum aber ist ausgerechnet Mut so wichtig für ein erfülltes Leben? «Weil wir manchmal einfach über uns hinauswachsen müssen, um das zu erreichen, was uns zufrieden macht.» Er erinnere sich noch gut daran, wie schwer es für ihn als Studenten im ersten Semester gewesen sei, in der grossen Runde das Wort zu ergreifen. Bereits in dem Moment, in dem ihm eine originelle Frage eingefallen sei, sei er errötet – und habe sich gar nicht erst getraut, sie zu stellen.

Weil ihn das Gebiet aber so interessierte, konnte Ruch seine Hemmung in den nächsten Seminaren überwinden und seine Fragen mit klopfendem Herzen formulieren. «Ich entwickelte mich vom Beobachter zum Teilnehmer und erhielt Antworten auf meine Fragen. Das hat mich erfüllt», so Ruch.

Was ist Mut?

Während das alles einleuchtend klingt, erscheinen die einzelnen Stärken, die den Tugenden zugeordnet sind, dem Laien etwas willkürlich. So sind der Tugend «Mut Zivilcourage Warum Dazwischengehen so schwer fällt » die Stärken Tapferkeit, Ausdauer, Authentizität und Enthusiasmus/Tatendrang zugeteilt, und man fragt sich zum Beispiel: Warum soll ausgerechnet «Ausdauer» im Hinblick auf Mut eine tragende Rolle spielen, nicht aber ein gutes Selbstbewusstsein? Man könne diese Begriffe nicht wörtlich nehmen, gibt Ruch zu verstehen. Es gehe um die psychologische Literatur, die mit ihnen verbunden sei.

Die amerikanischen Psychologen Martin Seligman und Christopher Peterson hätten das Konzept der Tugenden und Stärken Ende der Neunziger innert weniger Jahre entworfen, sagt Ruch. Man müsse es als mutigen Entwurf sehen, den es jetzt zu verfeinern gelte. Die Intelligenzforschung habe auch 80 Jahre gebraucht, um die Struktur der Intelligenz zu verstehen.

Eigene Stärken zur Geltung bringen

So weit die Theorie. Das praktische Stärkentraining funktioniert dann ganz einfach: Man übt Charakterstärken ein, bis sie automatisch geworden sind. Enthusiasmus/Tatendrang beispielsweise kann trainiert werden, indem man Dinge unternimmt, die man sonst nie macht.

Das Training der Stärke Enthusiasmus/Tatendrang macht einen übrigens nicht nur mutiger, es lohnt sich auch in Bezug auf die Lebenszufriedenheit Zufriedenheit «Wieso bin ich nicht glücklich?» besonders. Genauso wie das Üben von Liebe, Dankbarkeit, Neugier und Optimismus. Diese Stärken korrelieren alle hoch mit unserer Lebenszufriedenheit.

«Wer im Beruf mehr als vier seiner Stärken einsetzt, beginnt, den Beruf als Berufung zu sehen.»

Willibald Ruch

 

Das Aufbauen dieser Stärken ist aber nicht der einzige Weg zum Glück, den die positive Psychologie aufzeigt: Wer lieber bleiben will, wie er ist, kann mit einem Test herausfinden, wo die eigenen Stärken liegen, und sein Leben dann so ausrichten, dass er diese möglichst oft einsetzen kann. Für die Berufswahl etwa gilt: «Setze ich mehr als vier meiner Stärken am Arbeitsplatz ein, beginne ich den Beruf als Berufung zu sehen.»

Ob er aus eigener Erfahrung bestätigen könne, dass das Stärkentraining wirke, möchte die Reporterin zum Schluss noch wissen. Er habe es noch nie selbst ausprobiert, antwortet der Forscher aus den Tiefen seines Bürostuhls. «Aber ist nicht das Leben selbst ein Stärkentraining?»

Wie funktioniert positive Psychologie?

Neues wagen

Mutige Menschen sind gemäss der positiven Psychologie voller Tatendrang, sie sind tapfer, ausdauernd und authentisch. Die Stärke Enthusiasmus/Tatendrang lässt sich mit folgender Übung trainieren: Suchen Sie sich pro Woche aus jedem der drei Bereiche eine Aktivität aus, die Sie normalerweise nicht durchführen. Sie können die Beispiele auch als Anregungen verstehen und sich eigene Aktivitäten ausdenken.

1. Bewegung und Natur

  • Gartenarbeiten verrichten
  • Tanzen
  • Nach dem Abendessen spazieren gehen
  • Klettern oder eine Bergtour machen
  • Eine Bushaltestelle früher aussteigen und ein Stück zu Fuss gehen
  • Dinge aus der Natur sammeln (Steine, Wurzeln et cetera)
  • Kegeln gehen


2. Sozialer Kontakt

  • Einen Brief schreiben an jemanden, den man einmal kennengelernt hat
  • Mit Reisenden im Zug ein Gespräch führen
  • Zur Versammlung eines Vereins gehen
  • Jemandem helfen Sich mit Freunden zum Kaffeetrinken treffen
  • An einer Gruppenreise teilnehmen



3. Herausfordernde Tätigkeiten

  • Mit der/dem Vorgesetzten über ein neues Konzept verhandeln
  • Einen Flohmarkt vorbereiten
  • Sich künstlerisch betätigen
  • Einen Vortrag besuchen
  • Sich ein neues Hobby suchen
  • Ein Projekt aufgleisen
  • Ein spezielles Gericht zubereiten
Charakterstärken in der positiven Psychologie

Den sechs Tugenden ordnet die Theorie insgesamt 24 Charakterstärken zu:

  • Weisheit/Wissen: Kreativität, Neugier, Urteilsvermögen, Liebe zum Lernen, Weisheit
  • Mut: Tapferkeit, Ausdauer, Authentizität, Enthusiasmus/Tatendrang
  • Menschlichkeit: Bindungsfähigkeit, Freundlichkeit, soziale Intelligenz
  • Gerechtigkeit: Teamwork, Fairness, Führungsvermögen
  • Mässigung: Vergebungsbereitschaft, Bescheidenheit, Vorsicht, Selbstregulation
  • Transzendenz: Sinn für das Schöne, Dankbarkeit, Hoffnung, Humor, Spiritualität

Auf dem Forschungsportal des Psychologischen Instituts der Universität Zürich können Interessierte diverse Fragebögen aus dem Bereich der positiven Psychologie ausfüllen, darunter den Fragebogen zur Ermittlung der eigenen Charakterstärken. Im Anschluss erhält man eine Rückmeldung zu seinen persönlichen Resultaten: www.charakterstaerken.org

Zur Person

Willibald Ruch ist Gründer der Schweizerischen Gesellschaft für positive Psychologie. Er ist Leiter der Fachrichtung Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik am psychologischen Institut der Universität Zürich.

Quelle: Thinkstock Kollektion