«Diese Handy-Gesellschaft geht mir auf den Keks»
Im Zeitalter der Digitalisierung bestimmen Handys zunehmend unseren Alltag. Alles wird schneller und Trends aus dem Internet haben immer häufiger auch Einfluss auf das echte Leben. Wie geht man damit um?
Veröffentlicht am 13. Dezember 2022 - 11:25 Uhr
Frage eines Lesers: «Unsere Handy-Gesellschaft macht mir immer mehr Mühe. Wie kann ich besser damit umgehen?»
Ich kann Ihren Unmut gut nachvollziehen, viele Leserinnen und Leser wohl auch. Smartphones, oder eben schön schweizerisch Handys, sind heute genau das: überall und ständig. Sie beschreiben in Ihrer Mail die typischen Situationen, die zum heutigen Alltag gehören.
Junge Eltern, die ihr Kind im Kinderwagen kaum wahrnehmen, weil ihr Fokus auf den sozialen Medien liegt
. Tramfahrer, die täglich mehrere Fastunfälle erleben, weil das Gesichtsfeld von Fussgängern heute oft nur noch 100 Quadratzentimeter gross ist und Kopfhörer die Warnglocke dämpfen. Oder auch Arbeitskolleginnen, die parallel zwei Bildschirme bearbeiten, den grossen betrieblichen und den kleinen privaten.
Die Entwicklung ist recht rasant. Wir erleben gesundheitliche und soziale Trends, deren effektive Auswirkung wir wohl erst in zehn oder zwanzig Jahren beurteilen können.
Wir wissen aber zum Beispiel schon jetzt, dass die ersten Lebenswochen für Säuglinge matchentscheidend sind, damit sie eine sichere Bindung entwickeln können. Eine sichere Bindung ist die Grundvoraussetzung für ein späteres gesundes Selbstwertgefühl. Deshalb ist es so wichtig, dass junge Eltern sich in den ersten Lebenstagen voll auf ihr Kind konzentrieren und nicht auf das Teilen ihres Glücks mit der halben Welt über Whatsapp.
Erschöpfung, aber keine Erholung
Ebenfalls ein Thema, das heute omnipräsent scheint, ist Erschöpfung. Das hat in zweifacher Hinsicht etwas mit den Handys zu tun. Erstens sind Unterbrechungen enorm energieintensiv. Beim Kochen noch schnell ein paar Nachrichten beantworten – das klingt für die meisten nach lockerem, wenn auch leicht gehetztem Alltag.
Die Evolution unseres Gehirns geht aber im Schneckentempo voran. Dieses rasche Hin und Her erhöht den Energieverbrauch unseres Gehirns um das Zwei- bis Sechsfache. Und ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber mein Arbeitsalltag besteht aus gefühlten 600 bis 800 Unterbrechungen. Und mein Wochenende sieht nicht viel besser aus.
«Wir erholen uns nie so effizient, wie wenn wir nichts tun. Doch Musse oder Nixing sind aus unserem Alltag fast verschwunden.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Zweitens haben wir durch das Handy unsere wohl effizienteste Art der Erholung verloren. Wir erholen uns nie so effizient, wie wenn wir nichts tun. Geschützte Zeit, in der bewusst nichts passiert, wo vor allem unsere Aufmerksamkeits- und Fokussiersysteme nicht aktiviert sind.
Wenn ich früher zehn Minuten auf den Bus warten musste, habe ich ausser Warten nicht viel gemacht – etwas die Wolken am Himmel beobachtet, vielleicht andere Leute. Dieser eigentlich wunderbare Kurzzustand nannte sich früher Musse, die Generation Z hat ihn in Nixing umbenannt.
Doch Musse oder Nixing sind aus unserem Alltag fast verschwunden. Die grössten Unterschiede stellt man bei Kindern und Jugendlichen fest. Aber auch ich ziehe wie alle andern mein Handy aus der Hosentasche, beantworte Mails, lese Nachrichten oder höre Musik.
Was kann ich Ihnen nun raten?
Das Thema macht Sie wütend und ohnmächtig, und Sie sind erstaunt, dass es so gar keine Präsenz hat.
Das authentische Vorleben dessen, was man gern hätte, setzen Sie gemäss Ihrem Schreiben bereits gut um. Sie benutzen ein Handy, aber bewusst und mit einem gesetzten Rahmen. Als ich mit meinem jugendlichen Sohn vor Jahren über das Thema sprach, meinte er wie auch meine Frau, dass ich wohl derjenige mit dem problematischen Handygebrauch sei. Der Statistikvergleich der Smartphones bestätigte das dann auch.
Etwas anderes, das bei Wut und Ohnmacht hilft: in die Handlung zu kommen. Indem Sie eben zum Beispiel Redaktionen anschreiben und auf das Thema hinweisen, oder indem Sie Ihre regionalen Politikerinnen und Politiker für das Thema sensibilisieren. Oder indem Sie das Gespräch mit den Gesundheitsverantwortlichen in Ihrer Firma suchen und fragen, ob das nicht Thema sein könnte oder sollte.
Diese unangenehmen Gefühle der Wut und Ohnmacht haben ja einen weckenden Charakter und sollen uns in die Aktivität führen. Zugleich gilt es, sie auch zu regulieren. Auch hier gilt die Regel, dass ein Zuviel ungesund ist.
Bergwanderungen sind für mich der beste Weg, diese Gefühle zu justieren. Für andere ist es vielleicht das Herstellen eines eigenen Kräutertees , den man dann anderen schenken kann. Oder aktuell kann es vielleicht auch Fussball am Fernsehen sein.
Schadet der Handybildschirm den Augen?
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2 Kommentare
Bekennende Anti Handy-Natel-Souschäl-Nixing-Netflix-looking-nix-street-or-kids-and-häning-head.... Leider ist die Mehrheit der Gesellschaft abhängig und nicht fähig die gesamte künstliche Wucht/Welt zu bewältigen. Mein Urgrossvater pflegte zu sagen: "Je mehr Luxus, umso mehr Misere!" Habe seit ca. 3 Jahren kein Handy und es geht mir blendend!
Ja, man hat langsam aber sicher die Nase voll von diesem immer stärker werdenden Druck von Seite der "Digitalisierer" , die uns eine rasch zunehmende Abhängigkeit von dieser Technologie bringen . Viele werden dadurch asozial und zunehmend getrennt von dem unmittelbaren Erleben der Realität.