Mit Genuss gegen die Widrigkeiten des Alltags
Stress ist in der modernen Gesellschaft allgegenwärtig. Doch es gibt ein probates Mittel, um sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen zu lassen: Geniessen lernen.
aktualisiert am 22. August 2022 - 16:34 Uhr durch
Den Bus sehen Sie gerade noch abfahren, der Sie rechtzeitig zu einem wichtigen Treffen gebracht hätte. Und der nächste kommt erst in 20 Minuten. Zu allem Übel haben Sie am Morgen auch noch das Handy vergessen. Als Sie feststellen, dass in Ihrer Tasche auch noch die Handcreme ausgelaufen ist, ist der «Kessel geflickt»: Sie fluchen lauthals vor sich hin, lassen Ihren Ärger und die Verzweiflung vielleicht an einer Blechdose aus, die Sie wegkicken. Oder Ihnen steigen Tränen in die Augen .
Diese Widrigkeiten des Alltags, sogenannte Mikrostressoren, kommen in der heutigen Zeit häufig vor. Ein einzelner davon ist meist nicht allzu stressauslösend – oder der Stress verraucht schnell wieder. Die Wiederholung und die Menge machen es aus, dass tägliche Widrigkeiten besonders schädlich sind, weil sie das Stressniveau hoch halten.
Würden Sie in einer Situation wie der oben beschriebenen versuchen, dem Vogelgezwitscher zu lauschen? Oder an das schöne Gemälde denken, das Sie sich kürzlich geleistet haben? Die wenigsten Menschen würden dies bejahen. Doch gerade solche kleine Genussmomente können uns helfen, mit Stress besser umzugehen.
Denn wer zu geniessen versteht , ist weniger schnell gestresst; und wer gestresst ist, kann nicht geniessen. Genussfähigkeit ist ein potentes Mittel gegen Stress. Sie ist Ausdruck davon, ob wir schönen Sinneserfahrungen zugänglich sind und uns daran freuen können.
So wie es die täglichen Widrigkeiten gibt, die einem das Leben schwermachen, so gibt es auch jeden Tag Momente des Genusses. Manche kommen unerwartet, sind wie ein kleines Geschenk, manche sind regelmässig wiederkehrend. Jeder Genussmoment ist eine Mini-Auszeit von den aktuellen Belastungen und somit ein ideales Gegengewicht zum Stress.
Ein solcher Augenblicke kann ein netter Austausch mit einem Kollegen sein; ein unerwarteter erfreulicher Anruf; ein Lob der Chefin ; ein strahlendes Lächeln des eigenen Babys; ein Musikstück, in das man eintaucht; oder auch ein Witz oder ein Comic, der einen zum Lachen bringt.
Momente des Geniessens und Entspannens wirken stressreduzierend, weil es Momente sind, in denen die Menschen ganz im Augenblick verweilen. Die (drängende) Zeit verliert ihre Bedeutung, sie ist aufgehoben. Genussmomente sind ein Geschenk, sie fallen einem einfach zu. Man muss aber fähig sein, zu registrieren, dass ein solcher Augenblick sich präsentiert, und ihn voll auskosten. Das bringt einen kaum in Verzug – und schafft doch ein machtvolles Gegengewicht im täglichen Stress.
Was bedeutet es, genussfähig zu sein, und wie können wir uns unsere Genussfähigkeit erhalten – in Zeiten des Stresses und gegen den Stress? Geniessen können wir über alle fünf Sinneskanäle – das verschafft uns Glücksgefühle. Alle fünf Kanäle können sich im Stress aber auch verschliessen.
- Visuelle Wahrnehmung
Sie beinhaltet Freude an Gegenständen, zum Beispiel an Gemälden, Skulpturen oder anderen Kunstobjekten, an Landschaften, die uns beeindrucken, an Menschen, Tieren oder auch Pflanzen. Schönheit und Ausstrahlung dieser Dinge lassen uns auftanken, sie nähren uns. Ein gestresster Mensch ist blind für diese Reize; er geht achtlos daran vorbei, nimmt deren Schönheit nicht mehr wahr und lässt sich nicht davon berühren.
- Auditive Wahrnehmung
Klänge, Musik oder Stimmen erfreuen das Herz. Ein Musikstück, ein vorgetragenes Gedicht, ein sanfter Klang kann trösten, stärken, entzücken, begeistern oder einfach nur entspannen, uns zur Ruhe kommen lassen. Unter Stress verschliesst man die Ohren, geht taub durch die Gegend, hört das Zwitschern der Vögel, das Lachen spielender Kinder nicht mehr. Häufig fängt Musik sogar an, zu stören, es ist keine Musik mehr, sondern Lärm – von Genuss kann keine Rede mehr sein. Verschliesst sich unser Sensorium vor der wundervollen Welt der Töne und Klänge, fällt eine wichtige Quelle der Entspannung und Erholung weg.
- Taktile Wahrnehmung
Berührungen und Zärtlichkeiten anderer, vor allem des Partners, der Partnerin, bescheren uns Glücksmomente: Wir geniessen eine Umarmung, ein Streicheln, einen Kuss, eine Massage. In der Partnerschaft gehen Intimität und Nähe meist mit Körperkontakt einher. Sexualität als schönste Form des körperlichen Genusses ist eine wichtige Quelle für Glücksempfinden und Erfüllung; auch sie versiegt unter Stress nicht selten ganz. Vielleicht ist man gar nicht mehr in der Lage, jemanden an sich heranzulassen: Wenn man gestresst nach Hause kommt, sind die Berührungen des Partners unangenehm, sie engen ein, machen einen nervös. Der gleiche Kuss, den man sonst geniesst, wird im Stress bedeutungslos, man ist abwesend, in Gedanken anderswo, unempfänglich für liebevolle Berührungen.
- Gustatorische Wahrnehmung
Eine beliebte und gern genutzte Quelle von Genuss sind Essen und Trinken – vielleicht sogar in guter Gesellschaft. Ein feines Essen, ein herrlicher Wein, ein aromatischer Tee – das sind wunderbare Momente. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass man exquisit essen geht, wenn man unter Zeitdruck steht, ist gering – die Schnellimbissbude um die Ecke liegt da näher. So zerstört Stress die Freude an lukullischen Genüssen.
- Olfaktorische Wahrnehmung
Feine Düfte und Gerüche können intensiven Genuss bereiten – der Duft eines Parfüms, des Frühlings, der Geruch leckerer Speisen, des Regens auf dampfender Erde im Sommer tragen zu unserem Wohlbefinden bei, wecken häufig Erinnerungen, lassen uns schwärmen und träumen. Doch im Stress verschliesst sich auch das Universum der Düfte.
Diese Beispiele zeigen, dass die Fähigkeit zu geniessen ein Spiegel unseres Befindens ist – genau wie die Leistungsfähigkeit oder die Liebesfähigkeit. Nur wenn es uns gut geht, sind wir offen für die sensorischen Reize, die uns Glücksmomente bescheren. Im Stress stumpfen wir ab und sind abgeschnitten von diesen Quellen.
Tipp: Genuss lässt sich nicht verordnen, aber solche Momente wahrzunehmen und auszukosten, das kann man trainieren. Am besten trainiert man dies in ruhigen Zeiten – so kann man im Stress auf Gewohntes und gut Eingespieltes zurückgreifen.
Wer sich von der Freude an den kleinen Dingen des Lebens abgeschnitten fühlt, sucht gern starke Reize in Form von exzessivem Genuss – sei es beim Sex, beim Essen oder Trinken , beim Spielen oder beim Konsumieren von TV, Internet oder Games. Es ist gar nicht so selten, dass Stress und Genusssucht gemeinsam auftreten; Stress lässt einen leicht das gute Mass aus den Augen verlieren, man isst im Übermass, trinkt zu viel, raucht exzessiv, nimmt Drogen, zeigt sexsüchtiges Verhalten, verliert sich im Rausch von Spiel und Fantasie.
Mit Genussfähigkeit hat das nichts zu tun, meist geniessen diese Menschen ihre Ausschweifungen auch nicht. Ist der Reiz verpufft, der Rausch verflogen, plagen sie sich mit Schuldgefühlen , machen sich Vorwürfe, weil sie ihre Impulse nicht kontrollieren konnten und ihre Werte mit Füssen traten – und fühlen sich schlechter als zuvor.
So wird Genussfähigkeit durch Stress doppelt beeinträchtigt: einerseits dadurch, dass viele Quellen der Freude und des Genusses wegfallen, anderseits durch Übermass, Gier und unbeherrschten Konsum. Genuss ist an und für sich ein Gegenmittel zu Stress – umgekehrt lassen sich Genuss und Stress nicht vereinen.